OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 02.09.2021 - 4 Bf 546/19.A - asyl.net: M30024
https://www.asyl.net/rsdb/m30024
Leitsatz:

Keine Flüchtlingsanerkennung für vom Militärdienst in Eritrea geflüchtete Frau:

"1. Die Einberufung zum Nationaldienst in Eritrea knüpft nicht an einen Verfolgungsgrund im Sinne der §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b AsylG an.

2. Frauen im Nationaldienst Eritreas bilden keine bestimmte soziale Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG.

3. Es besteht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der eritreische Staat jedem eritreischen Staatsbürger allein deshalb eine Regimegegnerschaft bzw. oppositionelle politische Überzeugung unterstellt, weil er illegal ausgereist ist, dadurch den Nationaldienst nicht ableistet und im Ausland einen Asylantrag gestellt hat."

(Amtliche Leitsätze; anschließend an OVG Hamburg, Beschluss vom 01.12.2020 - 4 Bf 205/18.A (Asylmagazin 3/2021, S. 87 ff.) - asyl.net: M29184)

Anmerkung:

  • Die vom EuGH (Urteil vom 19.11.2020 - C-238/19 EZ gg. Deutschland (Asylmagazin 12/2020, S. 424 ff.) - asyl.net: M29016) im Verfahren eines syrischen Militärdienstentziehers aufgestellte starke Vermutung dafür, dass eine Verknüpfung der Strafverfolgung der Militärdienstentziehung mit einem flüchtlingsschutzrelevanten Merkmal vorliegt, wird vom OVG nicht angewandt. Hierfür fehle es in Eritrea an einem Konflikt, der Verbrechen umfasst, die unter die Ausschlussklausel in § 3 Abs. 2 AsylG fallen (u.a. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit).
  • Siehe auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13.07.2021 - A 13 S 1563/20 (Asylmagazin 9/2021, S. 323 ff.) - asyl.net: M29893.
Schlagwörter: Eritrea, Frauen, Nationaldienst, geschlechtsspezifische Verfolgung, Upgrade-Klage, Militärdienst, Flüchtlingseigenschaft, sexueller Missbrauch, Straflosigkeit, soziale Gruppe, Diskriminierung, politische Verfolgung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Nach diesen Maßstäben lässt sich aufgrund der vorliegenden Erkenntnisquellen über den Staat Eritrea sowie den eigenen Angaben der Klägerin in ihrer Anhörung bei der Beklagten und im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht nicht zur Überzeugung des Senats feststellen, dass der Klägerin, die nicht vorverfolgt aus Eritrea ausgereist ist (dazu unter aa)), im Falle ihrer Rückkehr nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht. Dies gilt zunächst im Hinblick auf eine (erneute) Heranziehung der Klägerin zum Nationaldienst als solchem (dazu unter bb)). Auch kann sich die Klägerin nicht darauf berufen, ihr drohe im Rahmen des Nationaldienstes geschlechtsspezifische Gewalt in Anknüpfung an ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der Frauen als bestimmte soziale Gruppe (dazu unter cc)). Schließlich erfüllt auch die von der Klägerin befürchtete Bestrafung wegen illegaler Ausreise und Flucht aus dem Nationaldienst nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, da sie jedenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich "wegen" eines der in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründe erfolgen würde (dazu unter dd)). [...]

bb) Eine der Klägerin im Falle ihrer Rückkehr nach Eritrea drohende – erneute – Einberufung zum Nationaldienst stellt für sich genommen keine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG dar. [...]

