VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 25.06.2021 - 11 A 38/20 - asyl.net: M29914
https://www.asyl.net/rsdb/m29914
Leitsatz:

Reiseausweis für Personen aus Eritrea mit subsidiärem Schutzstatus:

1. Die Entziehung aus dem eritreischen Nationaldienst und die daran anknüpfende Gefährdung von eines subsidiär Schutzberechtigten ist keine im materiellen Kern mit der eines Flüchtlings nach der GFK vergleichbare Situation.

2. Die Leistung der sogenannten Diaspora-Steuer ist eritreischen Staatsangehörigen, die im Ausland leben, zumutbar.

3. Die Passbeschaffung ist eritreischen Staatsangehörigen unzumutbar, da für die konsularische Dienstleistung der eritreischen Auslandsvertretung eine sogenannte Reueerklärung Voraussetzung ist, wenn die betroffene Person Eritrea illegal verlassen hat. Die Pflicht zur Abgabe einer solchen Erklärung ist aufgrund der hierin enthaltenen indirekten Selbstbezichtigung einer Straftat mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nicht vereinbar.

(Leitsätze der Redaktion; entgegen OVG Niedersachsen, Urteil vom 18.03.2021 - 8 LB 97/20 - asyl.net: M29586)

Schlagwörter: Eritrea, subsidiärer Schutz, Passpflicht, Passbeschaffung, Zumutbarkeit, Reiseausweis für Ausländer, Unzumutbarkeit, Nationalpass, Aufbausteuer, ernsthafter Schaden, Reueerklärung, allgemeines Persönlichkeitsrecht, Menschenwürde,
Normen: AufenthV § 5 Abs. 1, GG Art. 2 Abs. 1, GG Art. 1
Auszüge:

[...]

Nach § 5 Abs. 1 AufenthV kann einem Ausländer, der nachweislich keinen Pass oder Passersatz besitzt und ihn nicht auf zumutbare Weise erlangen kann, nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt werden. Nach § 6 Satz 1 Nr. 1 Var. 1 AufenthV darf im Inland ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt werden, wenn der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis besitzt. [...]

Dieser auf eine Einzelfallprüfung abstellende Maßstab gilt auch für Personen mit einem subsidiären Schutzstatus. Die generelle Unzumutbarkeit einer Vorsprache bei der Auslandsvertretung zum Zwecke der Passbeschaffung folgt weder aus der Stellung als subsidiär Schutzberechtigter noch aus§ 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Nach§ 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylG erlischt die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, wenn der Ausländer sich freiwillig durch die Annahme oder Erneuerung eines Nationalpasses dem Schutz des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, unterstellt. [...]

1. Diese Unzumutbarkeit folgt aber weder aus einem wertenden. Vergleich der Fluchtgründe des subsidiär geschützten Klägers mit der Situation eines anerkannten Flüchtlings, noch aus einer Bedrohung des Klägers oder seiner Angehörigen im Falle des Besuches der Botschaft oder der Verpflichtung zur Zahlung der sog. Diaspora- bzw. Aufbausteuer.

Die Entziehung aus dem eritreischen Nationaldienst und die daran anknüpfende Gefährdung des Klägers ist keine im materiellen Kern und vom Ergebnis her mit der eines Flüchtlings vergleichbare Situation. [...]

Auch die Verpflichtung zur Zahlung der sog. Diaspora- bzw. Aufbausteuer, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme konsularischer Dienstleistungen ist, führt nicht zu einer Unzumutbarkeit. Die Leistung dieser Steuer ist zumutbar. [...]

2. Die Unzumutbarkeit der Passbeschaffung folgt indes aus der mit der Beantragung konsularischer Dienstleistungen einhergehenden Selbstbezichtigung einer Straftat im Rahmen der sogenannten "Reueerklärung".

