VG Arnsberg

Merkliste
Zitieren als:
VG Arnsberg, Gerichtsbescheid vom 22.06.2021 - 4 K 1362/21.A - asyl.net: M29829
https://www.asyl.net/rsdb/m29829
Leitsatz:

Erfolgreiche Untätigkeitsklage gegen das BAMF in Griechenland-Verfahren:

1. Es kann nicht von besonderen Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsaufklärung bezüglich der Situation international Schutzberechtigter in Griechenland ausgegangen werden, die einen hinreichenden Grund für eine Verfahrensverzögerung darstellen. Zum einen existiert gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung zur Situation "Anerkannter" in Griechenland (unter Bezug auf OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21.01.2021 - 11 A 1564/20.A (Asylmagazin 3/2021, S. 92 f.); Parallelverfahren: 11 A 2982/20.A - asyl.net: M29253). Zum anderen gehört es gerade zum Kern der dem besonders fachkundigen Bundesamt übertragenen Tätigkeit, fortlaufende Ermittlungen über die Lage in verschiedenen Ländern anzustellen und diese zu beurteilen.

2. Ersucht das BAMF die griechischen Behörden im Rahmen eines Dublin-Aufnahmeersuchens um eine individuelle Zusicherung in Hinblick auf eine angemessene Betreuung der betroffenen Personen und reagieren die griechischen Behörden in ihrer Ablehnung des Aufnahmeersuchens unter Hinweis auf die internationale Schutzberechtigung hierauf nicht, so stellt dies keinen Hinderungsgrund für die Bescheidung der Asylanträge dar. Vielmehr ist die Sachlage dahingehend geklärt, dass eine Zusicherung nicht erfolgt ist. Dies muss das BAMF bei seiner Entscheidung berücksichtigen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Griechenland, internationaler Schutz in EU-Staat, Untätigkeitsklage, Verfahrensverzögerung, Beschleunigungsgebot, Asylverfahrensrichtlinie, Zusicherung, zureichender Grund,
Normen: VwGO § 75 S. 3, AsylG § 24 Abs. 4, RL 2013/32/EU Art. 31 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

Auch die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 75 Satz 1 VwGO für eine Untätigkeitsklage sind jedenfalls im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erfüllt. Ein zureichender Grund im Sinne der vorbezeichneten Regelung für die Nichtbescheidung der Asylbegehren der Kläger, welcher der Zulässigkeit ihrer Klage entgegenstehen könnte, liegt nicht vor.

Seit der Antragstellung sind mittlerweile 1 1/2 Jahre vergangen. Für eine derart lange Verfahrensdauer, die sich hier mit der im Tenor einzuräumenden abschließenden Bescheidungsfrist auf nahezu zwei Jahre summieren wird, ist kein zureichender Grund mehr dargetan oder erkennbar, auf den sich die Beklagte berufen könnte. Soweit die Beklagte auf eine angeblich ausreichende und angemessene Situation für anerkannte Flüchtlinge/Schutzberechtigte in Griechenland verweist bzw. - dem dann z.T. widersprechend - meint, die griechischen Behörden könnten jedenfalls künftig die Unterbringung und Versorgung der Kläger sicherstellen, was zur Änderung des Streitgegenstandes und zum Wegfall der Bindungswirkung einer anderslautenden verwaltungsgerichtlichen Entscheidung führen würde, mag die Richtigkeit jener Einschätzungen hier (noch) dahinstehen. Zureichende Gründe für die Nichtbescheidung folgen daraus nicht.

Der erstgenannte Einwand für sich genommen hätte gerade umgekehrt die Verpflichtung zur sofortigen Bescheidung zur Folge, wenn die Situation in Griechenland doch derart eindeutig zu beurteilen wäre. Der zweitgenannte Einwand verhält sich ersichtlich nur zu solchen Fallgestaltungen, in denen das Bundesamt wegen der "angemessenen" Lage in Griechenland eine Unzulässigkeitsentscheidung getroffen hat und diese ggf. gerichtlich aufgehoben worden ist. Daraus ergeben sich indes keine tragfähigen Gründe dafür, zur Vermeidung solcher für untunlich erachteten - weil mit der eigenen bisherigen Entscheidungspraxis nicht übereinstimmenden - Verfahrensabläufe und Ergebnisse erst gar nicht über einen gestellten Asylantrag einer bereits in Griechenland als schutzberechtigt anerkannten Person zu entscheiden.

