VG Karlsruhe

Merkliste
Zitieren als:
VG Karlsruhe, Beschluss vom 03.08.2021 - A 13 K 2227/21 - asyl.net: M29911
https://www.asyl.net/rsdb/m29911
Leitsatz:

Keine Dublin-Abschiebung nach Rumänien bei Einstellung des dortigen Erstverfahrens:

1. Nach rumänischem Asylverfahrensrecht können Schutzsuchende neun Monate nach Einstellung ihres Asylverfahrens das Erstverfahren nicht mehr fortführen, sondern nur noch einen Asylfolgeantrag stellen.

2. Folgeantragstellende sind in Rumänien von den im Rahmen der Aufnahme gewährten Leistungen unter Verstoß gegen Unionsrecht ausgeschlossen.

3. Ist eine schutzsuchende Person hiernach von staatlichen Leistungen ausgeschlossen, so ist vor dem Hintergrund der pandemiebedingten Verschlechterung der Wirtschaftslage genau zu prüfen, ob im Einzelfall eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vorliegend bejaht).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Rumänien, Asylfolgeantrag, Einstellung, Dublinverfahren, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Unionsrecht, Aufnahmebedingungen, Existenzminimum,
Normen: GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Die Zuständigkeit Rumäniens für die Prüfung des Asylantrags der Antragstellerin ist aber gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO entfallen. Gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitell II der Verordnung vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestlrnmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt. dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta - GRCh - mit sich bringen.

Zwar streitet gegen eine Verletzung von Art. 4 GRCh die im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems geltende Vermutung, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedsstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der EMRK steht. Die zur Widerlegung dieser Vermutung und zur Annahme systemischer Schwachstellen i.S.v. Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO führende besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedsstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihrer persönlichen Entscheidung in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, die mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, Urteil vom 19.03.2019- C-297/17 - juris Rn. 90).

Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit dürfte unter Berücksichtigung der individuellen Situation der Antragstellerin erreicht sein. Im Falle einer Rücküberstellung nach Rumänien könnte die Antragstellerin dort lediglich einen Folgeantrag stellen, da nach Einstellung ihres Asylverfahrens mehr als neun Monate vergangen sind (Art. 04 Abs. 1 lit. b, Abs. 2 und Art. 88 Abs. 1 des rumänischen Asylgesetzes). Dies hat eine im Vergleich zu Asylerstantragstellern nachteilige Rechtsstellung zur Folge. Folgeantragsteller sind von den im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen generell ausgeschlossen (AIDA, Country Report Romania, 2020 update, S. 94 mit Verweis auf Art. 88 des rumänischen Asylgesetzes).

Die dargestellte Praxis der fehlenden Unterbringung und materiellen Versorgung von Folgeantragstellern dürfte unionsrechtswidrig sein, den eine Leistungseinschränkung für Folgeantragsteller darf nur im Einzelfall in begründeten Ausnahmefällen erfolgen, Art. 20 Abs. 1 UAbs. 1 Buchst. c) RL 2013/33/EU (vgl. ausführlich VG Karlsruhe, Beschluss vom 03.03.2021 - A 19 K 406/21 -. juris und Urteil des VG Frankfurt (Oder) vom 17.06.2021- 10 K 97/21.A -, juris). Diese unionsrechtswidrige Verfahrenspraxis führt - unabhängig von der Frage, ob sie für sich genommen bereits einen systemischen Mangel im Sinne der früheren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urteile vom 21.12.2011- C-411/10 u.a., N.S. u. a. und vom14.11.2013 - C-4/11, Puid, juris) darstellt - im vorliegenden Einzelfall zu der Annahme, dass der Antragstellerin im Falle ihre Überstellung nach Rumänien dort eine Verletzung nach Art. 4 GRCh droht. Es wird der Antragstellerin bereits aufgrund ihrer multiplen nachgewiesenen Erkrankungen (Zervikaler Bandscheibenvorfall mit Rückenschmerzen, Hypertonus, Posttraumatische Belastungsstörung mit mittelgradiger depressiver Episode), ihres fortgeschrittenen Lebensalters und der fehlenden Sprachkenntnisse in Rumänien vermutlich nicht gelingen, ihren existentiellen Lebensunterhalt eigenständig sichern zu können. Das Gericht geht davon aus, dass diese Umstände die Chancen der Antragstellerin auf dem rumänischen Arbeitsmarkt, auf dem sie mit einer Vielzahl von rumänischen Arbeitssuchenden konkurrieren würde, erheblich beeinträchtigen werden. Die nach wie vor bestehenden massiven Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Wirtschaftslage Rumäniens und die sich dadurch verschlechterten Erwerbsaussichten für Arbeitssuchende dürften die Chancen der Antragstellerin noch weiter erheblich verschlechtern (so auch VG Sigmaringen, Urteil vom 19.02.2021 - A 13 K 183/19 -, juris). Die Antragstellerin verfügt darüber hinaus weder über ein familiäres Netzwerk noch über eine überdurchschnittliche Berufsqualifikation, die dies in irgendeiner Weise abfedern könnte. Der Antragstellerin droht daher im Falle ihrer Rücküberstellung nach Rumänien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Verelendung und damit die Verletzung von Art. 4 GRCh. [...]