OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 22.03.2021 - 2 L 132/19 - asyl.net: M29875
https://www.asyl.net/rsdb/m29875
Leitsatz:

Langjähriger Verstoß gegen die Passpflicht begründet grundsätzlich Ausweisungsinteresse:

"1. Es ist daran festzuhalten, dass die Ausnahmeregelung in § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG (juris: AufenthG 2004) nur strikte Rechtsansprüche auf Erteilung eines Aufenthaltstitels erfasst, die sich unmittelbar aus dem Gesetz ergeben und bei denen alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind (Rn. 29).

2. Zu den bedeutsamen Tatbestandsvoraussetzungen für einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gehört insbesondere auch die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (juris: AufenthG 2004), wonach im Regelfall kein Ausweisungsinteresse vorliegen darf (Rn. 35).

3. Der Aufenthalt im Bundesgebiet ohne den erforderlichen Pass oder Passersatz über einen Zeitraum von ca. vier Jahren stellt einen nicht geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften im Sinne von § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG (juris: AufenthG 2004) dar (Rn. 38)."

(Amtliche Leitsätze, unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 12.07.2018 - 1 C 16.17 - asyl.net: M26496)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Titelerteilungssperre, Ausländerstrafrecht, unerlaubte Einreise, Rechtsmissbrauch, Ausweisungsinteresse, Passlosigkeit, Reisepass, Passpflicht, Ausweisersatz, Anspruch, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen,
Normen: AufenthG § 10 Abs. 3 S. 3, AufenthG § 28 Abs. 1, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 54 Abs. 2 Nr. 9
Auszüge:

[...]

27 2. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist die Klage aber nicht begründet. Die Klägerin hat weder ab dem von ihr genannten Zeitpunkt (10. Oktober 2018) noch ab dem Zeitpunkt der Vorlage des Reisepasses bei der Beklagten am 26. Oktober 2018 einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG oder einen Anspruch auf Neubescheidung durch die Beklagte gehabt.

28 Einem solchen Anspruch stand die Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegen. [...]

29 a) Die Ausnahmeregelung in § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG erfasst nur strikte Rechtsansprüche auf Erteilung eines Aufenthaltstitels, die sich unmittelbar aus dem Gesetz ergeben und bei denen alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, weil nur dann der Gesetzgeber selbst eine Entscheidung über das zu erteilende Aufenthaltsrecht getroffen hat (BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2008 - 1 C 37.07 - juris Rn. 21; Beschluss vom 16. Februar 2012 - 1 B 22.11 - juris Rn. 4; Urteil vom 12. Juli 2016 - 1 C 23.15 - juris Rn. 21, m.w.N.; Urteil vom 26. Mai 2020 - 1 C 12.19 - juris Rn. 52; Beschluss des Senats vom 27. September 2012 - 2 O 208/11 - juris Rn. 6). [...]

35 b) Einen solchen strikten Rechtsanspruch hat die Klägerin jedenfalls bis zum Übergang der örtlichen Zuständigkeit der Ausländerbehörde durch den Umzug der Klägerin zu ihrem Ehemann nach A-Stadt im Sommer/Herbst 2019 nicht gehabt. Zu den bedeutsamen Tatbestandsvoraussetzungen für einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gehört insbesondere auch die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, wonach im Regelfall kein Ausweisungsinteresse vorliegen darf [...].

36 Nach dieser Regelung wiegt das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG schwer, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen oder außerhalb des Bundesgebiets eine Handlung begangen hat, die im Bundesgebiet als vorsätzliche schwere Straftat anzusehen ist.

