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EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 12.05.2021 - C-505/19 WS gg. Deutschland - asyl.net: M29894
https://www.asyl.net/rsdb/m29894
Leitsatz:

Red Notice kann Einschränkungen des Freizügigkeitsrechts rechtfertigen:

1. Das Schengener Übereinkommen steht der Festnahme einer Person an den Binnengrenzen des Schengenraums auf eine Red Notice von Interpol nicht entgegen, es sei denn, diese Person wurde bereits in einem Mitgliedstaat wegen derselben Straftat, wegen der sie bei Interpol ausgeschrieben ist, verurteilt.

2. Die Übernahme und Verarbeitung von personenbezogenen Daten aus der Red Notice steht der EU-Datenschutzrichtlinie nicht entgegen, es sei denn, es droht eine Doppelbestrafung.

(Leitätze der Redaktion)

Schlagwörter: Interpol, Red Notice, Rote Ausschreibung, Schengener Durchführungsübereinkommen, Doppelverfolgung, Datenschutz, WS, Deutschland
Normen: SDÜ Art. 54, AEUV Art. 21, GR-Charta Art. 50,
Auszüge:

[...]

39 Das Verwaltungsgericht Wiesbaden hat das Verfahren daher ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Art. 54 SDÜ in Verbindung mit Art. 50 der Charta dahingehend auszulegen, dass bereits die Einleitung eines Strafverfahrens wegen derselben Tat in allen Vertragsstaaten untersagt ist, wenn eine deutsche Staatsanwaltschaft ein eingeleitetes Strafverfahren einstellt, nachdem der Beschuldigte bestimmte Auflagen erfüllt und insbesondere einen bestimmten, von der Staatsanwaltschaft festgesetzten Geldbetrag entrichtet hat?

2. Folgt aus Art. 21 Abs. 1 AEUV ein Verbot an die Mitgliedstaaten, Festnahmeersuchen von Drittstaaten im Rahmen einer Internationalen Organisation wie Interpol umzusetzen, wenn der von dem Festnahmeersuchen Betroffene Unionsbürger ist und der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, Bedenken an der Vereinbarkeit des Festnahmeersuchens mit dem Verbot der Doppelbestrafung der Internationalen Organisation und damit auch den übrigen Mitgliedstaaten mitgeteilt hat?

3. Steht Art. 21 Abs. 1 AEUV bereits der Einleitung von Strafverfahren und einer vorübergehenden Festnahme in den Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit der Betroffene nicht besitzt, entgegen, wenn diese im Widerspruch zum Verbot der Doppelbestrafung steht?

4. Sind Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 54 SDÜ und Art. 50 der Charta dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten zum Erlass von Rechtsvorschriften verpflichtet sind, die sicherstellen, dass im Falle eines zum Strafklageverbrauch führenden Verfahrens in allen Vertragsstaaten eine weitere Verarbeitung von Red Notices von Interpol, die zu einem weiteren Strafverfahren führen sollen, untersagt ist?

5. Verfügt eine internationale Organisation wie Interpol über ein angemessenes Datenschutzniveau, wenn ein Angemessenheitsbeschluss nach Art. 36 der Richtlinie 2016/680 und/oder geeignete Garantien nach Art. 37 der Richtlinie 2016/680 nicht gegeben sind?

6. Dürfen die Mitgliedstaaten Daten, die bei Interpol in einem Fahndungszirkular ("Red Notice") von Drittstaaten eingetragen worden sind, nur dann weiterverarbeiten, wenn ein Drittstaat mit dem Fahndungszirkular ein Festnahme- und Auslieferungsersuchen verbreitet und eine Festnahme beantragt hat, die nicht gegen Europäisches Recht, insbesondere das Verbot der Doppelbestrafung, verstößt? [...]

1. Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, das am 26. März 1995 in Kraft getreten ist, und Art. 21 Abs. 1 AEUV, jeweils in Verbindung mit Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, sind dahin auszulegen, dass sie der vorläufigen Festnahme einer Person, die Gegenstand einer auf Antrag eines Drittstaats von der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (Interpol) herausgegebenen Red Notice ist, durch die Behörden eines Vertragsstaats des am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen oder eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, es sei denn, mit einer in einem Vertragsstaat des genannten Übereinkommens oder in einem Mitgliedstaat ergangenen rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung wird festgestellt, dass die betreffende Person von einem Vertragsstaat des genannten Übereinkommens oder einem Mitgliedstaat wegen derselben Taten, auf die sich die Red Notice bezieht, bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist.

2. Die Vorschriften der Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates in Verbindung mit Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen und Art. 50 der Charta der Grundrechte sind dahin auszulegen, dass sie der Verarbeitung der in einer von der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (Interpol) herausgegebenen Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten nicht entgegenstehen, solange nicht mit einer in einem Vertragsstaat des am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen oder in einem Mitgliedstaat ergangenen rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung festgestellt worden ist, dass das Verbot der Doppelbestrafung bei den Taten, auf die sich die betreffende Red Notice bezieht, greift, und sofern die Verarbeitung der Daten die Voraussetzungen gemäß der Richtlinie (EU) 2016/680 erfüllt, insbesondere im Sinne von deren Art. 8 Abs. 1 für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich ist, die von der zuständigen Behörde wahrgenommenen wird. [...]