EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 02.09.2021 - C-930/19 X gg. Belgien (Asylmagazin 4/2022, S. 131 f.) - asyl.net: M30009
https://www.asyl.net/rsdb/m30009
Leitsatz:

Zur Fortgeltung eines abgeleiteten Freizügigkeitsrechts bei Gewaltopfern:

1. Drittstaatsangehörige, die mit von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch machenden Unionsbürger*innen verheiratet sind, verlieren ihr abgeleitetes Freizügigkeitsrecht durch den Wegzug der Ehepartner*innen aus dem Aufnahmemitgliedstaat dann nicht unmittelbar, wenn sie Opfer von Gewalthandlungen durch die Ehepartner*innen geworden sind. Zur Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts nach Art. 13 der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG ist es jedoch erforderlich, dass das Scheidungsverfahren innerhalb einer angemessenen Frist nach dem Wegzug eingeleitet wird.

2. Es ist mit dem Unionsrecht vereinbar, wenn Art. 13 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG voraussetzt, dass auch in den Fällen von Gewalthandlungen durch die Ehepartner*innen mit Unionsbürgerschaft die drittstaatsangehörigen Ehepart*innen ihr Aufenthaltsrecht als Familienangehörige im Falle einer Scheidung nur dann behalten, wenn sie nachweisen, dass sie selbst Arbeitnehmer oder Selbstständige sind oder für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Unionsrecht, eigenständiges Aufenthaltsrecht, drittstaatsangehöriger Ehegatte, besondere Härte, X, Belgien, häusliche Gewalt, Unionsbürgerrichtlinie, freizügigkeitsberechtigt,
Normen: RL 2004/38/EG Art. 13 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

32 In diesem Zusammenhang ist der Anwendungsbereich von Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 zu bestimmen, bevor die Gültigkeit von Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 2 dieser Richtlinie im Hinblick auf die von dem vorlegenden Gericht angeführten Gründe beurteilt wird.

33 Insoweit ergibt sich zunächst sowohl aus der Überschrift als auch aus dem Wortlaut von Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38, dass die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts, das den Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, nach dieser Bestimmung zusteht, u. a. für den Fall der Scheidung vorgesehen ist und dass daher eine Scheidung, wenn die in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen erfüllt sind, nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts führt (Urteil vom 30. Juni 2016, NA, C-115/15, EU:C:2016:487, Rn. 40). [...]

38 Hierzu heißt es im Richtlinienvorschlag, das Ziel der vorgeschlagenen Bestimmung, des späteren Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38, sei es, Drittstaatsangehörigen einen gewissen Rechtsschutz zu bieten, da ihr Aufenthaltsrecht von der durch die Ehe ausgedrückten familiären Bindung abhängig sei und sie daher mit einer Scheidungsandrohung unter Druck gesetzt werden könnten; ein solcher Schutz sei nur erforderlich, wenn ein rechtskräftiges Scheidungsurteil vorliege, da das Aufenthaltsrecht des einem Drittstaat angehörenden Ehegatten nicht berührt werde, wenn die Ehegatten getrennt lebten (Urteil vom 30. Juni 2016, NA, C-115/15, EU:C:2016:487, Rn. 47).

39 Solange die Ehe besteht, bleibt der Ehegatte, der Drittstaatsangehöriger ist, nämlich Familienangehöriger des Unionsbürgers im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2004/38 und genießt als solcher ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat oder gegebenenfalls in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt (Urteil vom 12. März 2014, O. und B., C-456/12, EU:C:2014:135, Rn. 61).

40 Aus dem Vorstehenden folgt, dass nach dem Wortlaut, dem Kontext und der Zielsetzung von Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 die Durchführung dieser Bestimmung einschließlich des Rechts aus Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 von der Scheidung der Betroffenen abhängt (Urteil vom 30. Juni 2016, NA, C-115/15, EU:C:2016:487, Rn. 48).

41 In Rn. 62 des Urteils vom 16. Juli 2015, Singh u. a. (C-218/14, EU:C:2015:476), hat der Gerichtshof entschieden, dass in dem Fall, dass der Unionsbürger vor der Einleitung des gerichtlichen Scheidungsverfahrens den Mitgliedstaat, in dem sich sein Ehegatte aufhält, verlässt, um sich in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat niederzulassen, das abgeleitete Aufenthaltsrecht des Drittstaatsangehörigen aus Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 mit dem Wegzug des Unionsbürgers endet und nicht mehr auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie aufrechterhalten werden kann. [...]

