VG Köln

Merkliste
Zitieren als:
VG Köln, Beschluss vom 20.04.2021 - 15 L 410/21.A - asyl.net: M30041
https://www.asyl.net/rsdb/m30041
Leitsatz:

Verfahrensrechte der Dublin-Verordnung gelten auch ohne Asylantragstellung in der Bundesrepublik:

1. § 34a Abs. 1 S. 2 AsylG bildet grundsätzlich eine Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung gegenüber Personen, die bereits in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben und nunmehr in der Bundesrepublik "aufgegriffen" werden, ohne einen weiteren Asylantrag zu stellen.

2. Die Verfahrensgarantien der Dublin III-Verordnung sind auch dann zu beachten, wenn die betroffene Person in der Bundesrepublik keinen weiteren Asylantrag stellt.

3. Eine Abschiebungsanordnung, die unter Verletzung wesentlicher Verfahrensgarantien ergeht, ist rechtswidrig (hier Recht auf Information und persönliche Anhörung).

4. Art. 5 Abs. 5 der Dublin III-Verordnung sichert eine persönliche Anhörung in angemessener Vertraulichkeit zu. Es ist nicht gewährleistet, dass der Verfahrensfehler einer fehlenden persönlichen Anhörung im Gerichtsverfahren geheilt werden kann, wenn die betroffene Person weiblich und der Einzelrichter männlich ist. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Aufgriffsfall, unerlaubte Einreise, unerlaubter Aufenthalt, Dublinverfahren, Abschiebungsanordnung, persönliches Gespräch, einstweilige Anordnung, Heilung, Verfahrensfehler, Vertraulichkeit, Schwangerschaft,
Normen: AsylG § 34a Abs. 1 S. 2, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/13 Art. 5 Abs. 5, VO 604/13 Art. 4, VwVfG § 46,
Auszüge:

[...]

Die angegriffene Abschiebungsanordnung kann nicht - wie geschehen - unmittelbar und ausschließlich auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützt werden, weil dessen Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Denn die Antragstellerin hat ausweislich ihrer am 8. Februar 2021 erfolgten (einzigen) Anhörung durch die Polizei bzw. die Ausländerbehörde ausdrücklich erklärt, keinen Asylantrag stellen zu wollen, und sie hat auch im weiteren Verlauf des Verfahrens keine Umstände vorgetragen, aus denen sich materielle Schutzgründe im Sinne von § 13 AsylG entnehmen lassen könnten. Es liegt deshalb keiner der von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG geregelten Fälle eines unzulässigen Asylantrags (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) oder des Ausschlusses der Berufung auf Art. 16a Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) vor.

Für sog. Aufgriffsfälle der vorliegenden Art bietet zwar § 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG eine Ermächtigungsgrundlage für den Erlass einer Abschiebungsanordnung gegenüber einem Ausländer, der einen Asylantrag in einem anderen aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt hat; dies trifft für die Antragstellerin zu, die ausweislich festgestellter "EURODAC-Treffer" vor ihrer erstmaligen Einreise nach Deutschland Schutzgesuche in der Schweiz und in Italien angebracht hatte. Gleichwohl ist die ihr gegenüber ergangene Abschiebungsanordnung rechtswidrig, weil sie unter Verstoß gegen die auch bei Aufgriffsfällen zu beachtenden verfahrensrechtlichen Vorgaben der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO), ergangen ist.

§ 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG beinhaltet nach der Vorstellung des Gesetzgebers eine gesetzliche Aufgabenzuweisung für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt). Die Vorschrift dient der Erfassung solcher Fälle, in denen ein Ausländer im Inland angetroffen wird, der in einem anderen Staat, in dem die Dublin III-VO Anwendung findet, einen Asylantrag gestellt hat, nicht aber in Deutschland (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses vom 15. Mai 2013 zum Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU, BT-DrS. 17/13556, S. 7).

