VG Hamburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Hamburg, Beschluss vom 07.07.2021 - 15 E 1073/21 - asyl.net: M29975
https://www.asyl.net/rsdb/m29975
Leitsatz:

Einstweilige Anordnung zur vorläufigen Duldung einer serbischen Familie:

Liegt hinsichtlich der Reiseunfähigkeit der betroffenen Person ein qualifiziertes fachärztliches psychiatrisches Gutachten vor, das den Anforderungen von § 60a Abs. 2c AufenthG entspricht, dann kann die Behörde die Annahme der Reisefähigkeit nicht auf ein von ihr in Auftrag gegebenes Gutachten einer Allgemeinmedizinerin stützen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Facharzt, Amtsarzt, Reisefähigkeit, Attest, psychische Erkrankung, Kind, Suizidgefahr, Duldung, Reiseunfähigkeit,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2c, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, GG Art. 6,
Auszüge:

[...]

Nachdem die Antragstellerin zu 1) zu mehreren Untersuchungsterminen zur Flugreisetauglichkeitsuntersuchung nicht erschienen war, erstellte Frau ..., Fachärztin für Allgemeinmedizin, Geriatrie, Palliativmedizin und Reisemedizin, am … 2020 ein Gutachten nach Aktenlage. In dem Gutachten kommt sie zu dem Ergebnis, dass die Antragstellerin zu 1) an einer Anpassungsstörung, einer Impulskontrollstörung, Autoaggression und suizidalen Tendenzen leide und der Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung bestehe. Sie sei psychisch erkrankt und bedürfe einer kinderpsychiatrischen und kinderpsychologischen Betreuung, die auch in Serbien erfolgen könne. Wegen der suizidalen Tendenzen und der Impulsdurchbrüche solle die Flugreise in ärztlicher Begleitung und in Begleitung eines Elternteils erfolgen. [...]

Der nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zulässige Antrag hat auch in der Sache Erfolg. [...]

1. Ein Anordnungsgrund liegt vor, selbst wenn die Antragsgegnerin noch keinen Vollzugsauftrag erteilt hätte und ein (erneuter) konkreter Abschiebetermin noch nicht feststeht. Da der Termin der Abschiebung einem Ausländer nach Ablauf der Ausreisefrist nach § 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG nicht (mehr) angekündigt werden darf, ist es den Antragstellern nicht zuzumuten, die Entscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Widerspruchsverfahren abzuwarten und währenddessen jederzeit mit einer drohenden Rückführung rechnen zu müssen. Insoweit besteht ein grundsätzliches Rechtsschutzbedürfnis, die weitere Situation rechtzeitig gerichtlich klären zu lassen.

2. Nach der im Eilverfahren möglichen summarischen Prüfung ist auch ein Anordnungsanspruch gegeben.

Die Antragsteller haben glaubhaft gemacht, dass sie einen Anspruch auf vorübergehende Duldung haben. Die psychische Erkrankung der Antragstellerin zu 1) dürfte ihrer Abschiebung derzeit entgegenstehen, weil es nach summarischer Prüfung derzeit als hinreichend wahrscheinlich erscheint, dass ihre Abschiebung aus den von ihr glaubhaft gemachten gesundheitlichen Gründen aufgrund von Reiseunfähigkeit zumindest vorübergehend rechtlich unmöglich ist (a.). Die Abschiebung der übrigen Antragsteller dürfte deshalb mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG vorläufig rechtlich unmöglich sein (b.). [...]

