Abschiebungsverbot für junges Mädchen aus Nigeria:
"1. Hatte der Ausländer in seinem Herkunftsland noch nie einen Lebensmittelpunkt begründet, lässt sich eine "Herkunftsregion" als Ausgangspunkt für die Prüfung, ob ihm in seinem Herkunftsland Verfolgung droht, nicht bestimmen (Rn. 23)
2. Handelt es sich um ein minderjähriges Kind, das mit mindestens einem Sorgeberechtigten in familiärer Gemeinschaft lebt, der die gleiche Staatsangehörigkeit besitzt, ist wie auch sonst bei der Gefahrenprognose bei der Bestimmung ihres geographischen Anknüpfungspunkts aufgrund realitätsnaher sowie durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK (juris: MRK) vorgegebener normativer Betrachtung im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie im Familienverband in das Herkunftsland zurückkehrt (Rn. 24).
3. In einem solchen Fall ist darauf abzustellen, welche Herkunftsregion für den oder die das Kind begleitenden Sorgeberechtigten maßgeblich wäre (Rn. 24)."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
23 Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen § 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Der Begriff des "tatsächlichen Zielortes der Rückkehr" im Sinne der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 4, 15 Richtlinie 2004/83/EG (Urteil vom 17.02.2009 - C-465/07 -, juris, Rn. 40), die auf die Nachfolgerichtlinie 2011/95/EU übertragbar ist, ist daher kein rein empirischer Begriff, bei dem auf die tatsächlich wahrscheinlichste oder subjektiv gewollte Rückkehrregion abzustellen ist. Vielmehr kommt bei der Bestimmung des Ortes der (voraussichtlichen) tatsächlichen Rückkehr der Herkunft als Ordnungs- und Zuschreibungsmerkmal eine besondere Bedeutung zu. Ein Abweichen von der Herkunftsregion kann daher auch nicht damit begründet werden, dass der Ausländer aufgrund der geltend gemachten Verfolgung den personalen Bezug zu seiner Herkunftsregion verloren hat. Auch eine nachlassende subjektive Bindung zur Herkunftsregion durch Umstände, die mittelbare Folgen derselben sind, ändert nichts daran, dass diese für die schutzrechtliche Betrachtung grundsätzlich ihre Relevanz behält. Allerdings ist jedenfalls dann nicht (mehr) auf die Herkunftsregion abzustellen, wenn sich der Ausländer schon vor der Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst und in einem anderen Landesteil mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben. Durch eine solche freiwillige Ablösung verliert die Herkunftsregion ihre Bedeutung als Ordnungs- und Zurechnungsmerkmal und scheidet damit als Anknüpfungspunkt für die Gefahrenprognose aus (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2017 – A 11 S 1704/17 -, juris, Rn. 68; Wittmann, in: BeckOK Migrations- und IntegrationsR, 8. Edition Mai 2021, § 3 AsylG Rn. 37, jeweils m.w.N.).
24 Hatte der Ausländer in seinem Herkunftsland allerdings keinen Lebensmittelpunkt im vorstehenden Sinne begründet, lässt sich eine Herkunftsregion nicht ohne Weiteres bestimmen. Handelt es sich um ein minderjähriges Kind, das mit mindestens einem Sorgeberechtigten in familiärer Gemeinschaft lebt, der die gleiche Staatsangehörigkeit besitzt, ist wie auch sonst bei der Gefahrenprognose (vgl. hierzu mit eingehender Begründung BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18 -, juris, Rn. 16 ff.; grundlegend BVerwG, Urteil vom 08.09.1992 - 9 C 8.91 -, juris, Rn. 13 ff.) bei der Bestimmung ihres geographischen Anknüpfungspunkts aufgrund realitätsnaher sowie durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK vorgegebener normativer Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie im Familienverband in das Herkunftsland zurückkehrt. In einem solchen Fall ist darauf abzustellen, welche Herkunftsregion für den oder die das Kind begleitenden Sorgeberechtigten maßgeblich wäre. [...]