Ob in einer (erneuten) Heranziehung der inzwischen 20-jährigen und damit grundsätzlich dienstverpflichteten Klägerin zum unbefristeten Nationaldienst für sich genommen eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG zu sehen ist, kann offen bleiben. Denn die Nationaldienstpflicht knüpft jedenfalls nicht – wie es § 3a Abs. 3 AsylG fordert – an einen der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründe an. Wie bereits ausgeführt, trifft die Verpflichtung zur Ableistung des Nationaldienstes im Wesentlichen alle eritreischen Staatsangehörigen (vgl. Art. 6 und 8 der Proklamation Nr. 82/1995: "any Eritrean citizen", "all Eritrean citizens"). Eine Unterscheidung nach Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe findet insoweit nicht statt (vgl. Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, Stand November 2020, 25.1.2021, S. 15 f. [G 2021/1]; EASO, Eritrea Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 33 f. [G 4/19]; EASO, Bericht über Herkunftsländerinformationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 33 f. [G 1/15]; so auch die obergerichtliche Rechtsprechung: VGH Mannheim, Urt. v. 13.7.2021, A 13 S 1563/20, juris Rn. 32 ff.; OVG Münster, Beschl. v. 21.9.2020, 19 A 1857/19.A, juris Rn. 37 ff.; OVG Lüneburg, Beschl. v. 24.8.2020, 4 LA 167/20, juris Rn. 3 ff.; VGH München, Urt. v. 5.2.2020, 23 B 18.31593, juris Rn. 28 ff.; VGH Kassel, Urt. v. 20.7.2019, 10 A 797/18.A, juris Rn. 25 ff.; OVG Saarlouis, Urt. v. 21.3.2019, 2 A 7/18, juris Rn. 27 ff.; OVG Hamburg, Urt. v. 21.9.2018, 4 Bf 186/18.A, juris Rn. 45 ff.).

cc) Soweit die Klägerin geltend macht, dass ihr im Rahmen des Nationaldienstes geschlechtsspezifische Verfolgungshandlungen, insbesondere sexualisierte Gewalt, in Anknüpfung an das Merkmal "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" drohten, rechtfertigt dies nicht die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes.

Die Frauen im Nationaldienst Eritreas bilden keine bestimmte soziale Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 1 lit. a) und b) AsylG. Hiernach gilt eine Gruppe insbesondere dann als bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Die Voraussetzungen der Buchstaben a) und b) der Norm müssen kumulativ erfüllt sein. Das selbständige Erfordernis der "deutlich abgegrenzten Identität" schließt eine Auslegung aus, nach der eine "soziale Gruppe" im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG allein dadurch begründet wird, dass eine Mehr- oder Vielzahl von Personen in vergleichbarer Weise von etwa als Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 oder 2 AsylG zu qualifizierenden Maßnahmen betroffen wird (EuGH, Urt. v. 25.1.2018, C-473/16, juris Rn. 30; BVerwG, Beschl. v. 23.9.2019, 1 B 54.19, juris Rn. 8; OVG Münster, Beschl. v. 21.9.2020, 19 A 1857/19.A, juris Rn. 112). [...]

dd) Eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ergibt sich schließlich auch nicht aus dem Vorbringen der Klägerin, ihr drohe im Falle der Rückkehr nach Eritrea eine menschenrechtswidrige Bestrafung wegen illegaler Ausreise und Flucht aus dem Nationaldienst. [...]

(1) Eine Bestrafung von eritreischen Staatsangehörigen allein wegen illegaler Ausreise und damit einhergehender Umgehung des Nationaldienstes knüpft nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an die politische Überzeugung der Betroffenen an. [...]

Nach diesen Maßstäben ist nicht festzustellen, dass in Eritrea die strafrechtliche Sanktionierung von illegaler Ausreise und Umgehung des Nationaldienstes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zielgerichtet eingesetzt wird, um betroffene Personen wegen ihrer – auch nur zugeschriebenen – politischen Überzeugung zu treffen. Bei zusammenfassender, qualitativer Würdigung der vorliegenden Erkenntnisquellen überwiegen zur Überzeugung des Senats die Tatsachen, die dagegen sprechen, dass der eritreische Staat jedem eritreischen Staatsbürger, der illegal ausgereist ist und dadurch den Nationaldienst umgeht, generell eine Regimegegnerschaft bzw. oppositionelle politische Überzeugung unterstellt, die dafür sprechenden Umstände (dazu unter (a); vgl. auch OVG Hamburg, Urt. v. 21.9.2018, 4 Bf 186/18.A, juris Rn. 58). Anhaltspunkte für eine abweichende Betrachtung folgen weder aus individuellen Umständen der Klägerin (dazu unter (b)) noch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur flüchtlingsschutzrechtlichen Relevanz von Strafverfolgung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt (dazu unter (c)). [...]