An einer solchen hinreichend fundierten ärztlichen Diagnose und der anschließenden Bestimmung der gegebenenfalls im Rahmen der Abschiebung zu treffenden Vorkehrungen zur Vermeidung erheblicher Gesundheits- oder Suizidgefahren fehlt es hier, obwohl dazu auf Grundlage der betreffend die Antragstellerin zu 1) vorgelegten fachärztlichen Gutachten Veranlassung bestanden hätte. Den Gutachten lässt sich entnehmen, dass die Antragstellerin an schwerwiegenden psychischen Erkrankungen leidet, die sich durch eine Abschiebung wesentlich und möglicherweise unumkehrbar verschlimmern bzw. in einen Spontansuizid münden könnten. Die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Frau Dr. ... diagnostiziert bei der Antragstellerin zu 1) in ihrem Attest vom … 2020 eine posttraumatische Belastungsstörung mit Entwicklungsstillstand und im Vordergrund stehender Depressivität sowie Ein- und Durchschlafstörungen (Bl. 241 der Sachakte der Ast.in zu 1.). Die Antragstellerin zu 1) sei akut behandlungsbedürftig und aus Sicht der Ärztin nicht reisefähig. Laut weiterem Attest von Frau ... vom … 2020 bestehe bei einer Abschiebung die größte Gefahr in einer in einem Suizid endenden Impulshandlung bei der impulskontrollgestörten und autoaggressiv agierenden Antragstellerin zu 1 ), die schon bei der bloßen Vorstellung einer Abschiebung ein ausgeprägtes Bild einer dissoziativen Dekompensation zeige. Diese Atteste beruhen auf einer hinreichend fundierten Grundlage und genügen den Anforderungen des § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG zur Widerlegung der gesetzlich vermuteten Reisefähigkeit in § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG.

Die Antragstellerin ist hier von der Fachärztin für Allgemeinmedizin, Geriatrie, Palliativmedizin und Reisemedizin Frau … lediglich nach Aktenlage und in ärztlicher Begleitung für flugreisetauglich befunden worden, da bei ihr suizidale Tendenzen bestünden. Zwar kann Frau ... ihre gutachterliche Stellungnahme allein nach Aktenlage nicht vorgeworfen werden, da die sich Antragstellerin zuvor mehreren ärztlichen Untersuchungsterminen verweigert und diese nicht wahrgenommen hat. Es ist auch grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn sich die Antragsgegnerin zunächst darauf beschränkt, eine Allgemeinmedizinerin mit der Untersuchung der Flugreisetauglichkeit zu beauftragen, und sich die mit der Untersuchung beauftragte Ärztin bei Bedarf weiteren Sachverstand hinzuholt oder die untersuchte Person für speziellere Untersuchungen an eine Kollegin oder einen Kollegen verweist (OVG Hamburg, Beschluss vom 23.2.2021, 6 So 102/20, n.v.).

Die weitere Hinzuziehung eines Facharztes für Psychiatrie ist hier aber unterblieben, obwohl diese sich aufgrund der vorgelegten fachärztlichen Atteste betreffend die psychische Situation der Antragstellerin zu 1) aufgedrängt hätte und die Antragsgegnerin diese Möglichkeit zunächst sogar selbst in Betracht gezogen hat (vgl. die Vermerke vom 10.3.2020 und 12.3.2020, Bl. 249 und 250 der Sachakte der Ast.in zu 1.). Die Stellungnahme von Frau … dürfte sich nämlich nur auf die Reisefähigkeit der Antragstellerin zu 1. im engeren Sinne beziehen und nicht auch auf die Reisefähigkeit im weiteren Sinne. Vor dem Hintergrund der bereits vorliegenden fachärztlichen Stellungnahmen müsste zudem auch eine gegenteilige ärztliche Bescheinigung der Reisefähigkeit der Antragstellerin zu 1. entsprechend substantiiert auf den Diagnosen eines Facharztes für Psychiatrie beruhen. Hierfür besitzt Frau nicht die erforderliche Qualifikation.

Es fehlt damit an einer umfassenden fachpsychiatrischen Begutachtung der Antragstellerin zu 1), aus der sich ergeben würde, ob diese überhaupt ohne eine wesentliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes abgeschoben werden kann und welche Vorkehrungen insofern gegebenenfalls erforderlich sind. Die Antragsgegnerin wird deshalb vor weiteren Rückführungsmaßnahmen zunächst eine solche Untersuchung der Antragstellerin zu 1) durch einen geeigneten Facharzt nachzuholen und auf Grundlage von deren Ergebnis die Möglichkeiten und Modalitäten einer Rückführung neu zu beurteilen haben. Der Antragstellerin zu 1) ist dabei anzuraten, den noch zu bestimmenden Untersuchungstermin persönlich wahrzunehmen, damit ein belastbares Untersuchungsergebnis erzielt werden kann und nicht erneut ein Gutachten nach Aktenlage erfolgen muss, welches jedenfalls bei erneuter Verweigerung der Teilnahme an den Terminen eine zulässige Alternative darstellen dürfte. [...]