Als Reueformular bzw. Reueerklärung („letter of regret“) wird das von den eritreischen Auslandsvertretungen vorgehaltene Formular "B4/4.2" (,,Immigration and Citizenship Services request form“) bezeichnet (Abdruck des eritreischen Originalformulars sowie englischer Übersetzungen bei UN Security Council, Letter dated 11 July 2012 concerning Somalia and Eritrea, 13.07.2012, UN-Doc. S/2012/545 - im Folgenden: UNSC, UN-Doc. S/2012/545 -, S. 62 f., sowie Tilburg University, The 2% Tax, Appendix). Der auszufüllende Vordruck besteht aus insgesamt 15 Punkten, die Angaben zur Person (Name, Geburtsort/-datum etc.), zur Ausreise aus Eritrea (Ausreisegründe, -ort und -datum), zu Zwischenaufenthalten in anderen Staaten, zum derzeitigen Aufenthalt (aktuelle berufliche Tätigkeit, aktuelle Anschrift) sowie zu den von dem Betroffenen nach Verlassen des Landes erfüllten "nationalen Verpflichtungen" ("national Obligations") umfassen. Mit seiner Unterschrift hat der Erklärende nach dem Wortlaut der als Anlage zu der Studie der Universität Tilburg beigegebenen englischen Übersetzung des Formulars neben der Richtigkeit seiner Angaben abschließend zu bestätigen, dass er bereue, einen Gesetzesverstoß begangen zu haben, indem er seine nationalen Verpflichtungen nicht erfüllt habe, und dass er bereit sei, die dafür gegebenenfalls verhängten angemessenen Maßnahmen zu akzeptieren ("that I regret having committed an offence by failing to fulfill my national obligation and that I am willing to accept the appropriate measures when decided"). Die seitens des UN-Sicherheitsrates veröffentlichte Übersetzung unterscheidet sich davon insoweit; als darin nicht auf die Nichterfüllung nationaler Verpflichtungen, sondern auf die Nichtableistung des Nationaldienstes Bezug genommen wird (VG Hannover, Urteil vom 20. Mai 2020 - 12 A 2452/19 -, juris Rn. 34). Bei der dem Auswärtigen Amt bekannten Fassung der Reueerklärung handelt es sich um einen Passus (zwei Sätze), in dem der Erklärende bedauert, seiner nationalen Pflicht nicht nachgekommen zu sein und erklärt, eine eventuell dafür verhängte Strafe zu akzeptieren (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea in der Fassung vom 25.02.2021, S. 26).

Inhalt der Reueerklärung ist nach alledem indirekt die Selbstbezichtigung einer Straftat, da der Erklärende sich - zugleich mit dem Ausdruck der Reue - selbst bezichtigt, eine Straftat begangen zu haben, für die er eine Strafe akzeptiert. Eine derartige, gegen den eigenen Willen, abzugebende Selbstbezichtigung einer Straftat, ist mit dem aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG folgenden allgemeinen Persönlichkeitsrecht nicht vereinbar. [...]

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht beinhaltet den Schutz vor Selbstbezichtigung. Mit ihm und der zu schützenden Würde eines Menschen ist eine Pflicht zur Selbstbelastung nicht vereinbar (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 22. Oktober 1980-2 BvR 1172/79, 2 BvR 1238/79 -, juris Rn. 17, vom 13. Januar 1981 -1 BvR 116/77-, juris Rn. 18, vom 26. Februar 1997 -1 BvR 2172/96 -, juris Rn. 82; Hillgruber in Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz 47. Edition Stand: 15.05.2021, Art. 1 GG Rn. 37). Der Einzelne soll vom Staat grundsätzlich nicht in eine Konfliktlage gebracht werden, in der er sich selbst strafbarer Handlungen oder ähnlicher Verfehlungen bezichtigen muss (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 1997 - 1 BvR 21171/96-, juris Rn. 82). Der Schutz gegen Selbstbezichtigungen beschränkt sich nicht auf strafrechtliche und vergleichbare Verfahren (BVerfG, Beschluss vom 13. Januar. 1981 - 1 BvR 116/77 -, juris Rn. 19).

