Rechtmäßige Rücknahme der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eines yezidischen Mannes aus dem Irak:
"1. Weder nationale noch unionsrechtliche Erwägungen stehen der Anwendung von § 48 VwVfG auf Fälle der Rücknahme der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen ursprünglich rechtsirriger Annahme des Vorliegens der Erteilungsvoraussetzungen seitens des Bundesamts entgegen.
2. Das über die Rechtmäßigkeit der Rücknahmeentscheidung befindende Gericht muss sich tatrichterlich davon überzeugen, dass die ursprüngliche Entscheidung des Bundesamts zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft objektiv rechtswidrig war. Maßgeblicher Zeitpunkt für diese Bewertung ist jener der Entscheidung des Bundesamts über den Asylantrag (Zeitpunkt des Ausgangsbescheids).
3. Die Jahresfrist des §§ 48 Abs. 4 VwVfG beginnt erst zu laufen, wenn die Behörde (hier: das Bundesamt) Kenntnis von dem die Rücknahmeentscheidung tragenden Rechtswidrigkeitsgrund erlangt hat. Sie beginnt nicht bereits dann zu laufen, wenn die Behörde Kenntnis von anderen, die Rechtswidrigkeit der Ausgangsentscheidung möglicherweise anderweitig begründenden Umständen erlangt hat, auf die sie die Rücknahmeentscheidung im Ergebnis allerdings nicht gestützt hat."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
23 1. Die auf § 48 VwVfG gestützte Rücknahme der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erweist sich im Ergebnis als rechtmäßig.
24 a) Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 48 VwVfG.
25 Dessen Anwendbarkeit ist weder grundsätzlich durch § 73 Abs. 2 AsylG gesperrt (dazu aa)), noch im konkreten Fall ausgeschlossen (dazu bb)) und auch europarechtliche Implikationen stehen seiner Anwendung vorliegend nicht entgegenstehen (dazu cc)). [...]
28 bb) § 48 Abs. 1 VwVfG ist auch im konkreten Fall tatbestandlich eröffnet.
29 So hat das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 19.09.2000 - 9 C 12/00 – BVerwGE 112, 80 - juris Rn. 22) als von § 48 VwVfG erfasste Fallgruppe gerade auch Konstellationen im Blick gehabt, "in denen die Anerkennung aus nicht dem Asylsuchenden zuzurechnenden Gründen - etwa wegen einer falschen Einschätzung der Gefährdungslage oder rechtsirriger Annahme der Anerkennungsvoraussetzungen seitens des Bundesamts - von Anfang an rechtswidrig" war.
30 So liegt der Fall hier. Wie das Bundesamt unter Auseinandersetzung mit dem seinerzeitigen Vermerk des Sachbearbeiters substantiiert dargelegt hat, ging der damalige Sachbearbeiter davon aus, dass der Kläger nicht über familiäre oder verwandtschaftliche Beziehungen in den kurdischen Gebieten des Nordiraks verfügt, was impliziert, dass er selbst von dort nicht stammt und diese beiden Umstände nach der damaligen hausinternen Weisungslage einer Positiventscheidung zur Flüchtlingseigenschaft entgegengestanden hätten. Mithin liegt eine rechtsirrige Annahme der Anerkennungsvoraussetzungen seitens des Bundesamts und damit eine Sachverhaltskonstellation vor, bei der das Bundesverwaltungsgericht in der zitierten Entscheidung den Anwendungsbereich von § 48 VwVfG als eröffnet erachtet hat.
31 Diese Einschätzung des Bundesamts ist nach der tatrichterlichen Würdigung des erkennenden Einzelrichters auch der Sache nach korrekt. Der Anwendungsbereich von § 48 VwVG FG ist nur eröffnet, wenn der ursprüngliche Verwaltungsakt in seinem Sachausspruch objektiv rechtswidrig war/ist (vgl. BeckOK VwVfG/J. Müller, 51. Ed. 1.4.2021, VwVfG § 48 Rn. 29). Dies ist vorliegend der Fall. Denn zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Asylantrag des Klägers im Mai 2016 bestand für diesen nach dem seinerzeit zugrundezulegenden Sachverhalt keine objektiv begründete Verfolgungsfurcht und lagen daher die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft objektiv nicht vor. [...]
37 Nach alledem stellt sich die ursprüngliche Entscheidung des Bundesamts, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, als objektiv rechtswidrig dar.
