VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 10.05.2021 - W 6 K 20.30279 - asyl.net: M30026
https://www.asyl.net/rsdb/m30026
Leitsatz:

Kein Flüchtlingsschutz wegen häuslicher Gewalt für Frau aus Armenien:

In Armenien bestehen noch Defizite beim Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt, gleichwohl ist es einer Frau zuzumuten, zunächst zu versuchen, gemäß § 3d Abs. 1 AsylG staatlichen Schutz in Anspruch zu nehmen. Für arbeitsfähige Frauen besteht außerdem eine interne Fluchtalternative gemäß § 3e Abs. 1 AsylG, insbesondere wenn sie auch mit Unterstützung durch Familienmitglieder rechnen können.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Armenien, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, interne Fluchtalternative, interner Schutz, häusliche Gewalt, familiäre Gewalt,
Normen: AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 6, AsylG § 3d Abs. 1, AsylG § 3e Abs. 1
Auszüge:

[...]

24 2.2.1 Zunächst ist der Vortrag der Klägerin aufgrund des persönlichen Eindrucks, den sich das Gericht in der mündlichen Verhandlung bilden konnte, glaubhaft, wonach die im Jahr 2014 zum Zeitpunkt der Eheschließung 17-jährige Klägerin über Jahre hinweg bis zur Trennung im September 2019 wiederkehrend unter der häuslichen Gewalt ihres 13 Jahre älteren Ex-Ehemanns litt.

25 Die Klägerin hat dem Gericht widerspruchsfrei, nachvollziehbar und emotional dargelegt, dass sie von ihrem damaligen Ehemann über Jahre hinweg regelmäßig geschlagen und zum Teil auch öffentlich gedemütigt wurde, weil sie keine Kinder zur Welt bringen konnte. [...]

27 Zwar kann ein Verfolgungsgrund im Zusammenhang mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG nicht zwingend angenommen werden, wenn häuslicher Gewalt ausschließlich private Konfliktbeziehungen zugrunde liegen, in denen das Opfer nicht als Angehöriger einer sozialen Gruppe betroffen ist, sondern als Angehöriger bzw. Angehörige des jeweiligen Täters (vgl. Wittmann in BeckOK, Migrations- und Integrationsrecht, 7. Edition, Stand: 1.1.2021, § 3b Rn. 39). Werden familiäre Beziehungsstrukturen indes von patriarchalischen Überlegenheitsvorstellungen beherrscht, sodass häusliche Gewalt gegen Frauen nicht bloß Ausdruck eines privaten Konflikts ist, sondern den Status der Frau als solchen berührt, und nimmt der Ehemann oder Partner die Verfolgungshandlungen im Zusammenhang mit einer der Frau zugeschriebenen geschlechtsspezifischen Rolle vor, kann der Ausübung häuslicher Gewalt ein Verfolgungsgrund gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 4 AsylG zugrunde liegen (vgl. Marx, Kommentar zum Asylgesetz, 10. Auflage 2019, § 3b AsylG, Rn. 33).

28 Ein solcher Fall ist hier gegeben. Die Klägerin hat plausibel dargelegt, dass Hintergrund der gewalttätigen Misshandlungen der erfolglose Kinderwunsch des Ehepaares war. Der Ex-Mann der Klägerin hat diese offenbar für die Kinderlosigkeit der Ehe verantwortlich gemacht und sie deswegen zum Teil auch gegenüber Dritten gedemütigt und zu Hause geschlagen. [...]

29 2.2.3 Das Gericht ist jedoch nicht überzeugt davon, dass der armenische Staat erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens gewesen wäre bzw. ist, der Klägerin Schutz vor häuslicher Gewalt zu bieten (§ 3c Nr. 3 AsylG i.V.m. § 3d AsylG).

30 Nach § 3 Abs. 1, § 3c Nr. 3, § 3d AsylG i.V.m. Art. 7 Qualifikationsrichtlinie ist internationaler Schutz ausgeschlossen, wenn es dem Betroffenen zumutbar ist, gegen Übergriffe Privater den staatlichen Schutz seines Herkunftslandes in Anspruch zu nehmen. Akteure, die in diesem Sinne Schutz gewähren können, sind der Staat sowie Parteien oder internationale Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, sofern sie willens und in der Lage sind, Schutz zu bieten (§ 3d Abs. 1 AsylG). Der Schutz vor Verfolgung muss wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein (§ 3d Abs. 2 Satz 1 AsylG). [...]

32 Gemessen an diesen Vorgaben hat die Klägerin nicht nachvollziehbar dargelegt, dass von ihr vernünftigerweise nicht erwartet werden konnte bzw. kann, dass sie sich gegen häusliche Gewalt um Schutz ihres Herkunftsstaats bemüht.

33 Es bestehen zunächst keine überzeugenden Anhaltspunkte, dass ihr aufgrund individueller Umstände ein Schutz durch den armenischen Staat von vorneherein versagt worden wäre [...]

