LSG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 30.08.2021 - L 6 AS 10003/21 B ER - asyl.net: M30015
https://www.asyl.net/rsdb/m30015
Leitsatz:

Anspruch auf Sozialleistungen nach dem SGB II bei Wiederaufleben des Freizügigkeitsrechts:

1. Die Tatbestandswirkung einer Verlustfeststellung nach dem Freizügigkeitsrecht ist beschränkt.

2. Wird nach Verlust der Freizügigkeit ein neuer Tatbestand verwirklicht, der ein Freizügigkeitsrecht begründen kann, und bleibt die zuständige Ausländerbehörde untätig, so können die Sozialgerichte ohne Bindung an die Verlustfeststellung den zuständigen Leistungsträger vorläufig zu Leistungen verpflichten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: EU-Staatsangehörige, Arbeitnehmereigenschaft, Verlust des Freizügigkeitsrechts, Sozialleistungen, einstweilige Anordnung, Leistungsausschluss, Sozialgericht, materielles Freizügigkeitsrecht, Verlustfeststellung,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, FreizügG/EU § 5 Abs. 4, SGG § 86, SGB XII § 23 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

28 Hiervon ausgehend ist dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage zu entsprechen. Der in der Hauptsache angefochtene Aufhebungsbescheid vom 6. Mai 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Juni 2021 erweist sich als rechtswidrig. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der in der Hauptsache erhobenen reinen Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) der Erlass des Widerspruchsbescheids. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Antragstellerin zu 1) die Voraussetzungen eines Freizügigkeitstatbestandes infolge ihrer Arbeitsaufnahme zum 11. Juni 2021 neu verwirklicht. Hierdurch wird die Tatbestandswirkung der Verlustfeststellung begrenzt mit der Folge, dass die streitigen Bescheide teilweise rechtswidrig wurden bzw. sind und den Antragstellern die ursprünglich mit Bescheid vom 24. Februar 2021 bewilligten Leistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung des Erwerbseinkommens der Antragstellerin zu 1) zum 11. Juni 2021 wieder zu gewähren sind.

29 Rechtsgrundlage für die Aufhebung der mit Bewilligungsbescheid vom 24. Februar 2021 bewilligten Leistungen ist § 48 Abs.1 Satz 1 SGB X. Hiernach ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht mehr erfüllt.

30 Zwar geht das Sozialgericht zutreffend davon aus, dass der Bescheid der Ausländerbehörde vom 27. April 2021 eine Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II grundsätzlich sperrt (Beschluss des Senats vom 8. Juli 2021 – L 6 AS 92/21 B ER – juris). Auf die Vollziehbarkeit des Bescheids kommt es nicht an.

31 Jedoch ist die Antragstellerin zu 1) seit 11. Juni 2021 aufgrund ihrer Arbeitnehmereigenschaft aufgrund von primärem EU-Recht und nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU wieder freizügigkeitsberechtigt (zu den Voraussetzungen des Arbeitnehmerbegriffs im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU: Beschluss des Senats vom 11. November 2015 – L 6 AS 197/15 B ER – juris Rn 20 m.w.N). Nach den Angaben der Antragsteller und ausweislich der vorliegenden Unterlagen war die Antragstellerin zu 1) in der Zeit vom 11. Juni 2021 bis 15. Juli 2021 als Reinigungskraft mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 12 Stunden und einem Stundenlohn von 11,11 €/brutto bei der W Gebäudereinigung H GmbH & Co KG beschäftigt. Seit dem 16. Juli 2021 steht sie in einem unbefristeten sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis als Reinigungskraft bei der D Service Deutschland GmbH mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 30 Stunden und ebenfalls einem Stundenlohn von 11,11 €/brutto.

32 Mit der Arbeitnehmereigenschaft der Antragstellerin zu 1) hat auch der Antragsteller zu 3) als Schüler der Grundschule ein Aufenthaltsrecht aus Art.10 VO (EU) 492/2011. Als minderjährige Kinder der Antragstellerin zu 1) besteht für die Antragstellerinnen zu 2) und 4) ebenfalls ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht.

33 Dem Entstehen der Freizügigkeitsberechtigung seit dem 11. Juni 2021 steht die Wirkung der Verlustfeststellung der Ausländerbehörde vom 27. April 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. Juli 2021 nicht entgegen.

