VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 15.04.2021 - 1 A 286/18 HAL - asyl.net: M29999
https://www.asyl.net/rsdb/m29999
Leitsatz:

Grenzen des Ermessens bei der Verfügung einer Wohnsitzauflage nach § 12 AufenthG:

1. Die Wohnsitzauflage nach § 12 Abs. 2 S. 2 AufenthG bei Personen mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG ist mittlerweile auch an den gesetzgeberischen Wertungen in § 12a AufenthG zu messen.

2. Wenn die Auflage länger als drei Jahre aufrechterhalten werden soll, ist die Behörde, die die Nebenbestimmung erlassen will, darlegungspflichtig.

3. Rein fiskalische Gründe sind für den Erlass der Wohnsitzverpflichtung nicht zulässig, zumal Grundsicherungsleistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII, vom Bund erstattet werden, sodass der Zuzug einer Person, die Leistungen empfängt, keine Mehrbelastung darstellt.

3. Soll vermieden werden, dass besonders viele hilfebedürftige Drittstaatsangehörige in bestimmten Gebieten leben und würde dies die Entstehung von sozialen Brennpunkten begünstigen, muss dies von der Behörde substantiiert und einzelfallbezogen begründet werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Wohnsitzauflage, Abschiebungsverbot, Krankheit, psychische Erkrankung, Sonstige Familienangehörige, Ermessen, Ermessensfehler,
Normen: AufenthG § 12 Abs. 2 S.1, AufenthG § 12a, AufenthG § 25 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

Rechtlicher Anknüpfungspunkt für die streitgegenständliche Wohnsitzauflage in der dem Kläger nach § 25 Abs. 3 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis war § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG. Danach kann ein Visum oder eine Aufenthaltserlaubnis auch nachträglich mit Auflagen, insbesondere mit einer räumlichen Beschränkung, verbunden werden. Die Erteilung einer Wohnsitzauflage ist nach § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG grundsätzlich zulässig, weil sie gegenüber der in der Vorschrift ausdrücklich .genannten räumlichen Beschränkung der Aufenthaltserlaubnis einen geringeren Eingriff darstellt. Sie ordnet zwar eine Residenzpflicht an, schränkt die Freizügigkeit im Bundesgebiet im Übrigen aber nicht ein (BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2008 - 1 C 17.07 - juris, Rn. 13).

Gleichwohl ist die dem Kläger auferlegte Wohnsitzbeschränkung rechtswidrig, weil die Beklagte das ihr nach § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG eröffnete Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt hat. Die Ermessensbetätigung durch die zuständige Ausländerbehörde ist nach § 114 Satz 1 VwGO gerichtlich nur daraufhin überprüfbar, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten wurden und von dem Ermessen in eine dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Von dem Grundsatz des § 12 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, dass der Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet erteilt wird, darf nur in Ausnahmefällen abgewichen werden. Hierbei ist es zwar grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn sich die Ausländerbehörde auf generelle Regelungen in den AVwV AufenthG bezieht. Die durch ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften bewirkte Ermessensbindung der Behörde darf aber nicht so weit gehen, dass den wesentlichen Besonderheiten des Einzelfalls nicht mehr Rechnung getragen werden könnte. Das Erfordernis einer individuellen Ermessensentscheidung unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gebietet es vielmehr, die Belange und Interessen des betroffenen Ausländers von Amts wegen bei der Entscheidung über die Erteilung einer wohnsitzbeschränkenden Auflage zu berücksichtigen (VerwG, Urteil vom 15. Januar 2013 - 1 C 7.12 -, juris, Rn. 12).

Es kann hier offenbleiben, ob ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen dem Kläger und in Berlin lebenden Personen besteht sowie ob und ggf. welche Unterstützungsleistungen die von ihm benannten Bezugspersonen im Fall eines Umzugs nach Berlin für den Kläger erbringen würden. Denn die der Aufenthaltserlaubnis vom 21. Februar 2018 beigefügte Wohnsitzauflage erweist sich jedenfalls aus anderen Gründen als ermessensfehlerhaft. Denn zum einen hat die Beklagte die in § 12a Abs. 1 Satz 1, Abs. 7 und 10 AufenthG zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Wertung, welcher die dem Kläger auferlegte Wohnsitzverpflichtung grundlegend widerspricht, nicht berücksichtigt. Zum anderen trägt ihre Grundannahme, dass fiskalische Interessen das Interesse des Klägers an einer Streichung der Wohnsitzauflage überwiegen, nicht.