38 cc) Auch Unionsrecht steht einem Rückgriff auf den allgemeinen, nicht asylrechtsspezifischen Rücknahmetatbestand des § 48 VwVfG nicht entgegen. Eine Rücknahme ist dabei nur zugelassen, soweit das Unionsrecht in Verbindung mit der Genfer Flüchtlingskonvention eine "Aberkennung, Beendigung oder Ablehnung der Verlängerung der Flüchtlingseigenschaft" erlaubt (Art. 14 RL 2011/95). Der mit der Asylanerkennung oder der Flüchtlingseigenschaft verbundene spezielle Status des Flüchtlings darf nach der Genfer Konvention nur unter eingeschränkten Voraussetzungen wieder entzogen werden. Die Anwendung des allgemeinen Rücknahmetatbestands des § 48 VwVfG muss sich daher in diesem von der Qualifikationsrichtlinie vorgegebenen Rahmen halten. Dies ist vorliegend der Fall.
39 Gem. Art. 14 Abs. 2 QRL weist der Mitgliedstaat, der ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, in jedem Einzelfall nach, dass die betreffende Person gemäß Absatz 1 dieses Artikels nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist. Gem. Art. 14 Abs. 1 QRL erkennen die Mitgliedstaaten einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen die von einer Regierungs- oder Verwaltungsbehörde, einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Behörde zuerkannte Flüchtlingseigenschaft ab, beenden diese oder lehnen ihre Verlängerung ab, wenn er gemäß Artikel 11 nicht länger Flüchtling ist. Gem. Art. 11 Abs. 1 lit. e) QRL ist ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser nicht mehr Flüchtling, wenn er nach Wegfall der Umstände, aufgrund derer er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.
40 Insbesondere die Formulierung in Art. 14 Abs. 2 a. E. ("es nie gewesen ist") impliziert, dass die QRL der materiellen Richtigkeit allgemein den Vorrang gegenüber der Bestandskraft und dem Vertrauensschutz einräumt und die Korrektur bereits ursprünglich falscher Zuerkennungsentscheidungen zulässt. Insbesondere diese spricht dafür, dass das Regelungsregime des § 48 VwVfG im Falle unrichtiger Annahme der Erteilungsvoraussetzungen und nachträglichem Bekanntwerden dieses Irrtums – von einem Fehlverhalten des Asylsuchenden unabhängig – die Aberkennung/Beendigung/Nichtverlängerung tatbestandlich erfassen kann, weil diese Fallkonstellation von § 73 Abs. 2 AsylG nicht mit umfasst ist. Die Vorgehensweise des Bundesamts, § 48 VwVfG auf Fälle wie den vorliegenden anzuwenden, erweist sich daher als sich im Rahmen der Qualifikationsrichtlinie bewegend und mithin europarechtskonform.
41 b) Das Bundesamt hat das ihm in § 48 Abs. 1 VwVfG zugewiesene Rücknahmeermessen auch fehlerfrei (§ 114 Satz 1 VwGO) ausgeübt.
42 Zunächst ist die gem. § 48 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 Satz 1 VwVfG gültige Jahresfrist für den Ausspruch der Rücknahmeentscheidung vorliegend gewahrt (zur Systematik des § 48 Abs. 1 Satz 2 VwVfG vgl. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, 9. Aufl. 2018, VwVfG: § 48 Rn. 110). Die Vorschrift ist auch auf Fälle anwendbar, in denen – wie hier – die Behörde bei voller Kenntnis des entscheidungserheblichen Sachverhalts unrichtig entschieden hat und nachträglich erkennt, dass sie den beim Erlass des begünstigenden Verwaltungsaktes vollständig bekannten Sachverhalt unzureichend berücksichtigt oder unrichtig gewürdigt hat (vgl. BeckOK VwVfG/J. Müller, 51. Ed. 1.4.2021, VwVfG § 48 Rn. 108 mit Verweis auf BVerwG, Beschluss vom 19.12.1984 - Gr. Sen. 1/84, 2/84 - NJW 1985, 819; kritisch hierzu Schoch, in: Schoch/Schneider, VwVfG § 48 Rn. 238-240).
