VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 10.08.2021 - A 16 K 4844/19 - asyl.net: M29947
https://www.asyl.net/rsdb/m29947-1
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für exilpolitisch tätigen Angehörigen der anglophonen Minderheit in Kamerun:

1. Die kamerunische Regierung interessiert sich im Zusammenhang mit dem Konflikt in den anglophonen Regionen zunehmend für die exilpolitischen Aktivitäten der anglophonen Opposition. Die Gefahr einer Verfolgung hängt vom Tätigkeits- und Interessenprofil der jeweiligen Person ab.

2. Einem bekannten Prediger und hochrangigen Politiker der vornehmlich exilpolitisch tätigen "Federal Republic of Ambazonia", der in der Öffentlichkeit aufgetreten ist und dessen Tätigkeits- und Interessenprofil für die kamerunische Regierung deshalb leicht auffindbar ist, droht eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung in Kamerun.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Kamerun, politische Verfolgung, Separatismus, Anglophone, Ambazonia, Federal Republic of Ambazonia, Exilpolitik, anglophon, Englisch,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

b) Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung liegen jedoch die Voraussetzungen für eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S.d. §§ 3 ff. AsylG zugunsten des Klägers vor. Denn nach Auswertung der Erkenntnismittel [hierzu aa)] ist der Kläger jedenfalls aufgrund seiner journalistischen und politischen Tätigkeit in Deutschland [hierzu bb)] mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr nach Kamerun von einer Verfolgung i.S.d. §§ 3 ff. AsylG bedroht [hierzu cc)]. [...]

cc) Unter Zugrundelegung der dargelegten politischen Verhältnisse in Kamerun und unter Berücksichtigung der exponierten politischen Stellung des Klägers droht diesem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unverhältnismäßige Strafverfolgung (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG) und die Anwendung physischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG) aufgrund seiner politischen Überzeugung und seiner politischen Tätigkeiten im Ausland (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG) seitens des kamerunischen Staates (§ 3c Nr. 1 AsylG).

Es ist - wie bereits ausgeführt - davon auszugehen, dass sich die kamerunische Regierung im Zuge des Konflikts in den anglophonen Regionen zunehmend für die exilpolitischen Aktivitäten der anglophonen Opposition interessiert und die Gefahr einer Verfolgung von dem Tätigkeits- und Interessenprofil der jeweiligen Person abhängt (AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kamerun vom 17.08.2020, S. 18; UK Home Office, a.a.O., S. 9 f.). Unter Zugrundelegung der Erkenntnisse über Verhaftungen und Folterungen an mutmaßlichen Separatisten, der Charakterisierung der Separatisten als Terroristen und der Angriffe auf religiöse Führer und Prediger seitens kamerunischer Soldaten in den anglophonen Regionen (ACCORD, a.a.O., S. 3; USDOS, a.a.O., S. 1) ist es vorliegend beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger als bekannter Prediger und hochrangiger Politiker der "Federal Republic of Ambazonia" aufgrund seines politischen Tätigkeits- und Interessenprofils im Falle einer Rückkehr nach Kamerun noch am Flughafen in Jaunde oder Douala als mögliche Abschiebeziele (AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kamerun vom 17.08.2020, S. 24) erkannt, festgenommen und einer unverhältnismäßigen Strafverfolgung sowie der Anwendung physischer Gewalt seitens der kamerunischen Sicherheitskräfte ausgesetzt sein wird. Hiervon ist insbesondere deshalb auszugehen, weil sowohl die Internetpräsenz der Interimsregierung der Federal Republic of Ambazonia als auch die Videos des der Interimsregierung nahestehenden TV-Senders ABC Amba TV, in denen der Kläger zu sehen ist, öffentlich empfangbar und zudem via Internet einsehbar sind, so dass gerade die kamerunische Regierung ohne großen Aufwand Rückschlüsse auf das Tätigkeits- und Interessenprofil des bereits in Jaunde als anglophoner Prediger und Journalist bekannten Klägers schließen kann. Dass die kamerunische Regierung im Falle der Rückkehr des Klägers ein Interesse an seiner Inhaftierung hätte, deckt sich auch mit seinen Schilderungen, wonach seine Ehefrau nach seiner Ausreise von den kamerunischen Sicherheitskräften beobachtet worden sei und mit dem von ihm vorgelegten anonymen Rundschreiben, wonach vor dem Kläger gewarnt werde, da er als "Wolf im Schafspelz" für die Auseinandersetzungen in den anglophonen Gebieten Kameruns mitverantwortlich sei.

Akteure i.S.d. § 3d Abs. 1 Nr. 2 AsylG, die dem Kläger vor einer staatlichen Verfolgung wirksam und nicht nur vorübergehender Art Schutz bieten könnten, sind nicht ersichtlich. Die Interimsregierung der "Federal Republic of Ambazonia" nimmt mehrheitlich aus der Diaspora Einfluss auf die anglophonen Gebiete Kameruns (UK Home Office, a.a.O., S. 8, 22), ohne dass diese einen wesentlichen Teil des kamerunischen Staatsgebiets beherrschen. Der Kläger kann zudem nicht auf den internen Schutz gemäß § 3e AsylG verwiesen werden, da einerseits nicht feststeht, ob er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor einer Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und andererseits nicht davon auszugehen ist, dass er in diese Landesteile von den Flughäfen in Jaunde oder Douala aus sicher reisen könnte. [...]