Nach § 12a Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist ein Ausländer, der als Asylberechtigter, Flüchtling i.S.v. § 3 Abs. 1 AsylG oder subsidiär Schutzberechtigter i.S.v. § 4 Abs. 1 AsylG anerkannt worden ist oder dem nach § 22, § 23 oder § 25 Abs. 3 erstmalig eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist, zur Förderung seiner nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, für den Zeitraum von drei Jahren ab Anerkennung oder Erteilung der Aufenthaltserlaubnis in dem Land seinen gewöhnlichen Aufenthalt (Wohnsitz) zu nehmen, in das er zur Durchführung seines Asylverfahrens oder im Rahmen seines Aufnahmeverfahrens zugewiesen worden ist. § 12a Abs. 1 Satz 3 AufenthG sieht eine Verlängerung der Wohnsitzauflage nur für den Fall vor, dass der Ausländer seiner Verpflichtung nach Satz 1 nicht nachgekommen ist. Ausweislich seines Wortlauts gilt § 12a Abs. 1 Satz 1 AufenthG damit auch für Ausländer, denen - wie dem Kläger - wegen des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt worden ist.

§ 12a AufenthG ist auf den Kläger zwar nicht anwendbar, da nach § 12a Abs. 7 AufenthG die Vorschriften des § 12a Abs. 1 bis Abs. 6 AufenthG nicht für Ausländer gelten, deren erstmalige Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vor dem 1. Januar 2016 erfolgte. Dem Kläger wurde erstmals am 29. März 2011 eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt. Entgegen der Auffassung der Beklagten wäre vorliegend gleichwohl die in § 12a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zum Ausdruck kommende aktuelle Wertung des Gesetzgebers als wesentliche Erwägung in die Ermessensentscheidung einzustellen gewesen. Denn zum einen sind Wohnsitzauflagen wegen ihrer Dauerwirkung (s.o.) stets auf das Fortbestehen ihrer Voraussetzungen hin zu überprüfen. Zum anderen würde anderenfalls der Schutzzweck der in § 12a Abs. 7 AufenthG enthaltenen Übergangsvorschrift in sein Gegenteil verkehrt. Die Norm soll in "Altfällen" vor den belastenden Rechtswirkungen des § 12a Abs. 1 Satz 1 AufenthG schützen, indem eine Wohnsitzverpflichtung nicht kraft Gesetzes gilt, sondern einer einzelfallbezogenen behördlichen Anordnung bedarf. Wenn - wie hier - eine Wohnsitzauflage für einen Ausländer, der schon vor dem Stichtag des 1. Januar 2016 Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG war und weiterhin ist, allein aus fiskalischen Gründen länger als drei Jahre aufrechterhalten bliebe, stünde diese Person entgegen der Intention des § 12a Abs. 7 AufenthG allerdings schlechter als der von § 12a Abs. 1 Satz 1 AufenthG erfasste Personenkreis.

§ 12a Abs. 1 Satz 1 AufenthG liegt der Rechtsgedanke zugrunde, dass eine Wohnsitzverpflichtung zwar förderlich ist, die Freiheit zur Wohnsitznahme im gesamten Bundesgebiet jedoch nicht über einen unbestimmten Zeitraum hinweg beschränkt werden darf (vgl. Schleswig-Holsteinisches VG, Urteil vom 14. August 2020 - 11 A 490/18 - juris, Rn. 45). Wegen des gesetzgeberisch beabsichtigten Charakters der Vorschrift als Spezialnorm verdrängt § 12a innerhalb seines persönlichen und sachlichen Anwendungsbereichs grundsätzlich die allgemeinere Vorschrift des § 12 Abs. 2 hinsichtlich der Möglichkeit der Erteilung von Wohnsitzauflagen (Maor, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 29. Ed. 1. April 2021, AufenthG § 12a Rn. 2 und 55a). Zum Schutz der von § 12a Abs. 1 Satz 1 AufenthG erfassten Personengruppe regelt § 12a Abs. 10 AufenthG, dass die dreijährige Wohnsitzverpflichtung grundsätzlich abschließend ist und nach Wegfall der Wohnsitzverpflichtung nach§ 12a Abs. 1 Satz 1 AufenthG nur in Ausnahmefällen gemäß. § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG verlängert oder aus in § 12a AufenthG nicht angeführten Gründen erteilt werden darf (BT-Drucks. 19/8692, S. 11). Hierfür ist eine besondere Begründung erforderlich (BR-Drucks. 99/19, S. 7 f.).

