OVG Sachsen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 14.04.2021 - 6 A 100/19.A - asyl.net: M29854
https://www.asyl.net/rsdb/m29854
Leitsatz:

Kein Flüchtlingsschutz für eritreischen Staatsangehörigen wegen Einberufung zum Nationaldienst:

"Nationaldienstpflichtigen eritreischen Staatsangehörigen drohende Verfolgung wegen einer Entziehung oder Desertion vom Nationaldienst knüpft nicht generell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an eine ihnen zugeschriebene oppositionelle politische Überzeugung oder an eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe i.S. des § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3 b Abs. 1 Nrn. 4 und 5 AsylG an."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Eritrea, Nationaldienst, Militärdienst, Wehrdienstentziehung, Desertion, Upgrade-Klage, politische Verfolgung, Verfolgungsgrund, Wehrdienstverweigerung, Strafverfolgung wegen Verweigerung von völkerrechtswidrigem Militärdienst, Kriegsverbrechen, Verfolgungshandlung, unverhältnismäßige Strafverfolgung, völkerrechtswidriger Militärdienst, Asylrelevanz, Verknüpfung, EZ,
Normen: AsylG § 3, RL 2011/95 Art. 9 Abs. 2 Bst. e, RL 2011/95 Art. 10, RL 2011/95 Art. 12,
Auszüge:

[...]

26 Eine dem Kläger wegen Desertion oder Umgehung des eritreischen Nationaldienstes drohende Haft sowie die Einziehung zur Ableistung/Fortsetzung des Nationaldienstes in Eritrea erfolgen insbesondere nicht wegen des Verfolgungsgrundes einer ihm zugeschriebenen oppositionellen Überzeugung i. S. des § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG (a) oder wegen einer ihm zugeschriebenen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe i. S. des § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG (b).

27 a) Ein Ausländer wird wegen einer politischen Überzeugung verfolgt, wenn dies geschieht, weil er in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG) und es genügt, dass ihm diese zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG).

28 Die politische Überzeugung wird in erheblicher Weise unterdrückt, wenn ein Staat mit Mitteln des Strafrechts oder in anderer Weise auf Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des einzelnen schon deshalb zugreift, weil dieser seine mit der Staatsraison nicht übereinstimmende politische Meinung nach außen bekundet und meinungsbildend auf andere einwirkt. Hiervon kann insbesondere auszugehen sein, wenn er eine Behandlung erleidet, die härter ist als sie sonst zur Verfolgung ähnlicher - nichtpolitischer - Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit im Verfolgerstaat üblich ist (vgl. zum sog. "Politmalus": BVerfG, Beschl. v. 4. Dezember 2012 - 2 BvR 2954/09 -, juris Rn. 24 ff.; BVerwG, Urt. v. 19. April 2018 - 1 C 29.17 -, juris Rn. 22 jeweils m. w. N.). Demgegenüber liegt keine Sanktionierung einer politischen Überzeugung vor, wenn die staatliche Maßnahme allein der Durchsetzung einer alle Staatsbürger gleichermaßen treffenden Pflicht dient. Dies gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für Sanktionen, die an eine Wehrdienstentziehung anknüpfen, selbst dann, wenn diese von totalitären Staaten verhängt werden. Solche Maßnahmen begründen nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Furcht vor Verfolgung, wenn sie den Betroffenen über die Ahndung des allgemeinen Pflichtverstoßes hinaus wegen seiner politischen Überzeugung - oder auch eines sonstigen asylerheblichen Merkmals - treffen sollen. Indizien hierfür können ein unverhältnismäßiges Ausmaß der Sanktionen oder deren diskriminierender Charakter sein (BVerwG, Urt. v. 19. April 2018 a.a.O. m. w. N.).

29 Ausgehend davon sprechen bei einer Gesamtbetrachtung und Würdigung der dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel gewichtigere Indizien gegen als für die Annahme, dass die einem Dienstpflichtigen in Eritrea wegen Desertion oder illegaler Ausreise im wehrdienstpflichtigem Alter drohende Inhaftierung und/oder die (anschließende) Verpflichtung zur Ableistung des Nationaldienstes an eine ihm zugeschriebene politische Überzeugung anknüpft.

30 Gegen die Anknüpfung an diesen Verfolgungsgrund spricht in erster Linie, dass die in Eritrea derzeit für die Desertion verhängten Haftstrafen hinter den gesetzlichen Höchststrafen zurückbleiben und die Bedingungen im Strafvollzug für Deserteure und andere Strafgefangene gleich hart sind. Daneben sprechen dagegen die ökonomischen Interessen des eritreischen Staates im Umgang mit Rückkehrern. Zudem erstreckt sich nach eritreischer Rechtslage und deren Anwendungspraxis die Dienstpflicht zum Nationaldienst praktisch auf alle eritreischen Staatsangehörigen gleichermaßen ohne Ansehung ihrer individuellen Persönlichkeitsmerkmale (vgl. BVerwG, Urt. v. 19. April 2018 a.a.O. Rn. 23 und 36). Im Einzelnen: [...]