37 aa) Die Klägerin hat den Straftatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erfüllt. Danach wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wer entgegen § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 48 Abs. 2 sich im Bundesgebiet aufhält. Nach § 3 Abs. 1 AufenthG dürfen Ausländer nur in das Bundesgebiet einreisen oder sich darin aufhalten, wenn sie einen anerkannten und gültigen Pass oder Passersatz besitzen, sofern sie von der Passpflicht nicht durch Rechtsverordnung befreit sind; für den Aufenthalt im Bundesgebiet erfüllen sie die Passpflicht auch durch den Besitz eines Ausweisersatzes (§ 48 Abs. 2). Die Klägerin hielt sich nach Abschluss ihres Asylverfahrens im Herbst 2012, für dessen Dauer der Ausweispflicht mit der Bescheinigung über die Aufenthaltsgestattung genügt wurde (vgl. § 64 Abs. 1 AsylG), vorwerfbar fast vier Jahre ohne Pass oder Ausweisersatz im Bundesgebiet auf. Der von ihr vorgelegte Pass wurde erst am 10. September 2016 ausgestellt (vgl. Beiakte C, Bl. IX). Dass sie von der Passpflicht befreit gewesen sein könnte, ist nicht ersichtlich. Sie war auch nicht im Besitz eines Ausweisersatzes. Gemäß § 48 Abs. 2 AufenthG genügt ein Ausländer, der einen Pass oder Passersatz weder besitzt noch in zumutbarer Weise erlangen kann, der Ausweispflicht mit der Bescheinigung über einen Aufenthaltstitel oder die Aussetzung der Abschiebung, wenn sie mit den Angaben zur Person und einem Lichtbild versehen und als Ausweisersatz bezeichnet ist. Die der Klägerin nach Beendigung des Asylverfahrens erteilten Duldungsbescheinigungen waren jeweils nicht als Ausweisersatz bezeichnet, vielmehr enthielten sie den Vermerk, dass die Inhaberin mit dieser Bescheinigung nicht der Pass- und Ausweispflicht genügt. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Klägerin die Beschaffung eines Passes unzumutbar gewesen sein könnte. Soweit das Verwaltungsgericht darauf abgestellt hat, die Klägerin habe der Beklagten mitgeteilt, dass sie ihren Pass nach Benin zur Urkundenprüfung versandt habe, und habe später den Verlust ihres Reisepasses gemeldet, der dann auch in der beninischen Botschaft abgegeben worden sei, betrifft dies den Zeitraum nach Ausstellung des Reisepasses (vgl. Schriftsatz vom 19. August 2017 [Beiakte B, Bl. 262] und E-Mail vom 27. November 2017 [Beiakte B, Bl. 309] sowie Schriftsatz vom 10. Februar 2018 [Beiakte B, Bl. 358]).

38 bb) Bei dem langjährigen Aufenthalt der Klägerin im Bundesgebiet ohne den erforderlichen Pass oder Passersatz handelt es sich um einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften im Sinne des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG.

39 Der Begriff der Geringfügigkeit erfordert eine wertende und abwägende Beurteilung, insbesondere der Begehungsweise, des Verschuldens und der Tatfolgen. Eine vorsätzlich begangene Straftat ist grundsätzlich nicht geringfügig im Sinne von § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. September 1996 - 1 C 9.94 - juris Rn. 20; Beschluss des Senats vom 28. Juli 2014 - 2 L 91/12 - juris Rn. 27; SächsOVG, Beschluss vom 28. Oktober 2020 - 3 B 324/19 - juris Rn. 10, m.w.N.). So stellen etwa die unerlaubte Einreise bzw. der unerlaubte Aufenthalt einen nicht geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften im Sinne dieser Regelung dar (Bauer/Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, AufenthG 12. Aufl. 2018, § 54 Rn. 80, m.w.N.). Gleiches gilt für den vorwerfbaren Aufenthalt im Bundesgebiet ohne den erforderlichen Pass oder Passersatz über einen nicht unerheblichen Zeitraum (BayVGH, Beschluss vom 4. Mai 2020 - 10 ZB 20.666 - juris Rn. 8 [knapp 6 Monate]; OVG NW, Beschluss vom 11. Januar 2019, a.a.O., Rn. 4 [über 20 Monate]). § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG setzt auch nicht voraus, dass der Ausländer wegen des Gesetzesverstoßes, der eine Straftat darstellt, verurteilt worden ist; erforderlich ist nur, dass sich der Rechtsverstoß aus den getroffenen Feststellungen ergibt (vgl. zu § 46 Nr. 2 AuslG 1990: BVerwG, Urteil vom 17. Juni 1998 - 1 C 27.96 - juris Rn. 30). Bei vorsätzlichen Straftaten kann es nur unter engen Voraussetzungen Ausnahmefälle geben, in denen der Rechtsverstoß als geringfügig zu bewerten ist. Als geringfügige Verstöße kommen grundsätzlich Straftaten in Betracht, die zu einer Einstellung wegen Geringfügigkeit nach § 153 Abs. 2 StPO geführt haben oder wenn besondere Umstände des Einzelfalls zu der Bewertung führen, dass es sich um einen geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften handelt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. November 2004 - 1 C 23.03 - juris Rn 22).

