VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 03.08.2021 - A 8 K 1082/19 - asyl.net: M30052
https://www.asyl.net/rsdb/m30052
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für einen jungen Mann aus Guinea wegen paranoider Schizophrenie:

Vor dem Hintergrund der schlechten gesundheitlichen Versorgung sowie der Stigmatisierung psychischer erkrankter Personen in Guinea ist für den Kläger ein Abschiebungsverbot festzustellen, da er an einer paranoiden Schizophrenie leidet und keine Unterstützung seiner Familie erwarten kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Guinea, psychische Erkrankung, medizinische Versorgung, Netzwerk, Abschiebungsverbot, paranoide Schizophrenie,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

1. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. [...]

Hinsichtlich der Gesundheitsversorgung und insbesondere der Behandelbarkeit psychischer Erkrankungen, deren Kosten sowie der gesellschaftlichen Wahrnehmung psychischer Erkrankungen stellt sich die Lage in Guinea nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln wie folgt dar:

Das öffentliche Gesundheitssystem ist im Stil einer Pyramide auf drei Ebenen organisiert: auf der untersten Stufe steht die Bezirksebene (u. a. Krankenhäuser auf der Ebene der Präfekturen und andere lokale Gesundheitszentren), gefolgt von der regionalen Ebene (regionale Krankenhäuser, die im Wesentlichen dieselben Dienstleistungen anbieten wie auf der Ebene der Präfekturen) und der zentralen Ebene (drei nationale Krankenhäuser und Spezialprogramme). Das öffentliche Gesundheitssystem ist in einem schlechten Zustand und es fehlt an angemessener Ausstattung: [...]

Im Hinblick auf psychische Erkrankungen ist die Versorgung mit Gesundheitsdiensten stark eingeschränkt. Auf eine Bevölkerung von 12.6 Millionen Menschen kommen nur fünf Psychiater, die alle in der einzigen stationären psychiatrischen Abteilung des Landes im Universitätsspital "Donka" in der Hauptstadt Conakry tätig sind. Es gibt keinen medizinisch ausgebildeten Psychologen. Nur einer der fünf Psychiater ist in Pädopsychiatrie spezialisiert. Auch die Zahl der im Bereich psychische Gesundheit ausgebildeten Allgemeinmediziner, Psychologinnen und anderen Personals ist im Vergleich zur Bevölkerungszahl des Landes sehr gering. [...]

Darüber hinaus werden psychische Erkrankungen in Afrika, wie in anderen afrikanischen Ländern, mit kulturellen Stigmen verbunden, die die Herkunft der Erkrankung Teufeln, Dämonen, Zauberern und/oder Pech zuschreiben. Aufgrund dieses weitverbreiteten Aberglaubens wendet sich die Mehrheit der Familien hinsichtlich der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen zunächst an traditionelle Heiler, die weiterhin die bedeutendste Quelle für psychische Gesundheitsfürsorge darstellen. Erst wenn traditionelle Methoden fehlschlagen, werden Patienten an modernen Gesundheitseinrichtungen verwiesen. Patienten mit psychischen Erkrankungen unterliegen Diskriminierung und Stigmatisierung. Nach einer Studie kündigen Patienten mit psychischen Erkrankungen ihren Job wegen des Stigmas freiwillig oder werden dazu gezwungen. Psychische Kranke anzuketten ist eine häufige Praxis in Guinea. Sie werden oft sich selbst überlassen und wandern allein durch die Straßen. Selbst Medizinstudenten bedauern die Stigmatisierung psychisch Kranker zwar, teilen die allgemeine Meinung der Bevölkerung aber dennoch (MedCOI, a. a.O., S. 113 f.).

2. Danach hat der Kläger einen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Der Kläger leidet ausweislich der ab Oktober 2018 datierenden vorgelegten Atteste der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik ... gesichert an paranoider Schizophrenie (ICD-10: F20.0). Dass das letzte vorgelegte Attest vom … 2020 stammt, steht einer hinreichend aktuellen Beurteilung nicht entgegen. Die Atteste vom ... 2020 und vom ... 2020 stellen den gesundheitlichen Zustand des Klägers, der zuvor mehrfach in stationärer psychiatrischer Behandlung gewesen war, nämlich übereinstimmend als stabilisiert dar. [...]

Diese stützende Struktur lässt sich nach obigen Ausführungen in Guinea nicht aufrechterhalten. Es ist bereits nicht davon auszugehen, dass die erforderlichen Medikamente für den Kläger in Guinea erhältlich sind. Dass die o. g. Medikamente in Guinea erhältlich wären, ist nach den vorliegenden Erkenntnismittel nicht ersichtlich. Zudem ist vorliegend zu berücksichtigen, dass im Falle des Klägers gerade die Einnahme moderner Medikamente erforderlich ist, da ältere Neuroleptika, auf die auch in Afrika zurückgegriffen wird, vom Kläger in der Vergangenheit schlecht vertragen und daher nicht regelmäßig eingenommen wurden. Selbst falls die erforderlichen Medikamente in Guinea erhältlich sein sollten, ist nicht erkennbar, wie der Kläger die erforderlichen finanziellen Mittel aufbringen sollte. Diesbezüglich ist weiter zu berücksichtigen, dass nicht zu erwarten ist, dass der Kläger aufgrund seiner schulischen und beruflichen Qualifikation eine Tätigkeit wird ausüben können, die ein überdurchschnittliches Einkommen erwarten lässt. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die Familie des Klägers die erforderlichen Mittel wird aufbringen können. Zur Familie väterlicherseits hatte der Kläger nach seinen Ausführungen beim Bundesamt nie Kontakt und das Verhältnis zur Familie mütterlicherseits war schlecht, so dass der Kläger prognostisch allein auf seine Mutter und seine Halbgeschwister würde zurückgreifen können. Diese Ausführungen gelten entsprechend für die begleitende psychosoziale Behandlung, welche für den Kläger in Guinea ebenfalls nicht erhältlich oder nicht finanzierbar sein dürfte. Abschließend ist unsicher, ob der Kläger aufgrund der mit psychischen Erkrankungen in Guinea einhergehenden Stigmen überhaupt eine Erwerbstätigkeit aufnehmen könnte bzw. von seiner Familie adäquat unterstützt würde.

Somit droht im Falle der Abschiebung nach Guinea der Abbruch der medizinischen Behandlung. Dies führt prognostisch - so auch die Einschätzung des behandelnden Psychiaters im Attest vom ... 2019 - dazu, dass der Kläger im Rahmen seiner Psychose eigengefährdendes Verhalten entwickelt und auch zunehmend bedrohlich wird. Es wäre also ein hilfloser, selbstgefährdender Zustand zu befürchten, im Rahmen dessen der Kläger seiner Wahndynamik und seinen Halluzinationen hilflos ausgeliefert wäre. [...]