Die Anwendung des § 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG erfordert voraussetzungsgemäß die Prüfung, ob der aufgegriffenen Ausländer in einem Staat, in dem die Dublin III-VO Anwendung findet, einen Asylantrag gestellt hat und für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig (gewesen) ist. Es sind keine Gründe ersichtlich, die dem betroffenen Ausländer im Rahmen dieser auf den Erlass einer Überstellungsentscheidung in den als zuständig ermittelten Staat gerichteten Prüfung verfahrensrechtlich schlechter zu stellen, als denjenigen Ausländer, der nach vorheriger Stellung eines Asylantrags in einem "Dublin-Staat" ebenfalls einen Asylantrag im Bundesgebiet gestellt hat, der dieselbe Prüfung zur Ermittlung des zuständigen Mitgliedstaates auslöst. Denn die Lage des Drittstaatsangehörigen, der in einem Aufgriffsfall in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden soll, unterscheidet sich nicht in rechtserheblicher Weise von denjenigen Drittstaatsangehörigen, die im Bundesgebiet und zuvor bereits in einem "Dublin-Staat" einen Asylantrag gestellt haben. Dieser Umstand gebietet es, Drittstaatsangehörigen in Aufgriffsfällen dieselben Verfahrensgarantien zuzuerkennnen, wie sie die Dublin III-VO Drittstaatsangehörigen gewährleistet, die ein Schutzgesuch in einem Mitgliedstaat anbringen, nachdem sie zuvor schon in einem anderen "Dublin-Staat" einen Asylantrag gestellt hatten (im Ergebnis ebenso: Verwaltungsgericht Bremen, Beschluss vom 13. November 2020 - 6 V 1366/20 -, juris, Rn. 23 ff.).

Dies zugrunde gelegt, erweist sich die angegriffene Abschiebungsanordnung als rechtswidrig. Denn sie ist unter Verletzung der entsprechend anzuwendenden Bestimmungen des Art. 4 und des Art. 5 Abs. 1 i.V.m. Abs. 5 Dublin III-VO erlassen worden. Es ist nämlich anhand des vorgelegten Verwaltungsvorgangs nicht ersichtlich und auch sonst nicht erkennbar, dass die Antragstellerin die nach Art. 4 Abs. 1 lit. a) bis f) Dublin III-VO zu erteilenden Informationen erhalten hat. Die Hinweise und Informationen, die ihr im Rahmen ihrer Anhörung am 8. Februar 2021 gegeben worden sind, decken die nach der genannten Vorschrift zu erteilenden Informationen nicht ab. Hinzu kommt, dass offensichtlich auch der Vorgabe des Art. 4 Abs. 2 Uabs. 1 Dublin III-VO, die Informationen nach Absatz 1 dieser Bestimmung schriftlich unter Verwendung des dafür vorgesehenen Merkblatts zu erteilen, nicht genügt worden ist. Zugleich ist von einer Verletzung des Art. 5 Dublin III-VO auszugehen, weil das Bundesamt das darin vorgeschriebene persönliche Gespräch nicht geführt hat und entgegen der Annahme des Bundesamtes die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 2 lit. b) Dublin III-VO für einen Verzicht auf ein solches Gespräch nicht vorgelegen haben. Denn weder hatte die Antragstellerin die Informationen nach Art. 4 Dublin III-VO erhalten noch ist der Antragstellerin die vor der Entscheidung einzuräumende Gelegenheit gegeben worden, alle weiteren sachdienlichen Informationen vorzulegen, die für die ordnungsgemäße Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates von Bedeutung sind (Art. 5 Abs. 2 lit. b) Satz 2 Dublin III-VO). Zu diesen Informationen gehören insbesondere auch alle Umstände, die einer Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat entgegenstehen können (vgl. Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO). Hier haben sich aufgrund der bei der Polizei bzw. der Ausländerbehörde erfolgten Anhörung der Antragstellerin in dieser Hinsicht Anhaltspunkte ergeben, die angesichts ihrer Konkretisierung im gerichtlichen Verfahren (Zwang zur Prostitutionsausübung und Entziehung vom Zugriff der Mitglieder der nigerianische Familie, die diesen Zwang ausgeübt hat) einer Überstellung nach Italien ebenso entgegenstehen könnten wie die seinerzeit nicht weiter hinterfragte gesundheitliche Verfassung der Antragstellerin angesichts ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft.

Die Antragsgegnerin, die auf diesen Verfahrensmangel mit Verfügung vom 11. März 2021 hingewiesen worden ist, hat eine den normativen Vorgaben genügende Information der Antragstellerin ebenso wenig im Verlaufe des vorliegend Aussetzungsverfahren nachgeholt wie das gebotene persönliche Gespräch. Deshalb ist der Verfahrensmangel von der Antragsgegnerin nicht geheilt worden (§ 46 Verwaltungsverfahrensgesetz) und es bedarf keiner Entscheidung, ob und unter welchen Voraussetzungen eine solche Heilung durch das Bundesamt möglich wäre (vgl. zu den entsprechenden Bestimmungen der Art. 14, 15 und 34 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Verfahrensrichtlinie): Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 16. Juli 2020 - C-517/17 -, NVwZ 2020, 1817 = juris, Rn. 57 ff.; BVerwG, Urteil vom 30. März 2021 - 1 C 41.20 -, zitiert nach Pressemitteilung Nr. 21/2021 des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. März 2021, juris).

