OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 24.08.2021 - 7 B 10843/21 - asyl.net: M29968
https://www.asyl.net/rsdb/m29968
Leitsatz:

Abschiebung der Eltern ohne ihren 16-jährigen Sohn rechtmäßig:

Art. 6 GG gebietet nicht in jedem Fall die gemeinsame Abschiebung aller Familienmitglieder. Vielmehr kann die getrennte Abschiebung von Familienmitgliedern im Einzelfall zulässig sein (vorliegend bejaht).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebung, Rückholung, Folgenbeseitigungsanspruch, Schutz von Ehe und Familie, minderjährig, Trennung, einstweilige Anordnung,
Normen: GG Art. 6, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, AufenthG § 58,
Auszüge:

[...]

4 Als Rechtsgrundlage für einen solchen Anspruch kommt allein ein Folgenbeseitigungsanspruch in Betracht. Dieser setzt voraus, dass durch einen hoheitlichen Eingriff – hier die Abschiebungsmaßnahme – ein subjektives Recht der Betroffenen verletzt worden und dadurch für diese ein andauernder rechtswidriger Zustand entstanden ist, dessen Beseitigung tatsächlich und rechtlich möglich ist. Der Folgenbeseitigungsanspruch knüpft damit nicht allein an die Rechtswidrigkeit des Eingriffsaktes an, sondern auch an die des geschaffenen Zustandes (vgl. OVG RP, Beschluss vom 23. Juli 2018 – 7 B 10768/18.OVG –, juris, Rn. 26; OVG NRW, Beschluss vom 22. Oktober 2014 – 18 B 104/14 –, juris, Rn. 6 ff. m.w.N.).

5 Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die von der Antragsgegnerin durchgeführte Abschiebung der Antragsteller war nicht rechtswidrig. [...]

9 Die Abschiebung der Antragsteller war auch nicht nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG auszusetzen, weil sich ihr ebenfalls vollziehbar ausreisepflichtiger, 16-jähriger Sohn während der laufenden Abschiebungsmaßnahme der Abschiebung durch Flucht entzogen hat. Dadurch ist die Fortsetzung der Abschiebung der Antragsteller – ohne den geflüchteten Sohn – nicht rechtlich unmöglich geworden, sondern war mit dem verfassungsrechtlich durch Art. 6 GG sowie durch Art. 8 EMRK gewährleisteten Schutz der Familie vereinbar. [...]

12 Dementsprechend gebietet Art. 6 GG nicht in jedem Fall die gemeinsame Abschiebung sämtlicher Familienmitglieder. Vielmehr kann die getrennte Abschiebung von Familienmitgliedern je nach den Umständen des Einzelfalles rechtlich zulässig sein (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. Februar 1994 – 18 B 1127/93 –, juris; HessVGH, Beschluss vom 30. April 2001 – 3 TZ 757/01.A –, juris, Rn. 5 ff.; SächsOVG, Beschluss vom 26. November 2018 – 3 B 381/18 –, juris, Rn. 9).

13 bb) Aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falles war die Ausländerbehörde nicht mit Blick auf den Schutz der Familie nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK verpflichtet, die Abschiebung der Antragsteller abzubrechen, nachdem sich der 16-jährige Sohn der Abschiebung zu Beginn der laufenden Abschiebungsmaßnahme durch Flucht entzogen hatte.

14 Die Antragsgegnerin durfte bei ihrer Entscheidung zur Fortsetzung der Abschiebung der Antragsteller auch ohne den geflüchteten Sohn davon ausgehen, dass dies nur zu einer vorübergehenden Trennung des minderjährigen Sohnes von seinen Eltern und Geschwistern für einen überschaubaren Zeitraum führen wird, weil auch er in absehbarer Zeit in das gemeinsame Heimatland Armenien zurückkehren und dort die Familieneinheit wiederhergestellt werden wird. Denn der Sohn ist – ebenso wie es die abgeschobenen Antragsteller waren – nach dem unanfechtbaren negativen Abschluss des Asylverfahrens vollziehbar ausreisepflichtig. Soweit die Antragsteller mit der Beschwerde hiergegen einwenden, es sei nicht mit einer kurzfristigen Abschiebung zu rechnen, weil der 16-jährige Sohn nach der Abschiebung der Antragsteller in Deutschland ein unbegleiteter minderjähriger Ausländer sei, der nur unter den strengen Voraussetzungen des § 58 Abs. 1a AufenthG abgeschoben werden dürfe, so ist weder dargetan noch ersichtlich, weshalb diese Voraussetzungen nicht erfüllt sein sollten. Nach § 58 Abs. 1a AufenthG hat sich die Ausländerbehörde vor der Abschiebung eines unbegleiteten minderjährigen Ausländers zu vergewissern, dass dieser im Rückkehrstaat einem Mitglied seiner Familie, einer sorgeberechtigten Person oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung übergeben wird. Da die Eltern des minderjährigen Sohnes – die Antragsteller zu 1) und 2) – sich in Armenien unter bekannter Anschrift aufhalten, erscheint eine Vergewisserung über die Übergabe an seine Eltern vielmehr unschwer möglich.