34 Ob sich die Verlustfeststellung mit dem nach ihrem Erlass kraft Gesetzes verwirklichten neuen Freizügigkeitstatbestand im Sinne des § 112 Abs. 2 Landesverwaltungsgesetz (LVwG) auf andere Weise als durch Zeitablauf jedenfalls mit Wirkung ex nunc erledigt hat (so LSG Hessen, Beschluss vom 9. Oktober 2019 – juris Rn. 46 f.) oder bei Neuerwerb der Freizügigkeitsberechtigung in einem andauernden Gerichtsverfahren die Verlustfeststellung entweder mit Wirkung ex nunc aufzuheben ist oder als zeitlich teilbarer Verwaltungsakt nachträglich auf bestimmte zurückliegende Zeiträume beschränkt werden kann und mithin grundsätzlich das Handeln der Ausländerbehörde erfordern (so unter Hinweis auf die Rspr. des BVerwG LSG NRW, Beschluss vom 16. März 2020 – L 19 AS 2035/19 B ER – juris Rn. 38 ff) kann offenbleiben.

35 Wie der erkennende Senat bereits mit Beschluss vom 8. Juli 2021 L 6 AS 92/21 B ER (juris) angedeutet hat, können Umstände, die eine materielle europarechtliche Freizügigkeitsberechtigung verwirklichen und die zeitlich nach Erlass der Verlustfeststellung eintreten, trotz der Rechtswirkungen einer Verlustfeststellung zu berücksichtigen sein. Allerdings ist es zunächst Aufgabe der Verwaltung diese Umstände zu überprüfen, bevor gerichtlicher Rechtsschutz in Anspruch genommen wird. Vorliegend haben die Antragsteller den Antragsgegner und auch die Beigeladene als Ausländerbehörde über die erneute Arbeitsaufnahme der Antragstellerin zu 1) zum 11. Juni 2021 und auch zum 16. Juli 2021 zeitnah informiert. Trotz Kenntnis darüber blieben die Widersprüche gegen die Leistungsaufhebung und gegen die Verlustfeststellung erfolglos.

36 Es ist glaubhaft gemacht, dass die Antragstellerin zu 1) ein primärrechtliches Freizügigkeitsrecht verwirklicht. Hierbei ist – entgegen der Auffassung des Sozialgerichts – die Frage, ob ein Aufenthaltsrecht besteht, systematisch zutreffend im Rahmen der Leistungsausschlüsse nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II und nicht bereits bei den allgemeinen Leistungsvoraussetzungen gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II (hier § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 "gewöhnlicher Aufenthalt"; a.A. LSG NRW, Beschluss vom 16. März 2020 – L 19 AS 2035/19 B ER – juris Rn. 35) zu prüfen. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. a SGB II zeigt dies deutlich. Einer Modifikation der Definition des gewöhnlichen Aufenthaltes bedarf es deswegen nicht (vgl. Leopold in jurisPK-SGB II, Stand 5. Januar 2021, § 7 Rn. 85). Auf die Rspr. des BSG, der sich der Senat anschließt, wird verwiesen (BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 – B 4 AS 54/12 R – juris Rn. 18 ff.). Insoweit hat der Senat am gewöhnlichen Aufenthalt der Antragsteller im Geltungsbereich des Gesetzes (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II) keine Zweifel. Die Ausreisepflicht kann erst vollzogen werden, wenn der Bescheid der Ausländerbehörde bestandskräftig geworden ist. Der Sofortvollzug wurde nicht angeordnet. Es besteht daher vorliegend nach Klageerhebung beim Verwaltungsgericht derzeit keine Ausreisepflicht der Antragsteller. Es liegen auch keine Anhaltspunkte vor, dass die Antragsteller in absehbarer Zeit die Bundesrepublik Deutschland wieder verlassen wollen.