Zwar können zum Schutz gewichtiger Belange Dritter oder der Allgemeinheit auch zur Selbstbelastung führende Aussagen verlangt werden, jedoch nur dann, wenn sie nicht zu Zwecken der Strafverfolgung verwendet werden dürfen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.01.1981 - 1 BvR 116/77 -, juris Rn. 27).

Nach diesen Maßstäben ist eine Verpflichtung, gegen den eigenen Willen die sog. Reueerklärung zu unterzeichnen, mit dem verfassungsrechtlichen Schutz vor Selbstbezichtigung nicht vereinbar.

Dabei ist unerheblich, dass sich die rechtliche Position der Betroffenen in Eritrea durch die Unterzeichnung gegebenenfalls nicht verschlechtern würde (vgl. Antwort der Bundesregierung .vom 09.05.2018 auf eine kleine Anfrage, .BT -Drs. 19/2075, S. 6; VG Hannover, Urteil vom 20. Mai 2020 - 12 A 5005/18 -, juris Rn. 42; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea in der Fassung vom 25.02.2021, S. 27). Denn Gegenstand der Prüfung des Allgemeinen Persönlichkeitsrecht ist im Kontext von Selbstbezichtigungen nicht, inwiefern sich die rechtliche oder tatsächliche Position durch Abgabe von Erklärungen verändert (VG Hannover, Urteil vom 20. Mai 2020-12 A 2452/19-, juris Rn. 40). Unerheblich ist ebenfalls, ob die Erklärung zutreffend ist oder der Erklärende unwahre Aussagen über seine persönlichen Verhältnisse abgibt. Erforderlich, aber auch ausreichend, ist einzig, dass es sich bei der Reueerklärung um eine Erklärung im Zusammenhang mit der Verfolgung einer strafbaren Handlung handelt, derer sich der Betroffene entgegen seiner eigenen Überzeugung und seinem inneren Willen aufgrund einer staatlichem Handeln zurechenbaren Zwangslage bezichtigt. [...]

Weigert sich der Ausländer, gegenüber der eritreischen Botschaft die verlangte Erklärung, die eine Selbstbezichtigung einer Straftat beinhaltet, abzugeben und wird ihm deshalb ein Reiseausweis vorenthalten, stellt dies einen faktischen bzw. mittelbaren Eingriff dar, der auch unter Berücksichtigung der Passhoheit des eritreischen Staates nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist (VG Hannover, Urteil vom 20. Mai 2020 - 12 A 5005/18 -, juris Rn. 40).

