VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 21.07.2021 - 9 A 157/20 - asyl.net: M29972
https://www.asyl.net/rsdb/m29972
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Frau aus Saudi-Arabien:

"Asylbewerber aus Saudi-Arabien sind allein aufgrund der Asylantragstellung in der Bundesrepublik Deutschland bei einer Rückkehr von Verfolgung bedroht (Rn.39)."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Saudi-Arabien, Asylantrag, Nachfluchtgründe, politische Verfolgung, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

24 2. Es kann vorliegend dahinstehen, ob die Klägerin bereits vorverfolgt aus Saudi-Arabien ausgereist ist. In Anwendung des vorstehend aufgezeigten Maßstabes steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Klägerin aus beachtlichen Nachfluchtgründen (vgl. § 28 Abs. 1a Hs. 1 AsylG) Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe droht. Denn unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnislage ist das Gericht davon überzeugt, dass der saudi-arabische Staat mit verfolgungsrelevanten Maßnahmen i.S.v. § 3a AsylG auf die Asylantragstellung der Klägerin im westlichen Ausland reagiert, weil dies für das Regime Ausdruck einer politisch oppositionellen Überzeugung der Klägerin ist (a). Insoweit steht der Klägerin weder ein schutzbietender Dritter (b) noch eine inländische Fluchtalternative nicht zur Seite (c).

25 a) Die Klägerin hält sich in begründeter Furcht vor politischer Verfolgung wegen der mit ihrer Asylantragstellung in der Bundesrepublik Deutschland einhergehenden, ihr bei einer Rückkehr drohenden Bestrafung außerhalb ihres Heimatstaates auf. Den aktuellen Erkenntnissen (aa) ist insoweit zu entnehmen, dass der hier beachtlichen Strafverfolgung und Bestrafung für regimekritisches Verhalten eine politische Verfolgungstendenz innewohnt (bb), wobei von dem saudischen Staat bereits die Asylantragstellung im westlichen Ausland als Ausdruck politisch missliebiger Gesinnung betrachtet wird (cc). Die Kenntniserlangung saudischer staatlicher Stellen von der Asylantragstellung der Klägerin ist insoweit auch beachtlich wahrscheinlich (dd). [...]

32 bb) Den aktuellen Erkenntnissen ist somit zu entnehmen, dass der saudische Staat jegliches kritische Verhalten an den politischen Strukturen sowie dem bestehenden Herrschaftssystem terroristischen Handlungen gleichstellt und diese unter erhebliche Strafen stellt. Der hier beachtlichen Strafverfolgung und Bestrafung wohnt dabei eine politische Verfolgungstendenz inne und stellt eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG dar. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann zwar nicht ohne Weiteres auf einen politischen Charakter der Verfolgung geschlossen werden, wenn in Ermittlungs- oder Strafverfahren gegen die Grundsätze von Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit verstoßen wird; eine Verfolgung wird aber dann zu einer politischen, wenn ihre Motivation durch personelle Merkmale, an die mit der Maßnahme angeknüpft wird, dem Toleranzverbot grundlegend widerstreitet, d. h. der Betroffene gerade wegen seiner, durch das Asylrecht geschützten persönlichen Merkmale oder Überzeugungen solchen staatlichen Verstößen gegen die Menschlichkeit und die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit ausgesetzt wird. Für eine Verfolgung aus politischen Gründen kommt es mithin entscheidend auf die dem staatlichen Zugriff zugrundeliegenden Motive an (vgl. BVerwG, U. v. 16.04.1985 - 9 C 109/84 -, juris m.w.N.). Für den Bereich der Staatsschutzdelikte ist in jedem Einzelfall zu bewerten, welchem Zweck die befürchtete strafrechtliche Verfolgung dient. Jeder Staat hat das Recht, sich gegen Angriffe auf seinen Bestand zu schützen und diejenigen, von denen ein solcher ausgeht, seiner herrschenden Rechtsordnung zu unterwerfen. Für die Überzeugungsbildung, ob dem Ausländer bei Bestehen solcher Strafvorschriften mit deren Anwendung politische Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG droht, kommt es daher darauf an, ob der Staat seine Bürger in ihrer politischen oder religiösen Überzeugung treffen, sie aus ethnischen oder Gründen der Nationalität oder wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu disziplinieren, sie deswegen niederzuhalten oder sogar zu vernichten beabsichtigt oder ob sein Primärziel lediglich die Aufrechterhaltung seine Herrschaftsstruktur ist, wenn auch unter Einsatz autoritärer Mittel, dabei seine Staatsbürger aber in ihrer Meinungsfreiheit unbehelligt lässt (vgl. hierzu auch BVerwG, U. v. 17.05.1983, - 9 C 161/83 und 9 C 3/84 -, juris). Nur wenn über den - legitimen - Zweck des Schutzes der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hinaus in den Strafnomen an die individuelle Meinung und Gesinnung der Betroffenen angeknüpft und diese gleichsam mitbestraft wird, ist eine strafrechtliche Verfolgung wegen eines politischen Straftatbestandes zugleich auch eine politische Verfolgung im flüchtlingsrelevanten Sinn. Gleichermaßen kann eine Strafverfolgung in eine politische Verfolgung umschlagen, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleidet. Eine besondere Intensität der Verfolgungsmaßnahmen kann dabei Indiz für das Vorliegen eines Politmalus sein (vgl. hierzu BVerfG, B. v. 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 -, juris). [...]