Ein Zeitraum von drei Jahren ist bei dem Kläger seit langem verstrichen. Denn die Wohnsitzauflage ist seit der erstmaligen Erteilung der Aufenthaltserlaubnis im Jahr 2011 durchgehend verfügt worden - zunächst beschränkt auf das Gebiet der Beklagten und seit 2013 auf das Land Sachsen-Anhalt. Ein allgemeiner Verweis der Beklagten auf ein fiskalisches Interesse an der Wohnsitznahme eines Ausländers, der Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII bezieht, in einem bestimmten Bundesland rechtfertigt eine ausnahmsweise Aufrechterhaltung der Wohnsitzauflage wegen atypischer Umstände nach §§ 12a Abs. 10, 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nicht. Der Gesetzgeber hat bei den mit § 12a Abs. 1 Satz 1 AufenthG verfolgten integrationsfördernden Zielen den fiskalischen Aspekt notwendigerweise bereits berücksichtigt. Denn er hat Personen, die sich ihren Lebensunterhalt durch eine näher bezeichneten Kriterien genügende sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, durch eine Ausbildung oder .ein Studium schon bei Erteilung des Aufenthaltstitels oder jedenfalls in absehbarer Zeit danach eigenständig sichern können, gemäß § 12a Abs. 1 Satz 2 AufenthG bewusst vom personellen Anwendungsbereich der dreijährigen Wohnsitznahmeverpflichtung ausgenommen. Darüber hinaus hat er in § 12a Abs. 5 Satz 1 Nr. 1a AufenthG einen Anspruch auf Aufhebung der Verpflichtung nach § 12a Abs. 1 bis 4 AufenthG normiert, wenn der Ausländer - anders als in den in Abs. 1 Satz 1 genannten Fällen - nachweist, dass ihm am Zielort ein den Lebensunterhalt sicherndes Einkommen oder ein Ausbildungs- oder Studienplatz zur Verfügung steht. Gleichwohl hat der Gesetzgeber auch für die von § 12a Abs. 1 Satz 1 AufenthG erfassten Personen, die gerade nicht zur Sicherung ihres Lebensunterhalts in der Lage sind, die Wohnsitzverpflichtung auf drei Jahre beschränkt.

Aber auch ungeachtet des Rechtsgedankens des § 12a Abs. 1 Satz 1 AufenthG vermag die von der Beklagten hauptsächlich geltend gemachte fiskalische Erwägung, wonach bei Bezug von Leistungen nach dem SGB II  der SGB XII Wohnsitzauflagen gemäß § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zur angemessenen Verteilung der Soziallasten zwischen den Bundesländern grundsätzlich gerechtfertigt seien, die Ermessensentscheidung zur räumlichen Beschränkung der Wohnsitznahme vorliegend nicht zu tragen. Denn im Fall der vom Kläger bezogenen Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung nach Kapitel IV SGB XII ist nicht ersichtlich, dass den Ländern Sozialhilfelasten entstehen, weil die Leistungen letztlich durch den Bund getragen werden. [...]

Nach alledem kann sich die Beklagte auf die Vorgaben in Nr. 12.2.5.2.4.1 ff. der AVvN AufenthG nicht ermessenslenkend berufen. In diesen am 26. Oktober 2009 erlassenen Verwaltungsvorschriften ist weder der in § 46a SGB XII vorgesehene 100 %-ige Erstattungsanspruch der Länder gegen den Bund, der erst durch Gesetz zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 20. Dezember 2012 (BGBl. I S. 2783 [Nr. 61]) geregelt worden ist, noch die durch das Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939 [Nr. 39]) eingefügte Norm des§ 12a AufenthG berücksichtigt.

Nachdem die fiskalischen Erwägungen der Beklagten ihre Ermessensentscheidung nicht zu tragen vermögen, verbleibt kein Raum dafür, die Wohnsitzauflage allein auf den weiteren pauschal ins Feld geführten Zweck, eine Konzentration von sozialhilfeabhängigen Ausländern in bestimmten Gebieten und damit von sozialen Brennpunkten zu vermeiden, zu stützen. Abgesehen davon fehlt es hierfür bereits an einer substantiierten Begründung der Beklagten, insbesondere an der Benennung und detaillierten Beschreibung solcher Gebiete, und an tragfähigen Erhebungen im konkreten Fall. [...]