VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 07.07.2021 - 6 K 1730/20.TR - asyl.net: M29868
https://www.asyl.net/rsdb/m29868
Leitsatz:

Keine Abschiebung Anerkannter nach Griechenland bei drohender Menschenrechtsverletzung:

Anerkannten Schutzberechtigten droht in Griechenland nach Abschluss ihres Asylverfahrens eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von § 60 Abs. 5 iVm Art. 3 EMRK.

(Leitsätze der Redaktion; entgegen VG Trier, Urteil vom 08.09.2020 - 7 K 1694/20.TR (Asylmagazin 10-11/2020, S. 364 ff.) - asyl.net: M28839; Anm.: laut Einsenderin handelt es sich bei dieser Entscheidung um eine Änderung der bisherigen Rechtsprechung des Gerichts)

Schlagwörter: Griechenland, internationaler Schutz in EU-Staat, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, alleinstehende Männer, Obdachlosigkeit,
Normen: EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AufenthG § 60 Abs. 5, VO 604/2013 Art. 13 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Nach diesen Vorgaben ist bezüglich des Klägers derzeit von einer Verletzung von Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK im Hinblick auf Griechenland ausgehen. Zwar geht die Kammer weiterhin davon aus, dass es anerkannt Schutzberechtigten ohne besonderen Schutzbedarf - wie dem jungen, alleinstehenden Kläger - bei Aufwenden hoher, aber zumutbarer Anstrengungen grundsätzlich möglich ist, sich durch eigene Erwerbstätigkeit in Griechenland eine Existenzgrundlage aufzubauen und sich selbst zu versorgen (vgl. hierzu Urteil der Kammer vom 18. November 2019 -6 K 1117/19.TR -, juris). Nach den derzeit vorliegenden Erkenntnismitteln ist jedoch mehr als zweifelhaft, dass es dem Kläger in der Zeit unmittelbar nach seiner Rückkehr gelingen wird, eine Unterkunft zu finden, so dass ihm in der Anfangszeit Obdachlosigkeit droht und somit eine Situation extremer materieller Not beachtlich wahrscheinlich ist.

Bislang war davon auszugehen, dass anerkannt Schutzberechtigte trotz mangelnder staatlicher Unterbringungsmodelle jedenfalls in den kommunalen Obdachlosenunterkünften Unterkunft finden können (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Berlin vom 4. Dezember 2019, S. 4, MILo; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Stade vom 6. Dezember 2018, S. 2 f., MILo), ohne dass hierfür besondere Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Neuere Erkenntnisquellen schildern jedoch, dass staatliche Unterkünfte den Zugang von der Vorlage bestimmter Unterlagen, im Einzelnen einer Steueridentifikationsnummer sowie einer steuerlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung, abhängig machen (vgl. Stiftung Pro Asyl und RSA, Stellungnahme zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April2021, S. 11 ). Da anerkannt Schutzberechtigte regelmäßig - dies trifft auch auf den Kläger zu - bei einer Rückkehr ebendiese Bescheinigungen bzw. Nachweise nicht vorlegen können, ist davon auszugehen, dass ihnen bis zur (erneuten) Ausstellung der Zugang zu den staatlichen Obdachlosenunterkünften verwehrt sein wird. Gegenteilige Anhaltspunkte ergeben sich auch nicht aus der hierauf bezogenen Stellungnahme des Bundesamts (vgl. Stellungnahme des Bundesamts vom 14. Juni 2021 zum Bericht von Pro Asyl und RSA zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland), die sich lediglich mit den Problemen bei der Beschaffung der Steueridentifikations- bzw. Sozialversicherungsnummer befasst, nicht aber zu den Obdachlosenunterkünften selbst bzw. deren Zugangsvoraussetzungen verhält.

Dass die übrigen, derzeit verfügbaren Unterbringungsmöglichkeiten wie etwa die von Nichtregierungsorganisationen oder kirchlichen Trägern zur Verfügung gestellten Schlafplätze sowie die vereinzelt vorhandenen informelle Wohnprojekte (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Stade, a.a.O., S. 3; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Schwerin vom 26. September 2018, S. 5, Milo; Caritas Österreich, Flüchtlingshilfe Griechenland, 29. Januar 2021) ausreichten, um den so entstandenen zusätzlichen Unterbringungsbedarf in Griechenland auszugleichen, ist angesichts der im europäischen Vergleich weiterhin hohen Flüchtlingszahlen (vgl. Statista, Zahl der Flüchtlinge und Asylsuchenden in Griechenland in den Jahren 2017 bis 2020), der infolge der beschleunigten Durchführung von Asylverfahren deutlich gestiegenen Anzahl von anerkannt Schutzberechtigten-diese hat sich in 2020 gegenüber dem Vorjahr auf 35.372 verdoppelt (vgl. Pro Asyl, "Anerkannte Flüchtlinge in Griechenland: Mit Kind und Kegel auf der Straße", 12. April 2021) - und der gleichzeitig verkürzten Aufenthaltsdauer in den staatlichen Aufnahmeeinrichtungen (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Magdeburg vom 26. November 2020, S. 2, Milo; Antwort der Bundesregierung vom 8. Dezember 2020 [BT-Drucks. 19/25036] auf die Kleine Anfrage Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE vom 6. November 2020, BT-Drucks. 19/24115, S. 6), nicht ersichtlich.

