VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 10.06.2021 - A 8 K 7088/17 - asyl.net: M29935
https://www.asyl.net/rsdb/m29935
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für vierjähriges Kind aufgrund schlechter Aufnahmebedingungen in Kosovo:

1. Beschränken sich die familiären Verbindungen im Wesentlichen auf formal-rechtliche Beziehungen, da die Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen Eltern und Kind nicht derart wahrgenommen wird, dass das Kind allein in der Obhut der Eltern aufwachsen kann, ist aufgrund der nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK geforderten realitätsnahen Betrachtung der Rückkehrsituation eines Familienverbands auf eine Rückkehr des Kindes ohne elterliche Fürsorge abzustellen (unter Bezug auf vgl. BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18 - Asylmagazin 8/2019, S. 311 f. - asyl.net: M27530).

2. Für besonders vulnerable Personengruppen wie unbegleitete Kinder gibt es nur sehr notdürftige Unterstützung. Der Zugang zu Sozialleistungen ist stark eingeschränkt und es gibt nur eine Notunterkunft allein für Kinder in Pristina, andere Einrichtungen nehmen Kinder nur gemeinsam mit ihren rückkehrenden Müttern auf. Auch sonstige Unterbringungsmöglichkeiten sind entweder nicht vorhanden oder nur schwer zugänglich.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Kindeswohl, Kosovo, besonders schutzbedürftig, minderjährig, Abschiebungsverbot,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

[...]

I.
22 Die Klägerin hat – bei einer Gesamtwürdigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Kosovo sowie der persönlichen Umstände der Klägerin – einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots auf der Grundlage von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK hinsichtlich Kosovo. [...]

28 2. Nach diesen Maßstäben sind die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK bei der Klägerin unter dem Blickwinkel der humanitären Verhältnisse in Kosovo erfüllt. Ein hierfür verantwortlicher Akteur ist zwar nicht feststellbar, so dass von vornherein nur die zweite der dargestellten Fallgruppen in Betracht kommt, d.h. ein ganz außergewöhnlicher Fall prekärer Lebensbedingungen vorliegen muss. Dies ist in der besonderen Situation der Klägerin der Fall, die in mehrfacher Hinsicht einem besonders vulnerablen Personenkreis angehört.

29 a) Bei der nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gebotenen realitätsnahen Betrachtung der Rückkehrperspektive ist zunächst prognostisch davon auszugehen, dass die Klägerin als unbegleitetes Kleinkind bzw. als Kleinkind ohne elterliche Fürsorge in den Kosovo zurückkehren würde.

30 (1) Der Prognose, welche Gefahren einem Ausländer bei Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen, ist eine – zwar notwendig hypothetische, aber doch – realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen. Lebt der Ausländer in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, ist hiernach für die Bildung der Verfolgungsprognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen. Art. 6 GG gewährt zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt, enthält aber als wertentscheidende Grundsatznorm, dass der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, und gebietet die Berücksichtigung bestehender familiärer Bindungen bei staatlichen Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung. Bereits für die Bestimmung der voraussichtlichen Rückkehrsituation  st daher im Grundsatz davon auszugehen, dass ein nach Art. 6 GG/Art. 8 EMRK besonders schutzwürdiger Familienverband aus Eltern mit ihren minderjährigen Kindern nicht aufgelöst oder gar durch staatliche Maßnahmen zwangsweise getrennt wird. Die Mitglieder eines solchen Familienverbands werden im Regelfall auch tatsächlich bestrebt sein, ihr – grundrechtlich geschütztes – familiäres Zusammenleben in einem Schutz- und Beistandsverband entweder im Bundesgebiet oder im Herkunftsland fortzusetzen.

31 Diese Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Verfolgungsprognose setzt eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-)besteht und infolgedessen die Prognose rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden (BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18 -, juris Rn. 17 f.). Davon ist nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Regelfall auch dann auszugehen, wenn einzelnen Familienmitgliedern bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist (BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18 -, juris Rn. 16 ff.). Die Feststellung einer "Kernfamilie" hängt dabei nicht vom rechtlichen Status der Verbindung der Eltern ab (VG Düsseldorf, Urteil vom 10.08.2020 - 20 K 9576/18.A -, juris). Nach dieser Rechtsprechung genügen allerdings allein rechtliche Beziehungen (wie über ein gemeinsames Sorgerecht) nicht; erforderlich ist vielmehr eine tatsächlich gelebte familiäre Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. Maßgeblich für die erforderliche Gefahrenprognose sind zudem stets die konkreten Umstände des Einzelfalles, etwa Unterhaltspflichten gegenüber Familienangehörigen und deren Bedarf, das Vorhandensein von Vermögen, die bisherige Form der Bedarfsdeckung sowie die Bereitschaft Dritter, erforderlichenfalls zur Bedarfsdeckung beizutragen (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 07.05.2020 - A 11 S 2277/19 -, juris).