(c) Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur flüchtlingsschutzrechtlichen Relevanz von Strafverfolgung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt (insbesondere Urt. v. 19.11.2020, C-238/19, juris) folgt nichts Anderes. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat klargestellt, dass es auch im Rahmen von Art. 9 Abs. 2 lit. e) RL 2011/95/EU (wortlautidentisch umgesetzt in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG) einer Verknüpfung zwischen Verfolgungsgrund und Verfolgungshandlung bedarf. Die Verfolgung muss gerade wegen eines in § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 3b Abs. 1 AsylG genannten Grundes erfolgen. Die Plausibilität dieser Verknüpfung ist durch die zuständigen nationalen Behörden zu prüfen, wenn die Verweigerung des Militärdienstes unter den in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG genannten Voraussetzungen erfolgt, da in diesem Fall eine starke Vermutung für eine Verknüpfung besteht (vgl. EuGH, Urt. v. 19.11.2020, C-238/19, juris Rn. 61). Die Verweigerung des Militärdienstes, um nicht an Kriegsverbrechen im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylG mitzuwirken oder diese zu unterstützen, dürfte regelmäßig Ausdruck einer politischen Überzeugung sein (OVG Hamburg, Urt. v. 11.1.2018, 1 Bf 81/17.A, juris Rn. 154).

Hier ist bereits der sachliche Anwendungsbereich der Vorschrift nicht eröffnet. Notwendige Voraussetzung hierfür ist, dass der Schutzsuchende den Militärdienst "in einem Konflikt" verweigert hat. Im Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin fehlte es jedoch an einem derartigen Konflikt.

Auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Regierung Eritreas – wohl weiterhin – im Konflikt um die Autonomiebestrebungen in der äthiopischen Region Tigray auf Seiten der äthiopischen Regierung involviert ist (vgl. Pressemitteilung des Auswärtigen Amtes v. 1.7.2021, www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/tigray/2469170; letzter Abruf am 27.7.2021), hierzu auch bereits demobilisierte Eritreer wieder in die Armee einberufen wurden und von einer möglichen Beteiligung von Kräften der eritreischen Armee an Gewalttaten und einem Massaker unter der Zivilbevölkerung in der äthiopischen Stadt Aksum in der Region Tigray berichtet wird (vgl. Neue Zürcher Zeitung v. 27.5.2021, abrufbar unter: www.nzz.ch/international/gewalteskalation-in-aethiopien-die-neusten-entwicklungen-ld.1586148 [letzter Abruf am 9.6.2021]; Spiegel.de v. 5.3.2021, abrufbar unter: www.spiegel.de/ausland/tigray-konflikt-human-rights-watch-wirft-truppen-aus-eritrea-massaker-vor-a-b97cd6c0-86b1-40ae-b7d0-3891993adef4 [letzter Abruf am 9.6.2021]), ergibt sich nicht, dass die besonderen Voraussetzungen des § 3a Abs. 1 Nr. 5 AsylG vorliegen.

Schließlich ergibt sich selbst unter der hypothetischen Annahme, die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG seien erfüllt, kein anderes Ergebnis. Die in diesem Fall aufgrund der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union erforderliche Plausibilitätsprüfung ergibt aufgrund der strukturellen Unterschiede zwischen dem militärischen und dem zivilen Teil des Nationaldienstes ausnahmsweise eine Widerlegung der Vermutung, dass Verfolgungsgrund und Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 3 AsylG miteinander verknüpft sind. Wie vorstehend unter (a) ausgeführt, bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der eritreische Staat der Klägerin für die in der Vergangenheit liegende Flucht aus dem Nationaldienst eine politische Überzeugung zuschreiben und sie gerade aufgrund dieser bestrafen und inhaftieren würde. Insbesondere ergibt sich nicht, dass die Involvierung von Teilen der eritreischen Armee in den Tigray-Konflikt dazu führt, dass der eritreische Staat aktuell in der Verweigerung des Nationaldienstes eine politische Opposition erblicken würde. [...]