Es steht auch nicht zu erwarten, dass der Kläger im vorliegenden Einzelfall dieses Unterbringungsdefizit - bis zum Erhalt der geforderten Dokumente müsste er die Kosten für eine Unterkunft selbst aufbringen - durch eigene Anstrengungen abwenden könnte. Weder verfügt er selbst über nennenswerte Ersparnisse oder anderweitige geldwerte Rücklagen, mit denen er die Kosten für eine Unterkunft finanzieren könnte, noch ist ersichtlich, dass er längerfristig und in dem erforderlichen Umfang von seiner Verwandtschaft finanziell unterstützt werden könnte. Insoweit hat er im Rahmen der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass seine im Heimatland verbliebenen Familienangehörigen zwischenzeitlich im Oppositionsgebiet lebten und aus diesem Grund nicht arbeiten könnten, so dass sie vielmehr auf finanzielle Unterstützung durch ihn angewiesen seien. Die beiden Häuser der Familie, die im Besitz seiner Eltern gestanden hätten, seien zwischenzeitlich infolge von Bombardierung zerstört worden. Insoweit muss davon ausgegangen werden, dass der Kläger allenfalls von seinem in Deutschland lebenden Cousin, der bei einem Fastfood-Restaurant beschäftigt ist, unterstützt werden könnte. Dass dieser längerfristig für die Unterbringungskosten des Klägers aufkommen könnte, steht allerdings nicht zu erwarten. Über ein soziales Netzwerk in Griechenland, welches ihn bei einer Rückkehr, etwa durch die Zurverfügungstellung von Wohnraum, nachhaltig unterstützen könnte, verfügt der Kläger ebenfalls nicht mehr. Zwar hat er während seines Voraufenthalts etwa vier Monate bei zwei Bekannten gewohnt. Ausweislich seiner Angaben in der mündlichen Verhandlung sind diese Bekannten jedoch zwischenzeitlich ebenfalls nach Deutschland gereist und haben hier Asylanträge gestellt. in Ansehung dessen wäre die Situation bei einer Rückkehr nicht mit der von seiner Ausreise vergleichbar.

Ebenso wenig ist ersichtlich, dass der Kläger unmittelbar nach der Rückkehr die Voraussetzungen für den Erhalt von Sozialhilfe oder wohnungsbezogenen Sozialleistungen erfüllen und damit die Kosten für eine Unterkunft begleichen könnte. Der Erhalt von Sozialhilfe setzt neben der Vorlage diverser Dokumente, u.a. den Nachweis über ein eigenes Bankkonto sowie einer Steuererklärung des Vorjahres (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Potsdam vom 23. August 2019, S. 3 f., MiLo), einen mindestens zweijährigen legalen Voraufenthalt in Griechenland voraus (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Leipzig vom 28. Januar 2020, S. 2 f., MiLo). Bei wohnungsbezogenen Sozialleistungen wird sogar ein fünfjähriger legaler und zudem dauerhafter Voraufenthalt vorausgesetzt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Potsdam, a.a.O., S. 1 f.; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Leipzig, a.a.O., S. 2). Diese Voraussetzungen würde der Kläger aller Voraussicht nach nicht erfüllen, denn jedenfalls kann er den geforderten Voraufenthalt in Griechenland nicht vorweisen. Folglich verstieße im vorliegenden Fall eine Überstellung nach Griechenland grundsätzlich nur dann nicht gegen Art. 3 EMRK, wenn die Beklagte zuvor bei den griechischen Behörden eine individuelle Garantieerklärung oder aber eine entsprechende Erklärung von Nichtregierungsorganisationen eingeholt hätte, wonach der Kläger bei seiner Rückkehr Zugang zu einer Unterkunft erhalten werde. An einer solchen Zusicherung fehlt es jedoch. Insbesondere genügt die allgemeine Erklärung der griechischen Behörden vom 8. Januar 2018 den an eine Garantieerklärung zu stellende Anforderungen nicht.

Mithin ist die Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig nach alledem rechtswidrig und verletzt ihn in seinen Rechten. [...]