VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 15.12.2020 - 5 K 9147/17.A - asyl.net: M29775
https://www.asyl.net/rsdb/m29775
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für alleinstehenden und erwerbsfähigen Mann aus Afghanistan:

Vor dem Hintergrund der sich durch die Corona-Pandemie weiter verschlechternden humanitären Lage in Afghanistan ist für einen alleinstehenden, jungen und erwerbsfähigen Mann jedenfalls dann ein Abschiebungsverbot festzustellen, wenn er als sogenannter "faktischer Iraner" den Großteil seines Lebens im Iran verbracht hat und in Afghanistan weder auf ein soziales noch familiäres Netzwerk zurückgreifen kann.

(Leitsätze der Redaktion; nach Angaben des Einsenders stellt die Entscheidung eine Änderung der bisherigen Kammerrechtsprechung dar)

Schlagwörter: Afghanistan, faktischer Iraner, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, Existenzminimum, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Hazara, Corona-Virus,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Im vorliegenden Einzelfall ist das Gericht aufgrund der außerordentlichen individuellen Umstände nicht davon überzeugt, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage wäre, ein Leben zumindest am Rande des Existenzminimums zu führen. Vielmehr geht das Gericht davon aus, dass ihm dort aufgrund der äußerst schlechten humanitären Lage, die durch die Corona-Pandemie weiter verschärft wird, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit eine menschenunwürdige Verelendung droht. [...]

Darüber hinaus ist die afghanische Wirtschaft schwer von den Auswirkungen der Corona-Pandemie betroffen. Die Weltbank geht für das Jahr 2020 von einer Rezession von bis zu 8 % des Bruttoinlandsprodukts aus. Infolge der Corona-Schutzmaßnahmen sind insbesondere Arbeitsplätze im Tagelohn- und informellen Sektor entfallen, aber auch kleine Geschäfte und nicht landwirtschaftliche Lohnarbeiter haben Einkommensverluste erlitten. Zusätzlich belastet die hohe Zahl an Rückkehrern aus dem Iran und Pakistan - allein im Jahr 2020 bereits über 806.000 Menschen - den Arbeitsmarkt und verschärft den Konkurrenzdruck. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt soll bis 2021 um 13 % fallen und auch mittelfristig unter dem Vor-Pandemie-Niveau bleiben. Den geringerem Einkommen stehen dabei erhebliche Preissteigerungen gegenüber. So sind die Preise für Weizenmehl zwischen März und November 2020 um 10 % gestiegen, für Hülsenfrüchte um 21 %, für Zucker um 18 %, für Speiseöl um 31 % und für Reis minderer Qualität um 20 %. Infolgedessen sollen die Verbraucherpreise ebenfalls um bis zu 5 % steigen. In der Landwirtschaft gab es zudem Schwierigkeiten, die Ernte auszubringen, was die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln zusätzlich belasten wird. Schätzungen zufolge wird die Armutsrate im Jahr 2020 auf bis zu 73 % steigen. Auch das Auswärtige Amt geht davon aus, dass sich für die Bevölkerung die ohnehin prekäre Lage infolge der Corona-Pandemie stetig weiter verschärft. Die UN rechnet damit, dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (gegenüber 6,3 Millionen Menschen im Jahr 2019) auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. [...]

Dies zugrunde gelegt stehen vorliegend gleich mehrere individuelle Umstände einer Existenzsicherung des Klägers in Afghanistan entgegen.

Zunächst ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger weder über ein familiäres noch über ein soziales Netzwerk in Afghanistan verfügt, auf das er bei einer Rückkehr zurückgreifen könnte und das ihm den Zugang zu Unterkunft, Arbeit und Nahrungsmittelversorgung erleichtern könnte. Der Kläger hat glaubhaft vorgetragen, dass seine Familie Afghanistan aufgrund der Verfolgung von Hazara durch die Taliban verlassen habe, als er vier oder fünf Jahre alt gewesen sei. Er sei im Iran aufgewachsen. Seine Eltern und Brüder hielten sich mittlerweile ebenfalls in Europa auf. [...]