34 cc) Zur Überzeugung des Gerichts steht ferner fest, dass der saudische Staat eine Asylantragstellung, der diskreditierende Äußerungen in Bezug auf den Herkunftsstaat immanent ist, und dem damit verbundenen Aufenthalt im westlichen Ausland als Ausdruck politisch missliebiger Gesinnung betrachtet und diese mit Verfolgungsmaßnahmen ahndet, denen – wie dargestellt – eine politische Verfolgungstendenz zukommt.

35 Der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 18.02.2021 ist insoweit zu entnehmen, dass die Asylantragstellung saudischer Staatsangehöriger im Ausland automatisch als regimefeindliche Handlung aufgefasst wird und es somit durchaus zu strafrechtlicher Verfolgung kommen kann, wenn dem saudischen Staat die Asylantragstellung bekannt wird. [...]

39 Entgegen der Ansicht der Beklagten kommt es für die Annahme einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht darauf an, ob die Klägerin vor der Asylantragstellung bereits im Fokus der saudischen Sicherheitsbehörden stand. Im Lichte der dargestellten Erkenntnisse sowie unter Berücksichtigung der sich aus den aktuellen Erkenntnissen ergebenden Zielrichtung der Bemühungen der saudischen Sicherheitsbehörden, (auch im Ausland lebende) Personen, denen eine regimekritische Haltung zugeschrieben wird, zu überwachen, sie ausfindig zu machen und ihrer habhaft zu werden, bestehen keine Anhaltspunkte für die Annahme, der saudische Staat würde im Hinblick auf seine vermeintlichen Regimekritiker danach differenzieren, ob diese Personen bereits zuvor entsprechend in Erscheinung getreten sind. Vielmehr ist angesichts des Umstandes, dass jegliches regimekritisches Verhalten durch den saudischen Staat verfolgt und bestraft wird sowie der mit der weit gefassten "Terrorismusdefinition" des Anti-Terror-Gesetzes geschaffenen Möglichkeit, eine Vielzahl von Personen unter dem Vorwand des Terrorverdachts zu verfolgen, davon auszugehen, dass allein die Asylantragstellung im westlichen Ausland als regimefeindliche Handlung aufgefasst wird.

40 dd) Die Kenntniserlangung saudischer staatlicher Stellen von der Asylantragstellung der Klägerin ist auch beachtlich wahrscheinlich.

41 Ausweislich der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 22.08.2018 wurde am Königshof Saudi-Arabiens ein "Digital Observation Center" eingerichtet, das nicht nur für aktive Public Diplomacy zuständig ist, sondern mit großem technischen und personellen Aufwand auch Internetplattformen wie Facebook, Twitter und Youtube beobachtet. Das Auswärtige Amt geht davon aus, dass das gesamte Internet sowie Aktivitäten auf den einschlägigen Plattformen von den saudi-arabischen Sicherheitsbehörden ständig überwacht werden, unabhängig vom Aufenthaltsort und der Staatsangehörigkeit der Kommunizierenden. Nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes ist davon auszugehen, dass Überprüfungen unabhängig von den Reiseaktivitäten von Rückkehrern stattfinden. Nach Kenntnis des Auswärtigen Amtes sind auch saudi-arabische Staatsbürger, die im Ausland leben, nach ihrer Einreise in Saudi-Arabien unter Vorhalt gesetzwidriger Internetaktivitäten inhaftiert worden. Auch der Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom 29.08.2018 lässt sich insoweit entnehmen, der saudische Staat durchaus Überwachungsmaßnahmen durchführt, dazu technisch in der Lage ist und darüber hinaus in einzelnen Fällen auch dazu bereit ist, gegen Dissidenten im Ausland vorzugehen. Entsprechendes ergibt sich aus den bereits zitierten Berichten der ARD vom 11.06.2019 "Saudi-Arabien verfolgt Flüchtlinge weltweit" sowie des ZDF vom 31.03.2020 "Spionagevorwürfe gegen Saudi-Arabien", wonach Asylantragsteller aus Saudi-Arabien in Deutschland ausfindig gemacht und bedroht werden. [...]