OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 20.01.2021 - 2 L 102/19 - asyl.net: M29885
https://www.asyl.net/rsdb/m29885
Leitsatz:

Absehen von der Voraussetzung der Lebensunterhaltssicherung und der Altersvorsorge bei der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis:

"1. Die Anwendung des § 9 Abs. 2 Satz 6 i.V.m. Satz 3 AufenthG (juris: AufenthG 2004) setzt in Bezug auf § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG (juris: AufenthG 2004) voraus, dass der Ausländer (nahezu) dauerhaft erwerbsgemindert ist, also - etwa aufgrund einer Krankheit - (nahezu) dauerhaft nicht in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt zu sichern (vgl. Beschluss des Senats vom 14. März 2019 - 2 L 120/16 - juris Rn. 19, m.w.N.) (Rn. 30).

2. Für die Frage, ob der Ausländer im Sinne von § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG (juris: AufenthG 2004) die Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG (juris: AufenthG 2004) aus den in § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG (juris: AufenthG 2004) genannten Gründen nicht erfüllen "kann", kommt es nicht darauf an, ob der Ausländer im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung aufgrund seiner Erkrankung oder Behinderung daran gehindert ist, künftig (weitere) Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung oder Aufwendungen für die private Altersvorsorge zu erbringen, sondern darauf, ob er aufgrund der Erkrankung oder Behinderung bis zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage gewesen ist, die erforderlichen 60 Monate Beiträge zur gesetz­lichen Rentenversicherung oder Aufwendungen für eine vergleichbare private Altersvorsorge zu leisten (Rn. 45)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Niederlassungserlaubnis, erwerbsfähig, Erwerbsminderung, Erwerbsunfähigkeit, Krankheit, Behinderung, Altersvorsorge, Rente, Rentenversicherungsbeitrag, Sicherung des Lebensunterhalts, atypischer Ausnahmefall, Kausalität,
Normen: AufenthG § 9 Abs. 2 S. 6, AufenthG § 9 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, AufenthG § 9 Abs. 2 S. 1 Nr. 2
Auszüge:

[...]

29 3. Der Klägerin kommt auch nicht die Ausnahmeregelung des § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG zugute, wonach von den Voraussetzungen des Satzes 1 Nr. 2 und 3 abgesehen wird, wenn der Ausländer diese aus den in Satz 3 genannten Gründen, mithin wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung, nicht erfüllen kann.

30 a) Es spricht allerdings Vieles dafür, dass sich die Klägerin in Bezug auf die Sicherung des Lebensunterhalts auf § 9 Abs. 2 Satz 6 i.V.m. Satz 3 AufenthG stützen kann. Die Anwendung dieser Vorschriften setzt in Bezug auf § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG voraus, dass der Ausländer (nahezu) dauerhaft erwerbsgemindert ist, also - etwa aufgrund einer Krankheit - (nahezu) dauerhaft nicht in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt zu sichern (vgl. Beschluss des Senats vom 14. März 2019 - 2 L 120/16 - juris Rn. 19, m.w.N.). Zur Bestimmung der krankheits- oder behinderungsbedingten Erwerbsunfähigkeit wird auf die sozialrechtlichen Bestimmungen über die (teilweise) Erwerbsunfähigkeit nach § 43 Abs. 1 Nr. 1 und Satz 2 bzw. Absatz 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI zurückgegriffen, wonach teilweise erwerbsgemindert derjenige ist, der wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein, und vollerwerbsgemindert derjenige ist, der wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (vgl. NdsOVG, Urteil vom 16. Juli 2020 - 13 LC 41/19 - juris Rn. 32; Müller, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, AufenthG § 9 Rn. 13; Dienelt, a.a.O., § 9 Rn. 93). Dabei bedeutet "auf nicht absehbare Zeit" länger als sechs Monate (Gürtner, in: Kasseler Kommentar zum Sozial - versicherungsrecht, § 43 SGB VI Rn. 25, unter Bezugnahme auf § 101 Abs. 1 SGB VI, wonach befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet werden, und BSG, Urteil vom 23. März 1977 - 4 RJ 49/76 - juris Rn. 16). Diesen rechtlichen Ansatz hält auch die Beklagte für zutreffend. [...]

43 b) Jedenfalls in Bezug auf das Erfordernis des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, dass der Ausländer mindestens 60 Monate Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet hat oder Aufwendungen für einen Anspruch auf vergleichbare Leistungen einer Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung oder eines Versicherungsunternehmens nachweist, greift die Ausnahmeregelung des § 9 Abs. 2 Satz 6 i.V.m. Satz 3 AufenthG nicht zugunsten der Klägerin.