Eine innerhalb des vorliegenden Aussetzungsverfahrens erfolgende Anhörung der Antragstellerin durch das Gericht hätte ebenfalls nicht mit heilender Wirkung durchgeführt werden können, weil es nicht möglich ist, hierfür die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 5 Dublin III-VO zu gewährleisten. Denn die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits ist kraft Gesetzes dem Einzelrichter zugewiesen (§ 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG) und der Rechtsstreit fällt nach dem Geschäftsverteilungsplan der Kammer für das Jahr 2021 in das Dezernat I, zu dessen Berichterstatter ein männliches Kammermitglied bestimmt ist, von dem nicht ohne weiteres unterstellt werden kann, dass er für die Antragstellerin eine angemessene Vertraulichkeit (Art. 5 Abs. 5 Satz 1 Dublin III-VO) zu gewährleisten vermag.

Darüber hinaus - und selbständig tragend - erweist sich die Vollziehung der angegriffenen Abschiebungsanordnung (nunmehr, § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) auch deshalb als rechtswidrig, weil nicht im Sinne des nach § 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG entsprechend geltenden § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG "feststeht", dass die Abschiebung der Antragstellerin durchgeführt werden kann. Denn der Abschiebung der Antragstellerin steht gegenwärtig aufgrund des fortgeschrittenen Stadiums ihrer Schwangerschaft ein gegenüber der Abschiebungsanordnung rechtlich beachtliches inländisches Vollzugshindernis entgegen. Ausweislich des in Kopie zu den Gerichtsakten gereichten Mutterpasses, der der Antragstellerin am 10. Februar 2021 ausgestellt worden ist, ist als Entbindungstermin der 26. Mai 2021 berechnet worden. Es entspricht der ganz überwiegenden, von der Kammer geteilten Rechtsprechung, dass eine Frau unter Berücksichtigung der gesetzlichen Schutzfristen des § 3 Abs. 1 und 2 Mutterschutzgesetz (MuSchG) sechs Wochen vor der Entbindung und acht (bzw. bei Früh- und Mehrlingsgeburten zwölf) Wochen nach der Entbindung als reiseunfähig anzusehen ist. Die Antragstellerin befindet sich ausgehend von dem genannten berechneten Entbindungstermin zwischenzeitlich innerhalb der Schutzfrist des § 3 Abs. 1 MuSchG. Anhaltspunkte dafür, dass es zu einem vorzeitigen Abbruch der Schwangerschaft oder zu einem so frühen Entbindungstermin gekommen ist, dass die Schutzfrist des § 3 Abs. 2 MuSchG bereits abgelaufen wäre, liegen nicht vor.

Überdies wird die angegriffene Abschiebungsanordnung voraussichtlich auch nach Ablauf der Mutterschutzfristen rechtswidrig bleiben, weil Herr ..., geb. …, mit Zustimmung der Antragstellerin vor einer nach § 57 Sozialgesetzbuch Achtes Buch ermächtigten Urkundsperson anerkannt hat, der Vater des von der Antragstellerin am ... 2021 erwarteten Kindes zu sein, und die Antragstellerin zugleich die beurkundete Erklärung abgegeben hat, die elterliche Sorge für dieses Kind gemeinsam mit Herrn … ausüben zu wollen. Diese Umstände begründen aller Voraussicht nach im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 9 und 24 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 8 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ein der angegriffenen Abschiebungsanordnung jedenfalls so lange entgegenstehendes inländisches Vollstreckungshindernis, wie Herr ..., der aufgrund eines ihm durch rechtskräftiges Urteil der Kammer vom 15. Januar 2021 (15 K 1945/18.) zugesprochenen Abschiebungsverbots im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigt ist, sich im Bundesgebiet aufhält und seine aus der Vaterschaftsanerkennung folgenden Rechte ausübt sowie seinen dadurch begründeten bzw. übernommenen Verpflichtungen nachkommt. [...]