32 Nichts Anderes kann im umgekehrten Fall gelten, wenn sich die familiären Bande im entscheidungserheblichen Zeitpunkt im Wesentlichen auf formal-rechtliche Beziehungen beschränken, sich die Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen Eltern und Kindern erst (mühsam) im Aufbau befindet, die leiblichen Eltern ihr elterliche Verantwortung bisher kaum wahrnehmen (zur Maßgeblichkeit der Wahrnehmung von Elternverantwortung für das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft vgl. Bayer. VGH, Beschlüsse vom 25.05.2021 - 10 CE 21.1460 -, juris Rn. 16, und vom 08.03.2021 - 19 CE 21.233 -, juris; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 18.11.2020 - 4 MB 38/20 -, juris Rn. 25; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 13.11.2019 - 11 S 2996/19 -, juris Rn. 20) und es das Kindeswohl (vgl. Art. 24 Abs. 2 GRCh; zur Notwendigkeit, dieses bei Rückkehrentscheidungen gebührend zu berücksichtigen, Art. 5 lit. a) RL 2008/115/EU sowie EuGH, Urteile vom 14.01.2021 - C-441/19 - <T.Q.> und vom 11.03.2021 - C-112/20 - <M.A.>) jedenfalls derzeit nicht zulässt, das Kind allein in der Obhut seiner leiblichen Eltern aufwachsen zu lassen. [...]

37 b) Danach ist der Gefahrenprognose derzeit – entgegen der Auffassung der Beklagten – eine unbegleitete Rückkehr der 4-jährigen Klägerin ohne elterliche Fürsorge in das Herkunftsland ihrer leiblichen Mutter zugrunde zu legen. Unter dieser Prämisse ist das Gericht davon überzeugt, dass die Existenz der Klägerin derzeit angesichts der dortigen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in einer Weise gesichert wäre, die Art. 3 EMRK noch gerecht würde.

38 (1) Für die relevanten Lebensverhältnisse in Kosovo allgemein und die Situation von Rückkehrern im Besonderen verweist das Gericht zunächst gemäß § 77 Abs. 2 AsylG auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid (vgl. Bescheid, S. 5 f.). Für besonders vulnerable Personengruppen wie die Klägerin gibt es selbst unter diesen schwierigen Bedingungen nur sehr notdürftige Unterstützung. Der Zugang zu Sozialhilfe ist durch harte Eignungskriterien eingeschränkt, da die finanziellen Mittel des Staates sehr begrenzt sind. Zu den Kategorien Berechtigter zählen zwar auch unbegleitete Minderjährige. Sozialämter sind die wichtigsten Anlaufstellen für Unterstützungsmöglichkeiten für diese schutzbedürftigen Personen; darüber hinaus unterstützen auch einige NGOs und internationale Organisationen unbegleitete Minderjährige (ZIRF/BAMF/IOM, Länderinformationsblatt Kosovo 2019, S. 11). Es gibt allerdings nur eine Notunterkunft allein für Kinder in Pristina; alle weiteren Einrichtungen nehmen Kinder nur gemeinsam mit ihren rückkehrenden Müttern auf (vgl. SFH, Reintegrationsprogramme für Rückkehrende (31.08.2016), S. 10).