43 Entgegen den Ausführungen in Rn. 51 des Urteils vom 30. Juni 2016, NA (C-115/15, EU:C:2016:487), ist daher davon auszugehen, dass für die Zwecke der Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts gemäß Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 das gerichtliche Scheidungs - verfahren nach dem Wegzug des Unionsbürgers aus dem Aufnahmemitgliedstaat eingeleitet werden kann. Im Interesse der Rechtssicherheit kann ein Drittstaatsangehöriger, der Opfer von Gewalthandlungen im häuslichen Bereich seitens seines Ehegatten mit Unionsbürgerschaft geworden ist und dessen gerichtliches Scheidungsverfahren nicht vor dessen Wegzug aus dem Aufnahmemitgliedstaat eingeleitet worden ist, die Aufrechterhaltung seines Aufenthaltsrechts nach dieser Bestimmung jedoch nur geltend machen, sofern dieses Verfahren innerhalb einer angemessenen Frist nach dem entsprechenden Wegzug eingeleitet wird.

44 Dem betroffenen Drittstaatsangehörigen, der Ehegatte eines Unionsbürgers ist, sollte nämlich ausreichend Zeit eingeräumt werden, um zwischen den beiden Möglichkeiten, die ihm die Richtlinie 2004/38 im Hinblick auf die Aufrechterhaltung eines Aufenthaltsrechts nach dieser Richtlinie bietet, wählen zu können, nämlich entweder ein gerichtliches Scheidungsverfahren zum Zweck der Erlangung eines persönlichen Aufenthaltsrechts nach Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie einzuleiten oder sich in dem Mitgliedstaat, in dem der Unionsbürger wohnt, niederzulassen, um sein abgeleitetes Aufenthaltsrecht aufrechtzuerhalten. Insoweit ist hinzuzufügen, dass der Ehegatte nicht notwendigerweise ständig bei dem Unionsbürger wohnen muss, um Inhaber eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts zu sein (Urteile vom 13. Februar 1985, Diatta, 267/83, EU:C:1985:67, Rn. 20 und 22, und vom 8. November 2012, Iida, C-40/11, EU:C:2012:691, Rn. 58).

45 Im vorliegenden Fall ist der Kläger des Ausgangsverfahrens, wie in Rn. 31 des vorliegenden Urteils ausgeführt, seiner Ehefrau nicht in deren Herkunftsmitgliedstaat nachgezogen. Er hat das gerichtliche Scheidungsverfahren am 5. Juli 2018 eingeleitet, also fast drei Jahre, nachdem seine Frau und die gemeinsame Tochter den Aufnahmemitgliedstaat verlassen hatten; dies scheint keine angemessene Zeit zu sein. [...]

59 Im vorliegenden Fall hegt das vorlegende Gericht Zweifel an der Gültigkeit von Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38, da er eine Regelung treffe, die sich von derjenigen in Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86 unterscheide, obwohl beide in identischen Situationen Anwendung fänden.

60 Insoweit sieht, was erstens die Regelung in Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 betrifft, Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 dieser Richtlinie vor, dass die Scheidung für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, namentlich dann nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts führt, wenn es aufgrund besonders schwieriger Umstände erforderlich ist, wie bei Opfern von Gewalt im häuslichen Bereich während der Ehe. Wie in Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 3 dieser Richtlinie ausgeführt, behalten diese Familienangehörigen ihr Aufenthaltsrecht ausschließlich auf persönlicher Grundlage.

61 Die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts dieser Familienangehörigen vor dem Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt ist jedoch an die Bedingungen gemäß Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2004/38 geknüpft, d. h., dass der Betroffene nachweist, dass er Arbeitnehmer ist oder dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und dass sie über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz in diesem Mitgliedstaat verfügen oder dass sie bereits in diesem Mitgliedstaat als Familienangehörige einer Person gelten, die diese Voraussetzungen erfüllt. [...]

90 Es ist daher davon auszugehen, dass sich im Hinblick auf die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats mit einem Unionsbürger verheiratete Drittstaatsangehörige, die von dessen Seite Gewalthandlungen im häuslichen Bereich ausgesetzt waren und unter die Richtlinie 2004/38 fallen, auf der einen Seite und mit einem anderen Drittstaatsangehörigen verheiratete Drittstaatsangehörige, die von dessen Seite Gewalthandlungen im häuslichen Bereich ausgesetzt waren und unter die Richtlinie 2003/86 fallen, auf der anderen Seite für die etwaige Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes, dessen Wahrung das Unionsrecht und insbesondere Art. 20 der Charta sicherstellen, nicht in einer vergleichbaren Situation befinden.

91 Nach alledem ist festzustellen, dass die Prüfung der Frage des vorlegenden Gerichts nichts ergeben hat, was die Gültigkeit von Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38, gemessen an Art. 20 der Charta, berühren könnte. [...]