VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 21.05.2021 - 20 K 115.19 V - asyl.net: M29837
https://www.asyl.net/rsdb/m29837
Leitsatz:

Familiennachzugsanspruch offen, wenn bei minderjährigen Stammberechtigten Volljährigkeit außerhalb schwe­bender Verwaltungsverfahren eintritt:

"1. Es ist zweifelhaft, ob die Rechtsprechung des EuGH (C-550/16) zum Minderjährigkeitsbegriff auch auf Fälle Anwendung findet, in denen bei minderjährigen Stammberechtigten Volljährigkeit außerhalb schwe­bender Verwaltungsverfahren eintritt, weil dann der Zweck, eine verfahrensbedingte Rechtsvereitelung auszuschließen, nicht berührt ist.

2. Überträgt man die Rechtsprechung gleichwohl, muss jedenfalls auch die vom EuGH in diesem Kontext entwickelte Drei-Monatsfrist gewahrt sein.

3. Es kann offenbleiben, ob bei Versäumung dieser Frist analog die Bestimmungen zur Wiedereinsetzung anzuwenden sind, wenn die Jahresfrist nicht gewahrt ist und ein Fall höherer Gewalt nicht vorliegt (wie OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Juni 2019 - OVG 3 M 98.19 -, juris Rn. 3)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Familienzusammenführung, minderjährig, Volljährigkeit, Flüchtlingsanerkennung, Elternnachzug,
Normen: AufenthG § 36 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

17 Der Sohn der Kläger ist jedoch nicht mehr minderjährig, was hier das Eingreifen der Anspruchsgrundlage ausschließt. Nichts anderes ergibt sich aus der von den Klägern für sich in Anspruch genommenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 12. April 2018 - EuGH C-550/16 -, juris). Zwar wurde dort entschieden, dass auch Volljährige als minderjährig im Sinne der Familienzusammenführungsrichtlinie anzusehen sind, wenn sie bei Asylantragstellung minderjährig gewesen sind (ebd., Rn. 64), was der Sohn der Kläger unstreitig war. Es ist jedoch zweifelhaft, ob diese Rechtsprechung auf den hiesigen Fall übertragbar ist. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Europäische Gerichtshof dies in einem Fall entschieden hat, in dem die Volljährigkeit im schwebenden Asylverfahren eingetreten ist. Ersichtlich ist die zitierte Rechtsprechung vor allem dem Ziel verschrieben, Rechtsvereitelungen (allein) bedingt durch Verzögerungen in behördlichen (Asyl-)Verfahren auszuschließen (ebd., Rn. 55 ff.). Ebenfalls ausgehend offenbar von ebendieser Überlegung hat das Bundesverwaltungsgericht unlängst dem Europäischen Gerichtshof mit Blick auf dessen Urteil vom 12. April 2018 Fragen in Fällen vorgelegt, in denen minderjährige Stammberechtigte zwar nicht im Laufe des Asylverfahrens volljährig wurden, sondern jeweils während des sich anschließenden, noch schwebenden Nachzugsverfahrens ihrer Eltern (Beschlüsse vom 23. April 2020 - BVerwG 1 C 9/19 und BVerwG 1 C 10/19 -, juris; bekräftigt durch Beschluss vom 20. August 2020 - BVerwG 1 C 9/19 -). Denn auch dort steht eine Rechtsvereitelung während schwebender Verwaltungsverfahren im Raum. Von dieser vom Europäischen Gerichtshof geklärten Konstellation und der weiteren ihm zur Klärung nun vorgelegten Fallgestaltung unterscheidet sich der hiesige Fall indes grundlegend. Das genannte Ziel der EuGH-Rechtsprechung ist hier nicht berührt. Der zeitliche bedingte Untergang des Nachzugsrechts der Kläger hing hier gerade nicht mit behördlichen Verfahren ihres Sohnes bzw. deren Dauer zusammen. Denn die Volljährigkeit ihres Sohnes trat anders als im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof nach dessen Asylverfahren ein. Anders als in dem vom Bundesverwaltungsgericht nun vorgelegten Verfahren trat Volljährigkeit auch nicht während, sondern vor Einleitung des Nachzugsverfahrens ein. Eine durch das Schweben von Verwaltungsverfahren ausgelöste Rechtsvereitelung war hier somit nicht zu besorgen. [...]

18 Aber selbst wenn man den Klägern in ihrer Annahme folgen und annehmen wollte, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs wäre hier anwendbar, könnten sich die Kläger nicht auf § 36 Abs. 1 AufenthG berufen. Denn der Europäische Gerichtshof hat in derselben Entscheidung ferner geklärt, dass der Nachzug zu vormals Minderjährigen nicht ohne jede zeitliche Begrenzung erfolgen kann. Daher muss der Nachzugsantrag binnen drei Monaten ab dem Tag der Flüchtlingsanerkennung gestellt werden (ebd., Rn. 61). Diese Frist ist hier versäumt worden. Das gilt unabhängig davon, ob die 3-Monatsfrist durch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Gang gesetzt wird (so EuGH, a.a.O., Rn. 61) oder aber durch den Eintritt der Volljährigkeit, was im hiesigen Fall näherliegt. [...]