43 Die Jahresfrist ist vorliegend auch (noch) gewahrt. Zwar wurde das Aufhebungsverfahren bereits im Februar 2017 eingeleitet. Hintergrund dieser Einleitung war seinerzeit jedoch die Rückreise des Klägers in sein Heimatland und (noch) nicht die Erkenntnis, dass der ursprüngliche Bundesamtsbescheid irrig davon ausging, dass der Kläger aus einem vom IS kontrollierten Gebiet stammte. Allein hierauf kommt es aber an und nicht darauf, dass ggf. andere Rechtswidrigkeitsgründe die Rücknahme der Ausgangsentscheidung etwaig auch hätten rechtfertigen können. Denn der Umstand der Rückreise des Klägers in den Nordirak hätte allenfalls den Widerruf, nicht aber die Rücknahme des Ausgangsbescheids rechtfertigen können. Davon ging auch das Bundesamt in seinem Prüfvermerk vom 12.11.2018 aus. Hinzu kommt, dass beide Umstände (Rückreise in das Heimatland und Erkenntnis der rechtsirrigen Ausgangsentscheidung) Kategorie eine unterschiedliche Lebenssachverhalte betreffen. Im ersten Fall handelt es sich um eine sich erst nach der Ausgangsentscheidung ergebende Tatsache, bei zweiterem hingegen um einen schon zum Zeitpunkt der Ausgangsentscheidung bestehenden Rechtsanwendungsfehler. Kommen zwei so unterschiedliche Anknüpfungspunkte für eine Aufhebungsentscheidung in Betracht, beginnt die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG gesondert für jeden einzelnen Lebenssachverhalt zu laufen. [...]
45 Auch im Übrigen erweist sich die Rücknahmeentscheidung des Bundesamts als ermessensgerecht. Auch über § 48 Abs. 2-4 VwVG hinaus hat das Bundesamt – wie vorliegend geschehen – im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens zwischen dem öffentlichen Interesse an materieller Rechtmäßigkeit von Verwaltungsentscheidungen und dem individuellen Interesse am Bestand der rechtskräftigen Entscheidung (Vertrauensschutz) abzuwägen (BeckOK VwVfG/J. Müller, 51. Ed. 1.4.2021, VwVfG § 48 Rn. 38): In Auseinandersetzung mit dem zu beurteilenden Einzelfall hat die Behörde insbesondere die Zumutbarkeit der durch die beabsichtigte Rücknahme für den Betroffenen und ggf. für Dritte eintretenden Situation sowie seit Erlass des Verwaltungsaktes unter Umständen eingetretene Änderungen der Sach- oder Rechtslage zu würdigen und die widerstreitenden Interessen mit Blick auf die Auswirkungen der Rücknahme in dem konkret zur Entscheidung anstehenden Einzelfall gegeneinander abzuwägen.
46 Diesem Abwägungsvorgang ist das Bundesamt im angegriffenen Bescheid in nicht zu beanstandender Weise gerecht geworden. Es hat die berechtigten Interessen des Klägers am Fortbestand seines Status (Vertrauensschutz, Aufenthaltsverfestigung) abstrakt ermittelt und konkret gewürdigt. Auch nach dem Eindruck der mündlichen Verhandlung erscheint es vertretbar und damit nicht zu beanstanden, dass das Bundesamt nicht von einer Aufenthaltsverfestigung des Klägers in Deutschland ausgeht. Dieser verfügt zwar seit nunmehr zwei Jahren über eine feste Vollzeitanstellung. Darüber hinausgehende, überdurchschnittliche Integrationsleistungen sind hingegen nicht ersichtlich. Die Rückreise in das Heimatland angesichts des drohenden Ablebens des Vaters belegt zudem eine weiterhin bestehende enge Bindung an die im Heimatland verbliebene Familie. Hiervon zeugt zugleich die monatliche finanzielle Unterstützung derselben. [...]
49 Wenngleich das vom Bundesamt angeführte öffentliche Interesse weitgehend abstrakt begründet wurde, erscheint es gleichwohl nicht ermessensfehlerhaft, dass sich dieses im Ergebnis im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung durchsetzt. Denn dem Interesse an der Korrektur unrechtmäßiger Verwaltungsentscheidungen – auch unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung – kommt schon abstrakt ein hohes Gewicht zu. Darüber hinausgehender, individueller Umstände zur Verstärkung desselben bedarf es nicht. Solche wären auch schwerlich zu begründen. [...]