39 Auch "klassische" staatliche Kinderheime für Kinder ohne elterliche Fürsorge gibt es in Kosovo nicht, sondern lediglich (landesweit) ein Kinderheim in kirchlicher Trägerschaft in Klina. Für unbegleitete Minderjährige ist das "Amt für soziale Angelegenheiten" der Gemeinde zuständig, in der die Minderjährigen zuletzt registriert waren. Dort wird zunächst geprüft, ob eine Inobhutnahme bei Verwandten möglich ist. Falls eine Unterbringung bei Verwandten oder auch einer anderen aufnahmewilligen Familie nicht möglich ist, bestehen eingeschränkt Unterbringungsmöglichkeiten in jenem einen Kinderheim. Eine Unterbringung im SOS-Kinderdorf Kosova ist derzeit nicht möglich. Das SOS-Kinderdorf Kosova vermittelt jedoch bei Bedarf an SOS-Familien, die vom SOS-Kinderdorf Kosova in den Gemeinden betreut werden. Darüber hinaus existiert lediglich ein Haus für Waisenkinder bzw. für Kinder mit Behinderungen, dessen Aufnahmekapazität bei bis zu 10 Personen liegt (vgl. zu alledem Auswärtiges Amt, Bericht im Hinblick auf die Einstufung der Republik Kosovo als sicheres Herkunftsland im Sinne des § 29a AsylG (Stand: April 2020), S. 26).

40 Darüber hinaus ist die Gesetzgebung zum Schutz von Kindern nach wie vor lückenhaft, ebenso ihre Umsetzung. Kinder aus benachteiligten sozialen Schichten sind häufig gezwungen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen oder durch Betteln zum Lebensunterhalt ihrer Familien beizutragen. Auch soll nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen Kinderhandel mit dem Ziel stattfinden, Kinder zum Betteln zu zwingen. Nach den Erkenntnissen der Botschaft Pristina sind davon insbesondere Kinder aus Roma-Gemeinschaften und anderen armen Familien betroffen, die aus Kosovo, Nordmazedonien und Albanien stammen und in kosovarischen Städten z.B. an großen Straßenkreuzungen betteln oder Dienstleistungen wie das Waschen von Windschutzscheiben aufdrängen (vgl. zu dem Vorstehenden Auswärtiges Amt, Bericht im Hinblick auf die Einstufung der Republik Kosovo als sicheres Herkunftsland im Sinne des § 29a AsylG (Stand: April 2020), S. 13). Teilweise mangelt es an vielen grundlegenden Dienstleistungen in den Bereichen Kinderschutz, Bildung, Gesundheit und Gerechtigkeit für Kinder (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Kosovo (Gesamtaktualisierung am 11.05.2020), S. 41).

41 (2) Ausgehend von diesen Verhältnissen in Kosovo, ist das Gericht der Überzeugung, dass im Falle der Klägerin nach den dargelegten Maßstäben ein ganz außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem humanitäre Gründe ihrer Abschiebung im Sinne von Art. 3 EMRK zwingend entgegenstehen, denn die Klägerin ist in vielfacher Hinsicht besonders vulnerabel: Sie ist – mit vier Jahren – noch ein Kleinkind, ein Mädchen mit Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Roma und hat aufgrund der Abstammung von ihrem aus Gambia stammenden Vater eine tiefdunkle Hautfarbe. Sie ist in der Bundesrepublik geboren und aufgewachsen, d.h. es gibt im Kosovo schon keine Gemeinde, die aufgrund früherer dortiger Registrierung für sie zuständig wäre. Hinzu kommen grundsätzlich bestehende Probleme bei der Registrierung von in Deutschland geborenen Kindern (vgl. hierzu Auswärtiges Amt, Bericht im Hinblick auf die Einstufung der Republik Kosovo als sicheres Herkunftsland im Sinne des § 29a AsylG (Stand: April 2020), S. 17). Eine Inobhutnahme bei Verwandten scheidet aus, weil die Herkunftsfamilie der Mutter der Klägerin sich weiterhin in Deutschland aufhält und eine gemeinsame Rückkehr auch hypothetisch derzeit nicht in Betracht kommt (s.o.). Lediglich eine oder zwei jüngere Schwestern der Mutter der Klägerin sind wohl (nach Angaben der Pflegemutter) kürzlich – jeweils unmittelbar nach Erreichen der Volljährigkeit – nach Kosovo abgeschoben worden; nichts spricht allerdings dafür, dass diese jungen Frauen zur Versorgung der Klägerin bereit und in der Lage wären.

42 (3) Angesichts dessen ist das Gericht davon überzeugt, dass die Sicherung der Existenz der Klägerin auf auch nur minimalem Niveau in Kosovo – unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen – mit beachtlicher  Wahrscheinlichkeit nicht in einer mit Art. 3 EMRK noch zu vereinbarenden Weise gewährleistet sein wird. [...]