15 Bei der Gewichtung der Schutzwirkungen aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK teilt der Senat die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass hierbei der Umstand zu berücksichtigen ist, dass die primäre Ursache für die Aufhebung der Familieneinheit durch die Entscheidung des 16-jährigen Sohnes gesetzt wurde, sich der gemeinsamen Abschiebung mit den Eltern und Geschwistern durch Flucht während der laufenden Abschiebungsmaßnahme zu entziehen. Dies bedeutet entgegen der Ansicht der Antragsteller nicht die Annahme einer "Verwirkung" der staatlichen Schutzpflicht, der die Schutzwirkungen aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK völlig entfallen ließe. Dieser Umstand mindert jedoch die Schutzwürdigkeit der Familieneinheit der Antragsteller mit ihrem 16-jährigen Sohn und damit das Gewicht des aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK folgenden Schutzes der Familie.

16 Dem steht nicht entgegen, dass dieser Sohn minderjährig ist. Es handelt sich bei ihm entgegen der Auffassung der Antragsteller nicht um ein minderjähriges Kind, das nicht als eigenverantwortlich handelnde Person rechtlich behandelt werden könne. Der Gesetzgeber behandelt Minderjährige auch außerhalb des Aufenthaltsrechts in gewissem Umfang ab einem bestimmten Alter als rechtlich eigenverantwortliche Personen. So sind minderjährige Jugendliche ab einem Alter von 14 Jahren im Strafrecht für ihre Taten grundsätzlich verantwortlich (vgl. § 19 StGB, § 1 JGG). In manchen Bundesländern sind minderjährige Jugendliche ab einem Alter von 16 Jahren überdies bei Kommunal- und Landtagswahlen aktiv wahlberechtigt. Dementsprechend teilt der Senat auch insoweit die Auffassung der Vorinstanz, dass es sich bei dem minderjährigen Sohn um einen Jugendlichen im Alter von 16 Jahren handelt, der in der Lage war, die Folgen seiner Trennung von den übrigen Familienmitgliedern altersentsprechend zu überblicken. [...]

20 Die Antragsgegnerin hat sich entgegen der Ansicht der Antragsteller bei ihrer Entscheidung, die Abschiebung trotz der Flucht des Sohnes zu Beginn der laufenden Maßnahme fortzusetzen, nicht über einen Erlass des Integrationsministeriums Rheinland-Pfalz vom 14. Juni 2018 hinweggesetzt. Danach sind zeitweise Familientrennungen aufgrund von Abschiebungen nach Maßgabe von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nur ausnahmsweise zulässig. Würden Minderjährige durch eine Abschiebung von ihren Eltern getrennt, ist die Maßnahme regelmäßig auszusetzen und die Abschiebung abzubrechen. Wie sich aus der verwendeten Wortwahl "regelmäßig" ergibt, ist die Abschiebung zwar im Regelfall bei einer Trennung von Minderjährigen und ihren Eltern abzubrechen, bleibt aber im Ausnahmefall zulässig. Ein solcher Ausnahmefall der zulässigen Trennung des 16-jährigen Sohnes der Antragsteller von seinen Eltern, der sich der gemeinsamen Abschiebung aller vollziehbar ausreisepflichtigen Familienmitglieder durch seine Flucht zu Beginn der Abschiebungsmaßnahme entzogen hat und dessen Großeltern im selben Anwesen in Deutschland wohnen, ist aufgrund der genannten besonderen Umstände des vorliegenden Falles zu bejahen. Im Übrigen ist das Gericht an die rechtliche Bewertung der sich aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK ergebenden Schutzwirkungen bei der Abschiebung von Familien durch den Erlass des rheinland-pfälzischen Integrationsministeriums nicht gebunden. [...]