Die Kammer folgt insoweit nicht den Wertungen der Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht vom 18. März 2021. Soweit das Oberverwaltungsgericht darin die Bedeutung der Reueerklärung zu relativieren versucht (OVG Lüneburg, Urteil vom 18. März 2021 - 8 LB 97/20 -, juris Rn. 581), vermag sich die Kammer dem nicht anzuschließen. Unklar bleibt bereits, ob das Oberverwaltungsgericht einen Eingriff verneint oder diesen für gerechtfertigt hält. Es führt zwar aus, dass der Schutzbereich berührt sei, verneint eine Grundrechtsverletzung dann aber mit dem Verweis darauf, dass sich aus den weiteren Umständen ergebe, dass Abgabe und Entgegennahme der Erklärung mit einer geringen Ernsthaftigkeitserwartung einhergingen und dass die tatsächlichen Folgen dem Erklärungsinhalt widersprechen. Deswegen sei nicht nur die Belastung durch die Abgabe der Reueerklärung und deren Folgen gering, der Erklärungsinhalt werde auch nicht als kennzeichnend für die Persönlichkeit des Erklärenden verstanden. Soweit damit ein Eingriff in den Schutzbereich verneint werden soll, ist dieser Teil der Entscheidung widersprüchlich. Soweit die fehlende Ernsthaftigkeitserwartung als Rechtfertigung herangezogen werden soll, ist dem entgegenzuhalten, dass sich der Schutz vor Selbstbezichtigungen nicht daran orientiert, ob und welche Konsequenzen aus der Selbstbezichtigung abgeleitet werden, sondern - wie oben ausgeführt - ob sich der Betroffene entgegen seiner eigenen Überzeugung und seinem inneren  Willen aufgrund einer staatlichem Handeln zurechenbaren Zwangslage selbst einer Straftat bezichtigt. Im Übrigen hegt die Kammer auch Zweifel daran, dass der eritreische Staat der Reueerklärung keine ernsthafte Bedeutung bemisst. Denn er macht sie jedenfalls erkennbar zur Bedingung für die Inanspruchnahme konsularischer Leistungen. Ob die von dem Oberverwaltungsgericht vorgenommene Aufteilung der Reueerklärung in selbstbelastendes Schuldeingeständnis einerseits und die Erklärung von Reue als solcher andererseits möglich ist, kann aus Sicht der Kammer dahinstehen. Soweit das Oberverwaltungsgericht davon ausgeht, dass angesichts der Vielzahl an eritreischen Staatsangehörigen, die vor den Menschenrechtsverletzungen in ihrem Land fliehen, nicht davon auszugehen sei, dass diese ernsthaft ihre Flucht und Entziehung von Nationaldienst bereuen, mag dies der Ernsthaftigkeit der Reue entgegenstehen. An der grundrechtlichen Wertung des unstreitig vorhandenen Schuldeingeständnisses ändert dies jedoch ebenso wenig wie die Verweis darauf, dass die Unterzeichnung des gesamten Passus eine dem Wortlaut gegenteilige Wirkung habe und das Bestrafungsrisiko senke (OVG Lüneburg, Urteil vom 18. März 2021 - 8 LB 97/20 -, juris Rn. 59). Diesbezüglich ist aus Sicht der Kammer abermals in den Blick zu nehmen, dass der durch das Persönlichkeitsrecht vermittelte Schutz vor Selbstbezichtigung nicht etwaige nachteilige tatsächliche Folgen einer Erklärung abwehren soll, sondern dem Schutz des Geltungsanspruchs der Erklärenden dient, die sich - ungeachtet der Frage, ob sich die Erklärung in ihrer Folge für sie positiv auswirkt - zu einer Erklärung gezwungen sehen, die nicht ihrem tatsächlichen Willen entspricht. Im Übrigen ist anzumerken, dass sich auch Einlassungen von Angeklagten im Strafprozess strafmindernd auswirken können, ohne dass daraus abgeleitet würde, diese positive Wirkung lasse den Eingriffscharakter einer (mittelbar) erzwungenen Selbstbezichtigung entfallen.

Für die Entscheidung des konkreten Falles kommt es sodann darauf an, ob der Betroffene freiwillig die Reueerklärung abgeben will, denn das Allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt - außerhalb seines unantastbaren Wesensgehalts, Art. 19 Abs. 4 GG (BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 1973 -, juris Rn. 30) - nur vor erzwungenen Selbstbezichtigungen, nicht hingegen vor freiwilligen Schuldeingeständnissen. Kann dem Vorbringen des Klägers entnommen werden, dass er zur Unterzeichnung der Reueerklärung im Rahmen seiner autonomen Selbstbestimmung bereit ist, ist die Klage abzuweisen. Anders stellt es sich dar, wenn sich der Kläger aus Gründen der Wahrung seiner persönlichen Integrität und Werten weigert, die Reueerklärung zu unterzeichnen. Dann kann er einen eritreischen Pass nur auf unzumutbare Weise - nämlich unter Aufgabe seines persönlichen Geltungsanspruchs - erlangen. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthV sind dann erfüllt. [...]