40 b) Wegen der möglichen Bestrafung/Inhaftierung des Klägers als Deserteur und seiner möglichen Heranziehung zur (Fortsetzung) der Dienstleistung im Nationaldienst kann von einer begründeten Furcht vor Verfolgung auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe i. S. des § 3 Abs. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2011/95/EU ausgegangen werden. Eine etwaige vom Kläger insoweit zu erleidende Verfolgungshandlung knüpft nicht an diesen Verfolgungsgrund an und vermittelt ihm daher ebenfalls keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Deserteure und Dienstleistungsverpflichtete bilden unter eritreischen Staatsangehörigen keine "bestimmte soziale Gruppe" im Sinn der vorgenannten Normen. Diese setzen in Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union neben den in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2011/95/EU und § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AsylG näher beschriebenen der Gruppe gemeinsamen Merkmalen, Hintergründen oder Glaubensüberzeugungen kumulativ voraus, dass die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. EuGH, Urt. v. 7. November 2013 - C-199/12, C-200/12, C-201/12, Minister voor Immigratie en Asiel/X und Y sowie Z/Minister voor Immigratie en Asiel -, juris Rn. 45 und v. 25. Januar 2018 - C-473/16, F/Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal -, juris Rn. 30). Daran fehlt es hier. Die Gesamtheit der Deserteure oder der Dienstverpflichteten dürfte bereits zu inhomogen sein, um ein Gemeinhaben eines unveränderlichen gemeinsamen Hintergrundes oder eines die Identität prägenden Merkmals aufzuweisen (vgl. BVerwG, Urt. v. 19. April 2018 a.a.O. Rn. 33 zur Gesamtheit der nahestehenden Personen eines Deserteurs und Rn. 32: offengelassen für die Familien von Deserteuren). Jedenfalls kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Gruppen i. S. des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AsylG von der eritreischen Gesellschaft als andersartig betrachtet würden und daher eine deutlich abgegrenzte Identität besäßen (vgl. BVerwG a.a.O. Rn. 36; OVG NRW, Urt. v. 21. September 2020 a.a.O. Rn. 118 f.; BayVGH, Urt. v. 5. Februar 2020 a.a.O. Rn. 37 jeweils zur Gruppe der Dienstverpflichteten). Denn die Dienstverpflichtung trifft nach dem oben Ausgeführten praktisch ausnahmslos die gesamte erwachsene eritreische Bevölkerung gleichermaßen ohne Ansehung ihrer Persönlichkeitsmerkmale. Lässt sich aber die Personengruppe aller Dienstverpflichteten im Nationaldienst des Staates Eritrea von der eritreischen Gesellschaft gar nicht unterscheiden, fehlt es von vornherein an der erforderlichen gesellschaftlichen Wahrnehmbarkeit dieser Personen als eigenständige Gruppe und damit an der Grundvoraussetzung dafür, ihnen eine an bestimmte Persönlichkeitsmerkmale anknüpfende Andersartigkeit zuzuschreiben. Für die Gruppe der Deserteure kann vor dem Hintergrund der massenhaften Begehung des Delikts nichts anderes gelten. Die Strafgesetze, die die Desertion und die Entziehung vom Nationaldienst sanktionieren, treffen ebenfalls unterschiedslos alle eritreischen Staatsangehörigen. Dass diejenigen, die die diesbezüglichen Strafgesetze verletzen, von der eritreischen Gesellschaft als andersartig betrachtet würden und daher in Eritrea eine deutlich abgegrenzte Identität hätten, ist nicht erkennbar (so auch BVerwG, Urt. v. 19. April 2018 a.a.O. Rn. 32 zur Gruppe der Familien eritreischer Deserteure).

41 c) Dem Kläger droht flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung bei einer Rückkehr nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit weiter nicht wegen seiner illegalen Ausreise im wehrpflichtigen Alter und seiner Asylantragstellung in Deutschland. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Staat Eritrea bereits die illegale Ausreise oder die Asylantragstellung als Ausdruck einer Regimegegnerschaft bewertet. Die oben (2. a) getroffenen generalisierenden Tatsachenfeststellungen zum Fehlen einer Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung betreffen gerade Personen, die illegal ausgereist sind, um sich dem Nationaldienst zu entziehen, also beide Tatbestände verwirklicht haben, und die in vielen Fällen im Ausland um Asyl nachgesucht haben. Aus diesen Tatsachenfeststellungen ergibt sich zugleich, dass der Staat Eritrea allein an eine illegale Ausreise im wehrpflichtigen Alter und/oder allein an eine Asylantragstellung im Ausland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgungsmaßnahmen knüpft (OVG NRW, Urt. v. 21. September 2020 a.a.O. Rn. 131 f. m. w. N.). Dies entspricht auch den Erfahrungen deutscher Behörden mit anerkannten Asylbewerbern aus Eritrea, die trotz ihrer behaupteten politischen Verfolgung besuchsweise nach Eritrea gereist sind, ohne dort von den Behörden behelligt worden zu sein (AA, Lagebericht v. 9. Dezember 2020, S. 22 ff.). [...]