Innerhalb der Gemeinschaft der Hazara könnte der Kläger zwar möglicherweise Zugang zu sozialen Netzwerken finden. Aber auch das bleibt letztlich rein spekulativ. Gleichzeitig begründet seine Zugehörigkeit zu dieser ethnischen und religiösen Minderheit die Gefahr, Gewalt und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt zu sein, was ihn bei der Suche nach Arbeit und Unterkunft zusätzlich benachteiligen würde. [...]

Der Zugang des Klägers zu Arbeit, Unterkunft und Lebensmitteln wird darüber hinaus durch den Umstand erschwert, dass Rückkehrer aus dem Iran und Europa in Afghanistan einer gesellschaftlichen Stigmatisierung ausgesetzt sind.

Nach dem glaubhaften Vorbringen des Klägers hat er Afghanistan bereits im Alter von vier oder fünf Jahren verlassen, bis 2015 im Iran gelebt und sich seither in Europa aufgehalten. Nach der Erkenntnislage des Gerichts werden Rückkehrer von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Gerade solche Rückkehrer, die über Jahrzehnte im Ausland gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Bei Rückkehrern aus dem Iran bestehen zudem sprachliche Barrieren, weil sie - wie der Kläger - die iranische Landessprache Farsi sprechen oder die afghanische Landessprache Dari mit iranischem Akzent. Soweit die Beklagte darauf verweist, der Iran sei ebenfalls eine "islamisch geprägte Umgebung", lässt sie die deutlichen Unterschiede in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung, bewaffnete Konflikte und Lebenssituation der Bevölkerung außer Betracht. So belegte der Iran im Human Development Index 2019 einen Platz im Mittelfeld (Platz 70), während Afghanistan wie dargestellt auf einem der hintersten Plätze (Platz 169) liegt. Die eher heterogene, sunnitisch geprägte Kultur in Afghanistan im Übrigen nicht mit der eher konservativen schiitischen Kultur im Iran zu vergleichen, so dass Rückkehrer aus dem Iran nicht mit den lokalen Gepflogenheiten vertraut sind und als "fremd" betrachtet werden. Berichten zufolge wird ihnen vorgeworfen, die eigene Kultur vergessen zu haben und zu verwestlicht zu sein. Wegen ihres Akzentes oder ihrer Kleidung würden sie als "Iranigak" (kleine Iraner) verspottet. [...]

Die Stigmatisierung und Benachteiligung von Rückkehrern aus dem Iran und Europa soll sich darüber hinaus durch die Corona-Pandemie verschärft haben. Berichten zufolge besteht in der afghanischen Bevölkerung generell die Sorge, aufgrund eines Seuchen-Stigmas sozialen Ausschuss zu erleben und Arbeit, Unterkunft und soziale Unterstützung zu verlieren. Dies werde auch in der Stigmatisierung von Rückkehren deutlich, die primär für die Gefahr durch Corona verantwortlich gemacht würden. Rückkehrer aus dem Iran oder Europa gälten wegen der dortigen hohen Infektionszahlen als Seuchenüberträger und müssten wegen vermeintlicher Ansteckungsgefahren mit zusätzlichen Nachteilen rechnen. [...]

Für besondere Ressourcen oder Vermögenswerte, auf die der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan zurückgreifen könnte, ist - abgesehen von den nur vorübergehenden Rückkehrhilfen - nichts ersichtlich. Zugunsten des Klägers ist zwar anzuführen, dass er im Iran eine überdurchschnittliche Schulbildung genossen und als Maler und Maurer auf Baustellen Berufserfahrung gesammelt hat in Deutschland konnte er seine beruflichen Fertigkeiten bislang jedoch nicht weiterentwickeln. In der Gesamtschau ist das Gericht daher nicht davon überzeugt, dass der Kläger in Bezug auf die sich bei einer Rückkehr nach Kabul stellenden Anforderungen hinreichend durchsetzungsfähig wäre. [...]