Schließlich sind auch die behauptete Entwicklungsdynamik mit der Notwendigkeit zur ständigen Aktualisierung der Erkenntnisse und Schwierigkeiten bei der Sachaufklärung im Hinblick auf die notwendige Mitwirkung eines anderen Staates nicht geeignet, zureichende Gründe für das Unterlassen einer Bescheidung im vorliegenden Fall zu bilden. Die Notwendigkeit zur fortlaufenden Ermittlung und Beurteilung der jeweils maßgeblichen Lage, hier bezogen auf Griechenland, ist systemimmanenter Kern der dem - doch besonders fachkundigen - Bundesamt übertragenen Tätigkeit und stellt mit dem Abschluss einer förmlichen Antragsbescheidung gerade seine ihm zugewiesenen Aufgabe dar; dass und weshalb dies hier mit Blick auf die Lage in Griechenland, zumal angesichts der dem Bundesamt bekannten, gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung dazu, vgl. OVG NRW, Urteil vom 21. Januar 2021 - 11 A 1564/20. A -, juris, über 1 1/2 Jahre hinweg nicht möglich gewesen sein sollte, erschließt sich nicht. Insofern stellt auch die von Griechenland vorliegend erbetene, gleichwohl aber unterbliebene Mitwirkung in Form der Abgabe eine individuellen Zusicherung der Versorgung der Kläger bei Rückkehr keinen Hinderungsgrund für die Bescheidung der Asylanträge dar; vielmehr ist die Sachlage dahin geklärt, dass eine solche Zusicherung nicht erfolgt (ist), was das Bundesamt in seine Entscheidung mit einzustellen haben wird.

Angesichts des somit fehlenden zureichenden Grundes für die bislang unterbliebene Bescheidung fehlt es auch an der gemäß § 75 Satz 3 VwGO erforderlichen Grundlage für eine Aussetzung des Verfahrens mit Festsetzung einer Entscheidungsfrist, die folglich vorliegend nicht anzuordnen war.

Die Bescheidungsklage ist auch begründet.

Die Kläger haben einen Anspruch auf Bescheidung ihrer Asylbegehren. Die bislang nach dem oben Gesagten fehlende Bescheidung ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 VwGO.

Der materielle Anspruch der Kläger auf eine Entscheidung über ihr Asylbegehren an sich folgt aus Art. 16a Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), §§ 3, 4 i.V.m. §§ 24, 31 AsylG. Aus den in diesen Bestimmungen enthaltenen Gewährleistungen (Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung oder Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus bei Vorliegen der jeweils hierfür relevanten Voraussetzungen) sowie der allein dem Bundesamt zugewiesenen Befugnis und Pflicht zur Entscheidung über jene Gewährleistungen folgt gleichsam zwangsläufig ein damit korrespondierender Anspruch des jeweiligen Asylbewerbers, dass eine entsprechende Entscheidung ergeht.

Dass dieser Anspruch auch bereits jetzt gegeben und vom Bundesamt zu verwirklichen ist, ergibt sich aus den obigen Ausführungen zum mittlerweile festzustellenden Fehlen eines zureichenden Grundes für die Nichtbescheidung. Unbeschadet des mithin aktuell bestehenden Anspruchs wird der Beklagten mit der eingeräumten Frist von 3 Monaten ab Rechtskraft des Gerichtsbescheides die - nicht zuletzt auch im Interesse der Kläger, deren Antrag entsprechend zu verstehen war - zur rechtmäßigen Entscheidungsfindung erforderliche Gelegenheit gegeben, die maßgeblichen Tatsachen- und Rechtsfragen zu ermitteln, zu beurteilen und sodann eine Entscheidung in der Sache zu treffen. [...]