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Zitieren als:
BSG, Urteil vom 27.01.2021 - B 14 AS 42/19 R - asyl.net: M29789
https://www.asyl.net/rsdb/m29789
Leitsatz:

Leistungsanspruch nach SGB II wegen Schulbesuchs des Kindes einer Unionsbürgerin:

1. Das Recht auf Freizügigkeit ergibt sich aus Art. 10 der Arbeitnehmerfreizügigkeitsverordnung, wenn das Kind die Schule besucht und vorher ein Elternteil Arbeitnehmer*in im Aufnahmemitgliedstaat war.

2. Das Recht aus Art.10 knüpft zwar an die Zugehörigkeit des Elternteils zum Arbeitsmarkt an, geht jedoch zeitlich über diese hinaus.

3. Die Arbeitnehmereigenschaft ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu bestimmen. Dabei sind insbesondere die Arbeitszeit, die Art der Tätigkeit, die Weisungsgebundenheit, der wirtschaftliche Wert der erbrachten Leistung, die Vergütung als Gegenleistung für die Tätigkeit, der Arbeitsvertrag und dessen Regelungen sowie die Beschäftigungsdauer zu berücksichtigen. Dass eine  Beschäftigung von Anfang an auf wenige Monate begrenzt war, steht dem Arbeitnehmerstatus nicht prinzipiell entgegen.

(Leitsätze der Redaktion)

 

Schlagwörter: EU-Staatsangehörige, Arbeitnehmerbegriff, Schulbesuch, Arbeitsuche, Leistungsausschluss,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S 2 Nr. 2, FreizügG/EU § 2 Abs. 2, AEUV Art 45, VO 492/2011 Art. 10
Auszüge:

[...]

13 5. Die Kläger sind nicht gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr 2 SGB II a.F. von Leistungen ausgeschlossen, weil sie sich auf ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 berufen können. [...]

15 Ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 steht in diesem Sinne einem Leistungsausschluss entgegen (BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 43/15 R - BSGE 120, 139 = SozR 4-4200 § 7 Nr. 46, RdNr. 27; vgl. BSG vom 27.1.2021 - B 14 AS 25/20 R - und EuGH vom 6.10.2020 - C-181/19 - EU:C:2020:794 zu § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. c SGB II i.d.F. vom 22.12.2016, BGBl I 3155). Nach Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 können Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats (hier aus Bulgarien), der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (hier in der Bundesrepublik Deutschland) beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht teilnehmen. Dieses Recht auf Gleichbehandlung hinsichtlich des Zugangs zur weiteren Teilnahme am Unterricht (vgl. EuGH vom 6.10.2020 - C-181/19 - EU:C:2020:794 = ZESAR 2021, 43, RdNr. 35) vermittelt sowohl den Kindern als auch den sie betreuenden Elternteilen ein materielles Aufenthaltsrecht (vgl. im Einzelnen BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 43/15 R - BSGE 120, 139 = SozR 4-4200 § 7 Nr. 46, RdNr. 27, 29 ff). Das Recht knüpft an den Arbeitnehmerstatus eines Elternteils an, reicht aber zeitlich über die Beschäftigung hinaus (BSG vom 12.9.2018 - B 14 AS 18/17 R - RdNr. 24; vgl. im Einzelnen BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 43/15 R - BSGE 120, 139 = SozR 4-4200 § 7 Nr. 46, RdNr. 30 ff). Mit dem Erfordernis der (früheren) Beschäftigung verweist Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 auf den Arbeitnehmerbegriff des Art. 45 AEUV, wovon auch der EuGH ausgeht (letztens EuGH vom 6.10.2020 - C-181/19 - EU:C:2020:794 = ZESAR 2021, 43, RdNr. 35 ff.) und was sich im Übrigen aus der zu Art. 10 gehörenden Abschnittsüberschrift und dem Sinn und Zweck der VO (EU) Nr. 492/2011 ergibt, das Ziel der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu erreichen (Erwägungsgrund Nr. 3 der VO <EU> Nr. 492/2011). [...]