34 Nach der allgemeinen Erkenntnislage bestehen unter Einbeziehung neuerer legislativer Entwicklungen in Armenien - trotzt gewisser Zweifel - letztlich keine hinreichend überzeugenden Anhaltspunkte, dass der armenische Staat grundsätzlich nicht in der Lage oder willens wäre, der Klägerin einen hinreichend effektiven Schutz vor kriminellem Unrecht in Form von häuslicher Gewalt im Sinne des § 3d Abs. 2 AsylG zu bieten, um die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer schutzrelevanten Verfolgung bzw. Gefährdung auszuschließen.

35 Häusliche Gewalt wird in Armenien nach allgemeinen Gesetzen über Gewaltanwendung verfolgt, obwohl die Behörden die meisten Vorwürfe häuslicher Gewalt nicht wirksam untersuchen oder verfolgen. Es gibt Berichte, dass die Polizei, insbesondere außerhalb von Jerewan, in Fällen häuslicher Gewalt nur ungern tätig wird und Frauen davon abhält, Beschwerden einzureichen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Armenien, Stand: 2.10.2020, S. 31). Die Mechanismen zur Verhinderung der Verletzung von Schutzmaßnahmen durch den Täter und die Sanktionen, die im Falle solcher Verletzungen angewendet werden, sind nicht effizient (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, a.a.O. S. 32). Trotz begrüßenswerter Entwicklungen und Bemühungen bleibt häusliche Gewalt in Armenien ein schwerwiegendes, weit verbreitetes und teilweise noch unterschätztes Phänomen [...].

36 Dennoch ist festzustellen, dass Armenien bedeutsame Fortschritte bei der Schaffung und Verbesserung des Rechtsrahmens zur Bekämpfung häuslicher Gewalt gemacht hat. Die wichtigste Maßnahme war insoweit das Ende 2017 verabschiedete Gesetz gegen häusliche Gewalt. Danach sind die armenischen Strafverfolgungsbehörden nun verpflichtet, Gewalt in Familien zu beenden. [...] Das Gesetz legt auch fest, dass die Definition von häuslicher Gewalt sich nicht auf physische Gewalt beschränkt, sondern auch auf sexuelle, psychische und wirtschaftliche Gewalt ausgedehnt werden kann. Nebst der Prävention häuslicher Gewalt, den Schutz und die Sicherheit der Opfer garantiert das Gesetz auch die notwendige psychologische, rechtliche, soziale und gegebenenfalls vorübergehende finanzielle Unterstützung der Opfer [...]. Im Anschluss an das neue Gesetz gegen häusliche Gewalt wurde eine Reihe von sekundären Rechtsakten verabschiedet, die dessen Umsetzung sicherstellen sollen. [...] Die armenische Regierung hat ferner im Januar 2018 das
Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, auch bekannt als Istanbul-Konvention, unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert. Die neuen Maßnahmen gegen häusliche Gewalt wurden von Sensibilisierungskampagnen begleitet, die zu einer öffentlichen Debatte und einem spürbaren Einstellungswandel zum Thema häusliche Gewalt führen [...].

37 Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln ist keine abschließend gesicherte Einschätzung möglich, ob die vom armenischen Staat seit 2017 zur Stärkung der Lage von Opfern häuslicher Gewalt getroffenen und die Schutzwilligkeit dokumentierenden Maßnahmen den Betroffenen - insbesondere Frauen - tatsächlich (bereits) einen hinreichend effektiven Schutz bieten. Gewisse Zweifel wecken insbesondere die Hinweise des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Armenien, Stand: 2.10.2020, S. 32), sowie der Umstand, dass die bereits seit langem angekündigte Ratifizierung der Istanbul-Konvention seitens der Republik Armenien nach wie vor aussteht.

38 Die Klägerin konnte jedoch - wie bereits ausgeführt - schon nicht überzeugend darlegen, dass sie in Armenien überhaupt staatlichen Schutz ersucht hat oder dass sie diesen im Falle eines Schutzersuchens nicht erhalten hätte. [...]

39 2.2.4 Ferner geht das Gericht im Einklang mit der Einschätzung der Beklagten im verfahrensgegenständlichen Bescheid davon aus, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Armenien eine inländische Fluchtalternative (§ 3e AsylG) zur Verfügung stünde.

40 Die Klägerin ist nicht gezwungen, sich nach einer Rückkehr in die Heimat erneut an ihrem ehemaligen Wohnort in ... und mithin dort, wo ihre Misshandlungen durch den Ex Ehemann geschahen, niederzulassen. [...]

41 Die junge Klägerin hat keine Unterhaltsverpflichtungen und wird sich ein Einkommen zumindest auf Höhe des Existenzminimums durch eine eigene Erwerbstätigkeit erwirtschaften können. [...]

42 Internen Schutz kann die Klägerin insbesondere bei ihrer Schwester oder ihrem Bruder finden, zu denen sie nach ihrer Mitteilung weiterhin Kontakt hält. [...]