40 Gemessen daran handelt es sich bei dem Aufenthalt der Klägerin im Bundesgebiet ohne den erforderlichen Pass oder Passersatz um einen nicht geringfügigen Rechtsverstoß. Es handelt sich um eine Straftat, die die Klägerin vorsätzlich begangen hat. Nach bestandskräftiger Ablehnung ihres Asylantrages im Oktober 2012 forderte die Beklagte die Klägerin mehrfach auf, den erforderlichen Pass vorzulegen oder sich zu beschaffen. Gründe, die die Klägerin daran hinderten, bereits nach Abschluss des Asylverfahrens sich einen Pass oder Passersatz zu beschaffen sind nicht erkennbar. Umstände, die die nicht abgeurteilte Straftat der Klägerin als geringfügig erscheinen lassen könnten, liegen hier nicht vor. Dagegen spricht schon die lange Zeit des Aufenthalts im Bundesgebiet ohne den erforderlichen Pass oder Passersatz von ca. vier Jahren. 41 cc) Das Ausweisungsinteresse lässt sich hier jedenfalls auf generalpräventive Erwägungen stützen. Auch allein generalpräventive Gründe können ein Ausweisungsinteresse begründen (BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2018 - 1 C 16.17 - juris Rn. 16). Solche liegen hier vor. [...]

42 dd) Das Ausweisungsinteresse ist im hier streitigen Zeitraum von Oktober 2018 bis zum Wechsel der Zuständigkeit der Ausländerbehörde auch noch aktuell gewesen. [...]

44 Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 12. Juli 2018, a.a.O., Rn. 22 ff.) kann auch ein generalpräventiv begründetes Ausweisungsinteresse der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nur dann entgegenstehen, wenn es noch aktuell ist. Für die zeitliche Begrenzung eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses, das an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, ist für die vorzunehmende gefahrenabwehrrechtliche Beurteilung eine Orientierung an den Fristen der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung angezeigt. Dabei bildet die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, eine untere Grenze. Die obere Grenze orientiert sich hingegen regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB, die regelmäßig das Doppelte der einfachen Verjährungsfrist beträgt. Innerhalb dieses Zeitrahmens ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses anhand generalpräventiver Erwägungen zu ermitteln. Bei abgeurteilten Straftaten bilden die Tilgungsfristen des § 46 BZRG zudem eine absolute Obergrenze, weil nach deren Ablauf die Tat und die Verurteilung dem Betroffenen im Rechtsverkehr nicht mehr vorgehalten werden dürfen (§ 51 BZRG). [...]

47 Da das in Rede stehende Vergehen nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr geahndet werden kann, beträgt die einfache Verjährungsfrist drei Jahre, die absolute Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB sechs Jahre. Soweit davon auszugehen sein sollte, dass der Tatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erst mit der Vorlage des Reisepasses bei der Beklagten am 26. Oktober 2018 beendet war, würde die einfache Verjährungsfrist von drei Jahren erst im Oktober 2021 und die absolute Verjährungsfrist erst im Oktober 2024 ablaufen. Soweit man für die Beendigung der Tat nicht auf die Vorlage des Passes bei der (zuständigen) Ausländerbehörde, sondern auf den Besitz des Ausländers abstellt, wäre die Tat frühestens im September 2016 beendet gewesen, da der von der Klägerin vorgelegte Pass in diesem Monat ausgestellt wurde. Dann wäre die einfache Verjährungsfrist frühestens im September 2019 abgelaufen, die absolute Verjährungsfrist würde erst im September 2022 ablaufen. [...]