18 Der Umstand, dass eine Person im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Arbeitsstunden leistet, kann ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die ausgeübte Tätigkeit nur untergeordnet und unwesentlich ist. Unabhängig von der begrenzten Höhe des aus einer Berufstätigkeit bezogenen Entgelts und des begrenzten Umfangs der insoweit aufgewendeten Arbeitszeit ist indes nicht auszuschließen, dass die Tätigkeit aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses den Arbeitnehmerstatus begründen kann (EuGH vom 4.2.2010 - C-14/09 - Genc, EU:C:2010:57, Slg 2010, I-931 RdNr. 26; vgl. BSG vom 12.9.2018 - B 14 AS 18/17 R - RdNr. 19 mwN).

19 Nach der Rechtsprechung des EuGH ist auch die Dauer der von dem Betroffenen verrichteten Tätigkeit ein Gesichtspunkt, den das innerstaatliche Gericht bei der Beurteilung der Frage berücksichtigen kann, ob es sich hierbei um eine tatsächliche und echte Tätigkeit handelt oder ob sie vielmehr einen so geringen Umfang hat, dass sie nur unwesentlich und untergeordnet ist (EuGH vom 26.2.1992 - C-357/89 - Raulin, EU:C:1992:87, Slg 1992, I-1027 RdNr. 14; EuGH vom 4.2.2010 - C-14/09 - Genc, EU:C:2010:57, Slg 2010, I-931 RdNr. 27). Der bloße Umstand der kurzen Dauer der Beschäftigung führt als solcher nicht dazu, dass die Tätigkeit vom Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit ausgeschlossen ist (EuGH vom 6.11.2003 - C 413/01 - Ninni-Orasche, EU:C:2003:600, Slg 2003, I-13187 RdNr. 25; EuGH vom 4.6.2009 - C-22/08, C-23/08 - Vatsouras, Koupatantze, EU:C:2009:344, SozR 4-6035 Art. 39 Nr. 5 RdNr. 29; EuGH vom 1.10.2015 - C-432/14 - EU:C:2015:643 = ZESAR 2016, 222, RdNr. 23 f; EuGH vom 11.4.2019 - C-483/17 - Neculai Tarola, EU:C:2019:309 = InfAuslR 2019, 232, RdNr. 22 ff.).

20 Weiterhin sind die Motive für den Abschluss von Arbeitsverträgen sowie der Suche von Arbeit in einem Mitgliedstaat unerheblich (EuGH vom 23.3.1982 - C-53/81 - Levin, EU:C:1982:105, Sgl 1982, 1035 RdNr. 22 = NJW 1983, 1249; EuGH vom 21.2.2013 - C-46/12 - EU:C:2013:97 RdNr. 47). Die Arbeitnehmereigenschaft beurteilt sich allein nach objektiven Kriterien, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf Rechte und Pflichten kennzeichnen (EuGH vom 6.11.2003 - C-413/01 - Ninni-Orasche, EU:C:2003:600, Slg 2003, I-13187 RdNr. 24; EuGH vom 21.2.2013 - C-46/12 - EU:C:2013:97 RdNr. 40).

21 Für die Gesamtbewertung der Ausübung einer Tätigkeit als Beschäftigung und damit die Zuweisung des Arbeitnehmerstatus ist mithin Bezug zu nehmen insbesondere auf die Arbeitszeit, den Inhalt der Tätigkeit, eine Weisungsgebundenheit, den wirtschaftlichen Wert der erbrachten Leistung, die Vergütung als Gegenleistung für die Tätigkeit, den Arbeitsvertrag und dessen Regelungen sowie die Beschäftigungsdauer (vgl. dazu mit zahlreichen Hinweisen auf Rspr des EuGH nur Brinkmann in Huber, AufenthG, 2.  2016, § 2 FreizügG/EU RdNr. 8 ff.; Dienelt in Bergmann/ Dienelt, Ausländerrecht, 13.  2020, § 2 FreizügG/EU RdNr. 38 ff.; Franzen in Streinz, EUV/AEUV, 3.  2018, Art. 45 AEUV RdNr. 15 ff.). Nicht alle einzelnen dieser Merkmale müssen schon je für sich die Arbeitnehmereigenschaft zu begründen genügen; maßgeblich ist ihre Bewertung in einer Gesamtschau. Der Gesamtbewertung ist mit Rücksicht auf einschlägige Rechtsprechung des EuGH ein weites Verständnis zugrunde zu legen (letztens BSG vom 12.9.2018 - B 14 AS 18/17 R - RdNr. 20; weitere Nachweise bei Fuchs/Marhold/Friedrich, Europäisches Arbeitsrecht, 6. Aufl. 2020, S 84 ff.). [...]