44 Da das Absehen von der Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG gemäß § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG voraussetzt, dass der Ausländer diese "aus den in Satz 3 genannten Gründen" nicht erfüllen kann, ist erforderlich, dass die Krankheit oder Behinderung kausal ist für die Unmöglichkeit, den Nachweis der Altersvorsorge zu erbringen (vgl. Marx, in: GK-AufenthG II - § 9 Rn. 258).

45 Zutreffend ist das Verwaltungsgericht zwar davon ausgegangen, dass maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen des Ausnahmetatbestandes des § 9 Abs. 2 Satz 6 i.V.m. Satz 3 AufenthG der Zeitpunkt der  gerichtlichen Entscheidung ist. Für die Frage, ob der Ausländer im Sinne von § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG die Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG aus den in § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG genannten Gründen nicht erfüllen "kann", kommt es aber entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht darauf an, ob der Ausländer im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung aufgrund seiner Erkrankung oder Behinderung daran gehindert ist, künftig (weitere) Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung oder Aufwendungen für die private Altersvorsorge zu erbringen, sondern darauf, ob er aufgrund der Erkrankung oder Behinderung bis zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage gewesen ist, die erforderlichen 60 Monate Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung oder Aufwendungen für eine vergleichbare private Altersvorsorge zu leisten.

46 Aus der Formulierung im Präsens ("erfüllen kann") mag zwar für die Frage der Sicherung des Lebensunterhalts deutlich werden, dass die gegenwärtige Situation entscheidend ist bzw. der Zeitpunkt, ab dem die Niederlassungserlaubnis zugesprochen wird, und es insoweit nicht darauf ankommt, ob der Ausländer bereits in der Vergangenheit wegen Krankheit oder Behinderung an der Sicherung des Lebensunterhalts gehindert gewesen ist oder diesen aus anderen Gründen, namentlich wegen Versäumnissen hinsichtlich seiner Erwerbsobliegenheit, nicht gesichert hat (vgl. VG Aachen, Urteil vom 19. März 2014 - 8 K 1398/12 - juris Rn. 45 ff.; Müller, in: Hofmann NK-AuslR, 2. Aufl., § 9 Rn. 13). Auch mag die nach § 9 Abs. 2 Satz 6 i.V.m. Satz 3 AufenthG erforderliche Kausalität zwischen der krankheitsbedingten Erwerbsunfähigkeit und der fehlenden Unterhaltssicherung nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass der Ausländer in der Vergangenheit ggf. aus anderen Gründen - sei es wegen einer Verletzung der Erwerbsobliegenheit, sei es wegen fehlender Chancen am Arbeitsmarkt, sei es wegen einer bewussten Entscheidung zur Übernahme von Erziehungsaufgaben in der Familie - den Lebensunterhalt nicht sichergestellt hat. Dies lässt sich damit begründen, dass durch den späteren Eintritt der vollen Erwerbsminderung bzw. Erwerbsunfähigkeit wegen Krankheit und Behinderung eine von etwaigen früheren Gründen unabhängige neue Ursachenreihe eröffnet wurde, die den Ursachenzusammenhang zwischen den früheren Gründen und der fehlenden Unterhaltssicherung unterbricht und nunmehr allein ursächlich für die Nichterfüllbarkeit des Erfordernisses der Unterhaltssicherung ist (so VG Aachen, Urteil vom 19. März 2014, a.a.O., Rn. 51). Dafür spricht auch der Umstand, dass bei der Frage der Sicherung des Lebensunterhalts im Sinne des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG eine Prognose darüber anzustellen ist, ob der Lebensunterhalt des Ausländers in Zukunft auf Dauer ohne Inanspruchnahme anderer öffentlicher Mittel gesichert ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 10.12 - juris Rn. 13).

47 Diese Erwägungen lassen sich aber auf das Erfordernis der hinreichenden Altersvorsorge nicht übertragen. Der Ausländer "kann" die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG (im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung) nicht erfüllen, wenn er nicht mindestens 60 Monate Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung "geleistet hat" oder Aufwendungen für einen Anspruch auf vergleichbare Leistungen einer Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung oder eines Versicherungsunternehmens "nachweist". Anders als bei dem Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts ist insoweit keine in die Zukunft gerichtete Prognose anzustellen. Eine Krankheit oder Behinderung ist nur dann kausal für die Unmöglichkeit, den Nachweis der Altersvorsorge zu erbringen, wenn sie den Ausländer bereits vor dem maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung über seinen Erlaubnisantrag hinderte, die erforderlichen Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung oder Aufwendungen zur privaten Altersvorsorge zu leisten. [...]