37 Allerdings bedarf es bei der zentralen Frage, ob ein Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vorliegt, einer eigenständigen materiellen Prüfung, bei der jedenfalls Umstände, die eine materielle Freizügigkeitsberechtigung verwirklichen und die zeitlich nach Erlass der Verlustfeststellung eintreten, berücksichtigt werden müssen. Die Tatbestandswirkung einer Verlustfeststellung (siehe hierzu Beschluss desSenats vom 8. Juli 2021 – L 6 AS 92/21 B ER – juris) ist insoweit begrenzt. Auch nach der Rspr. des BSG sind die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit befugt, im Rahmen eines eigenständigen Prüfungsrechts den materiellen Aufenthaltsstatus von Unionsbürger zu prüfen (siehe BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 – B 4 AS 54/12 R – juris Rn. 23 ff.). Diesem Verständnis folgend führt auch das LSG Hessen zu § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 SGB XII (Beschluss vom 9. Oktober 2019 – L 4 SO 160/19 B ER – juris Rn. 48 ff.) aus: 38 "Zu 2.: Ungeachtet dessen verpflichten die Leistungsausschlüsse des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 SGB XII die Sozialbehörden wie die Sozialgerichte im Bereich der Freizügigkeit der Unionsbürger zu einer materiellen Betrachtungsweise. Die Regelungen in § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 SGB XII stellen nicht auf eine Freizügigkeitsberechtigung als solche ab, sondern vorrangig auf deren materiellen Grund; daher ist eine Prüfung aller in Betracht kommenden Aufenthaltsrechtstatbestände notwendig. Bereits das Vorhandensein der Voraussetzungen einer Freizügigkeitsberechtigung aus einem anderen Grund als dem Zweck der Arbeitsuche hindert die Feststellung, "kein Aufenthaltsrecht" zu haben, und die notwendige positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" i.S.d. § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII (vgl. BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 – B 4 AS 54/12 R, SGb 2013, 603, Rn. 23; BSG, Urteil vom 13. Juli 2017– B 4 AS 17/16 R, SozR 4-4200 § 7 Nr. 54, Rn. 18). Insbesondere mit der Schaffung des neuen Leistungsausschlusses für Personen, "die kein Aufenthaltsrecht" haben, wollte der Gesetzgeber klarstellen, "dass nicht erwerbstätige Personen ohne materielles Freizügigkeits- oder Aufenthaltsrecht "erst recht" von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind" (BR-Drs. 587/16 S. 7 f.). Die Neufassung steht damit der zuvor verbreitet vertretenen Rechtsauffassung entgegen, die gegen einen "erst recht"-Schluss eingewandt hatte, dass bis zur Verlustfeststellung durch die Ausländerbehörde nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU von der Freizügigkeitsvermutung auszugehen sei. Mithin sollte klargestellt werden, dass Sozialleistungsträger und die Sozialgerichte zur eigenständigen Prüfung der materiellen Rechtslage ermächtigt sind; sie sollten gerade nicht vom Erlass der Verlustfeststellung abhängig sein. Die gesetzlich angeordnete materielle Betrachtungsweise setzt sich in umgekehrter Richtung auch gegen eine rechtswidrig gewordene Verlustfeststellung durch, nämlich dort, wo das Gesetz nicht auf die Verlustfeststellung selbst – wie etwa in § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII – sondern allein auf das materielle Recht abstellt. [...]

41 Dem schließt sich der Senat an und überträgt diese Rechtsprechung auf den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II.

42 Damit geht der Senat im Falle einer Verlustfeststellung grundsätzlich von einer Tatbestandswirkung und mithin einem Leistungsausschluss aus. Auch allgemeine Leistungen nach § 23 Abs. SGB XII sowie Leistungen nach dem AsylbLG sind ausgeschlossen (siehe Beschluss des Senats vom 8. Juli 2021 – L 6 AS 92/21 B ER – juris). Den Betroffenen stehen danach lediglich Leistungen nach § 23 Abs. 6 SGB XII zu, die grundsätzlich zeitlich beschränkt sind und grundsätzlich Ausnahmecharakter haben. Wird nach Verlust der Freizügigkeit ein neuer Tatbestand verwirklicht, der ein Freizügigkeitsrecht begründen kann, so bedarf es einer Befassung der zuständigen Ausländerbehörde mit der Gelegenheit zur Prüfung, ob eine rechtswidrige oder rechtswidrig gewordene Verlustfeststellung aufzuheben ist. Sofern diese untätig bleibt oder die neuen Umstände nicht berücksichtigt, können die Sozialgerichte im Rahmen des von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ohne Bindung an die Verlustfeststellung eigenständig das Aufenthaltsrecht bejahen und den zuständigen Leistungsträger – hier also den Antragsgegner und nicht die Beigeladene – vorläufig zu Leistungen verpflichten. Ein solches Verständnis ist auch durch den effektiven Rechtsschutz bei existenzsichernden Leistungen geboten. Für EU-Bürgerinnen und Bürger gibt es keine Möglichkeit, die grundsicherungsrechtlich relevanten Folgen einer Verlustfeststellung bei den Verwaltungsgerichten im Eilverfahren überprüfen zu lassen, denn die spezifisch ausländerrechtlichen Folgen der Abschiebung werden durch die aufschiebende Wirkung berücksichtigt. Die Ausländerbehörde könnte dann ohne die Möglichkeit eines Rechtsschutzes ggf. über Monate oder Jahre entgegen der materiellen Rechtslage die Verwirklichung der unionsrechtlichen Freizügigkeit im Sozialrecht und damit letztlich die Gewährung existenzsichernder Leistungen verhindern. Bei fehlender sofortiger Vollziehbarkeit der Verlustfeststellung – was der Regelfall sein dürfte und auch vorliegend der Fall ist – stünde den Betroffenen, worauf der Prozessbevollmächtige der Antragsteller in seiner Beschwerdebegründung auch verwiesen hat, dann lediglich der Weg über ein oftmals mehrere Jahre dauerndes ordentliches Gerichtsverfahren vor den Verwaltungsgerichten offen. Die  Verlustfeststellung würde dann ähnlich einer Wiedereinreisesperre wirken, die unionsrechtlich im Falle des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU unverhältnismäßig wäre (vgl. LSG Hessen, a.a.O., Rn. 46 m.w.N.). [...]