VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 07.06.2021 - A 4 K 3124/19 - asyl.net: M29937
https://www.asyl.net/rsdb/m29937
Leitsatz:

Beachtung von Abschiebungshindernissen bei Erlass einer Abschiebungsandrohung

Die in Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG genannten Belange sind in jedem Verfahrensstadium des Asylverfahrens zu berücksichtigen und können daher auch bei Prüfung des § 34 Abs. 1 AsylG dem Erlass einer Abschiebungsandrohung entgegenstehen.

(Amtlicher Leitsatz, anders z.B.  VG Potsdam, Beschluss vom 29.09.2021 - 6 L 411/21.A - asyl.net: M30077)

Schlagwörter: Abschiebungsandrohung, inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, Familieneinheit, Nigeria, Corona-Virus, Abschiebungsverbot, Schutz von Ehe und Familie,
Normen: AsylG § 34 Abs. 1, RL 2008/115/EG Art. 5, RL 2008/115/EG Art. 6, AufenthG § 60a,
Auszüge:

[...]

41 e. Allerdings ist die auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG basierende Abschiebungsandrohung mit Fristsetzung (§ 38 Abs. 1 AsylG) rechtswidrig. Denn es besteht aufgrund des nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG für den Vater des Klägers (und für seine Schwester – und dem ihm danach zustehenden Aufenthaltsrecht nach § 25 Abs. 3 AufenthG) ein inländisches Abschiebungsverbot nach Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK (vgl. § 60 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, vgl. zu den Voraussetzungen Haedicke, in: HTK-AuslR / § 60a AufenthG / zu Abs. 2 Satz 1 - familiäre Gründe, Stand: 13.10.2020, Rn. 32 ff.; Kluth/Breidenbach, in: BeckOK, AuslR, 29. Ed. 1.1.2021, § 60a AufenthG Rn. 15). Die Trennung des im Dezember 2018 geborenen und mithin erst zwei Jahre und sechs Monate alten Klägers von dessen Vater ist ihm allein aufgrund seines Alters nicht zumutbar.

42 Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 14. Januar 2021 - C-441/19 - und Urteil vom 11. März 2021 - C-112/20 -, beide bei juris) ergibt sich, dass die in Art. 5 der Richtlinie2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie – RFRL) genannten Belange in jedem Verfahrensstadium der Rückkehrentscheidung (hier der Abschiebungsandrohung) zu berücksichtigen sind (v.a. EuGH, Urteil vom 14. Januar 2021 - C-441/19 -, juris Rn. 51). Dies führt entgegen dem bisherigen Verständnis der in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Rechtslage dazu, dass das Bundesamt – und auch das Verwaltungsgericht – inländische Abschiebungsverbote, die jedenfalls Art. 5 RFRL zu entnehmen sind, zu berücksichtigen hat (siehe hierzu auch Roß, NVwZ 2021, 553 [554]; a.A. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23. April 2021 - 19 A 810/16.A -, juris).

43 Zwar soll nach § 34 Abs. 2 Satz 1 AsylG die Abschiebungsandrohung mit der Entscheidung über den Asylantrag verbunden werden. Die Vorschrift knüpft an Art. 6 Abs. 6 RL 2008/115/EG an. Danach sollen die Mitgliedstaaten durch diese Richtlinie nicht daran gehindert werden, entsprechend ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unbeschadet der nach Kapitel III und nach anderen einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts und des einzelstaatlichen Rechts verfügbaren Verfahrensgarantien mit einer einzigen behördlichen oder richterlichen Entscheidung eine Entscheidung über die Beendigung eines legalen Aufenthalts sowie eine Rückkehrentscheidung und/oder eine Entscheidung über eine Abschiebung und/oder ein Einreiseverbot zu erlassen (siehe hierzu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23. April 2021 - 19 A 810/16.A -, juris Rn. 94). Demzufolge ist es den Mitgliedstaaten möglich, eine einheitliche Entscheidung, die auch – wie hier – die Rückkehrentscheidung beinhaltet, zu treffen. Indes befreit diese Möglichkeit die Mitgliedstaaten nicht von der Pflicht, die in Art. 5 RFRL genannten Belange in jedem Verfahrensstadium zu berücksichtigen.

44 Nach den oben zitierten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, insbesondere des Urteils C-441/19, sind die in Art. 5 RFRL genannten Belange in jedem Verfahrensstadium zu berücksichtigen (a.A. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23. April 2021 - 19 A 810/16.A -, juris Rn. 100). So heißt es dort im Hinblick auf den Belang des Kindeswohls (Art. 5 Buchst. a) RFRL), dass Art. 5 Buchst. a) RFRL zur Folge hat, dass ein Mitgliedstaat, der den Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen einen unbegleiteten Minderjährigen in Betracht zieht, in allen Stadien des Verfahrens zwingend das Wohl des Kindes zu berücksichtigen hat (EuGH, Urteil vom 14. Januar 2021 - C-441/19 -, juris Rn. 44). Die den Mitgliedstaat darüber hinaus treffende Pflicht nach Art. 10 RFRL (– die von dem OVG Nordrhein-Westfalen [Urteil vom 23. April 2021 - 19 A 810/16.A -, juris Rn. 92 ff.] zur Verneinung der Vergleichbarkeit der Sachverhaltskonstellationen herangezogen wird –) ändert hieran nichts, denn "[d]as Vorliegen einer solchen Pflicht befreit den betreffenden Mitgliedstaat jedoch nicht von den übrigen Prüfpflichten gemäß der RL 2008/115/EG. Insbesondere schreibt Art. 5 Buchst. a RL 2008/115/EG – wie in Rn. 44 des vorliegenden Urteils ausgeführt – vor, dass das Wohl des Kindes in allen Stadien des Verfahrens zu berücksichtigen ist" (EuGH, Urteil vom 14. Januar 2021 - C-441/19 -, juris Rn. 51).

45 Die für Art. 5 Buchst. a) RFRL aufgestellten Grundsätze sind ohne weiteres auf die übrigen Belange des Art. 5 RFRL, jedenfalls die des Art. 5 Buchst. b) RFRL, übertragbar (siehe hierzu EuGH, Urteil vom 11. März 2021 - C-112/20 -, juris Rn. 41). [...]