VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 24.06.2021 - 20 K 1616/17.A - asyl.net: M30002
https://www.asyl.net/rsdb/m30002
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für homosexuellen Mann aus dem Libanon:

1. Homosexuelle können im Libanon im Falle nichtstaatlicher Verfolgung (z.B. durch Familienmitglieder) nicht mit staatlichem Schutz rechnen.

2. Im Libanon sind homosexuelle Handlungen strafbar und werden bei Strafanzeige auch staatlich verfolgt. Es kommt auch gelegentlich zur Verurteilungen und Haft, Schikanen und gewalttätigen Übergriffen durch Sicherheitsorgane sowie zu Razzien, Folter und erzwungenen rektalen Untersuchungen.

3. Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht - jedenfalls im vorliegenden Fall - nicht, da es nur in Beirut für Homosexuelle eine Möglichkeit gibt, unbehelligt zu leben. Da der Kläger aus Beirut stammt und auch seine Familie dort lebt, könnte er dort leicht aufgespürt werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Libanon, homosexuell, Flüchtlingsanerkennung, interne Fluchtalternative, Flüchtlingseigenschaft, nichtstaatliche Verfolgung, Strafverfahren, Strafgesetzbuch, Strafrecht, Freiheitsstrafe, staatliche Verfolgung, Strafbarkeit,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG §3e, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Die homosexuelle Orientierung des Klägers führt zur Gefahr einer Verfolgung im Falle der Rückkehr in den Libanon. Ihm drohen dort anknüpfend an seine geschlechtliche Identität (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG) Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG durch Akteure nach § 3e AsylG, ohne dass wirksamer Schutz vor Verfolgung (vgl. § 3d AsylG) oder interner Schutz (§ 3e AsylG) gegeben wären.

Der Kläger gehört einer "sozialen Gruppe" im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG an. Nach dieser Vorschrift gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet (vgl. dazu VG Köln, Urteil vom 08. März 2021 - 6 K 7659/18.A -, juris; VG Köln, Urteil vom 30. April 2019 - 2 K 2814/17.A -, juris; VG Köln, Gerichtsbescheid vom 03. November 2020 - 22 K 1012/20.A -, juris und ausführlich Titze, ZAR 2012, 93).

Das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, erlaubt die Feststellung, dass diese Personen eine abgegrenzte Gruppe bilden, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. EuGH, Urteil vom 07.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 -, juris Rn. 48). Homosexuelle Handlungen, auch zwischen Volljährigen, fallen im Libanon unter Art. 534 des Strafgesetzbuches ("widernatürliche Handlungen") und werden mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft. Eine generelle polizeiliche und gerichtliche Verfolgung von Personen, die der Homosexualität verdächtigt werden, findet nicht statt. Seit 2009 gab es einzelne Gerichtsentscheidungen, denen zufolge homosexuelle Handlungen nicht "widernatürlich" seien und daher tatbestandlich nicht von Art. 534 erfasst seien, darunter Einzelentscheidungen sowohl eines Berufungsgerichts als auch eines Militärgerichts. Dies ist allerdings weiterhin Ausdruck einer Minderheitsmeinung in der Rechtsprechung. Es kommt im Libanon regelmäßig zu teilweise gewaltsamen Übergriffen auf homosexuelle Personen, die von Einzelpersonen, aber auch religiösen Gruppen, örtlichen Banden und sogar staatlichen Sicherheitskräften ausgehen. Die Betroffenen wenden sich oftmals nicht an die Behörden, da ihnen neben der Gefahr der Strafverfolgung auch Schikanen durch die Sicherheitsbehörden drohen. Nichtregierungsorganisationen berichten von willkürlichen Verhaftungen von homosexuellen Personen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon vom 04.01.2021, Stand Dezember 2020, S. 15; U.S. State Department, Lebanon 2020 Human Rights Report vom 30.03.2021, S. 4, 9 und 44).

Ob die Rechtslage und die Verfolgungspraxis der Strafverolgungsorgane im Libanon für sich genommen ausreicht, um eine hinreichend schwerwiegende staatliche Verfolgung mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit zu begründen, kann dahinstehen, weil der libanesische Staat nicht willens ist, dem Kläger Schutz vor Verfolgung durch Dritte (§ 3c Nr. 3 AsylG), die ihm im Libanon nach der Überzeugung des Gerichts droht, zu bieten.

Das Gericht glaubt dem Kläger, dass er von Seiten seiner Familie, insbesondere seines Bruders, massive Gewalt und Freiheitsberaubungen erfahren musste und dass ihm Teile der Familie bei einer Rückkehr in den Libanon wegen seiner sexuellen Orientierung nach dem Leben trachten würden. Der Kläger könnte vor solchen Übergriffen keinen staatlichen Schutz (§ 3d AsylG) erhalten. Er müsste gegenüber den Behörden.seine Homosexualität offenbaren und sich damit der Gefahr der Strafverfolgung aussetzen. Auch wenn Personen, die der Homosexualität verdächtigt werden, im Libanon nicht "generell" verfolgt werden, ist es dem Kläger angesichts der nach wie vor verhängten Freiheitsstrafen für homosexuelle Menschen im Libanon nicht zumutbar, sich gegenüber den Strafverfolgungsorganen als homosexuell zu offenbaren.

Dem Kläger steht im Libanon keine innerstaatliche Fluchtalternative gem. § 3e AsylG zur Verfügung. Der Kläger stammt aus einem südlichen Vorort von Beirut. Eine Niederlassung dort kommt nicht in Betracht, da zu befürchten steht, dass der Kläger dort von seiner Familie aufgespürt werden könnte. Das gilt auch bei einer Niederlassung in einem anderen Stadtteil der Millionenstadt Beirut. Homosexuelle können in Beirut zwar eine gewisse Toleranz erwarten, sie sind aber gleichwohl Teil einer exponierten und sozial auffälligen Minderheit. Es steht zu befürchten, dass der (nunmehr) offen homosexuell  lebende Kläger von Dritten erkannt und an seine Familie gemeldet werden könnte.

Vom Kläger darf nicht erwartet werden, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden (vgl. EuGH, Urteil vom 07.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 -, juris Rn. 65).

Auch im restlichen Libanon besteht keine innerstaatliche Fluchtalternative. Der Kläger würde dort nicht aufgenommen werden (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Der Kläger wäre in anderen Teilen des Libanons in noch weit stärkerem Maße unzumutbaren Diskriminierungen ausgesetzt. Während in Teilen Beiruts eine im Vergleich zu anderen Ländern der Region weitgehende Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten vorherrscht und auch Nichtregierungsorganisationen (u.a. HELEM) toleriert werden und mit gewissen Einschränkungen arbeiten können, sind soziale Zwänge außerhalb Beiruts groß (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libanon vom 04.01.2021, Stand Dezember 2020, S. 15).

Der Kläger würde als offen homosexuell lebender Mann dort jedenfalls als Fremder behandelt, dem die Teilnahme am gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben verweigert wird. [...]