VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 28.09.2021 - A 1 K 2285/21 - asyl.net: M30061
https://www.asyl.net/rsdb/m30061
Leitsatz:

Familienschutz unabhängig von familiärer Lebensgemeinschaft:

Die Gewährung von Familienschutz für Kinder von Asylberechtigten oder international Schutzberechtigten setzt nicht voraus, dass zwischen den Kindern und der stammberechtigten Person eine familiäre Lebensgemeinschaft besteht.

(Leitsätze der Redaktion; anschließend an OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.12.2020 - 3 N 189/20 - asyl.net: M29324)

Schlagwörter: Familienschutz, Kind, familiäre Lebensgemeinschaft, Schutz von Ehe und Familie,
Normen: AsylG § 26 Abs. 2, AsylG § 26 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

2. Die Kläger haben jedoch als Kinder eines unanfechtbar als Flüchtling anerkannten Vaters gemäß § 26 Abs. 2, Abs. 5 AsylG einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]

Anders als die Beklagte meint, kommt es vorliegend nicht darauf an, dass die Kläger mit ihrem als Flüchtling anerkannten Vater nicht in häuslicher Gemeinschaft leben (vgl. hierzu und zum nunmehr Folgenden: Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 14. Dezember 2020 – 6 Bf 240/20.AZ –, Rn. 13ff.; VG Münster, Urteil vom 23. Juli 2019 – 11 K 5754/16.A –, Rn. 45 m.w.N.; Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11. Dezember 2020 – OVG 3 N 189/20 –, Rn. 2ff., jeweils in juris; NK-AuslR/Susanne Schröder, 2. Aufl. 2016 Rn. 22, AsylVfG § 26 Rn. 22).

a. Eine derartige - einschränkende - Auslegung, wie sie die Beklagte ohne jedwede nähere Begründung vornimmt, findet bereits im Wortlaut des Gesetzes keine Stütze. Nach dem Wortlaut des § 26 Abs. 2 AsylG wird ein zum Zeitpunkt seiner Asylantragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylberechtigten auf Antrag als asylberechtigt anerkannt, wenn die Anerkennung des Ausländers als Asylberechtigter unanfechtbar ist und diese Anerkennung nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist. Gemäß § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG wird diese Regelung auf Familienangehörige von international Schutzberechtigten entsprechend angewendet, wobei an die Stelle der Asylberechtigung die Flüchtlingseigenschaft bzw. der subsidiäre Schutzstatus tritt. Das Bestehen oder Fortbestehen einer familiären Lebensgemeinschaft mit dem stammberechtigten Flüchtling ist nach dem Wortlaut nicht Voraussetzung einer Zuerkennung des (Familien-)Flüchtlingsschutzes (so ausdrücklich etwa Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 14. Dezember 2020 – 6 Bf 240/20.AZ –, Rn. 14; vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11. Dezember 2020 – OVG 3 N 189/20 –, Rn. 6, jeweils in juris).

b. Jedenfalls aber sprechen systematische Erwägungen gegen die Ansicht der Beklagten:

Gemäß § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG wird der Ehegatte oder Lebenspartner eines Asylberechtigten auf Antrag als Asylberechtigter anerkannt, wenn "die Ehe oder Lebenspartnerschaft" "schon" in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird; die Regelung ist auf den Ehegatten oder Lebenspartner von international Schutzberechtigten gemäß § 26 Abs. 5 AsylG entsprechend anzuwenden. Eine entsprechende Regelung findet sich in § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG. Danach ist auch für die Ableitung eines Anspruchs auf Zuerkennung einer Asylberechtigung bzw. eines internationalen Schutzstatus von der Asylberechtigung bzw. vom internationalen Schutzstatus ihres minderjährigen ledigen Kindes nicht - wie in § 26 Abs. 2 AsylG - nur Voraussetzung, dass dessen Asylberechtigung bzw. internationaler Schutzstatus unanfechtbar und nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist. Vielmehr ist auch gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG zusätzlich erforderlich, dass die Familie im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU "schon" in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird.

Hierbei kann offenbleiben, ob aus der Regelung, dass die "Familie" bzw. die "Ehe oder die Lebenspartnerschaft" "schon" in dem Staat bestanden haben muss, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird, zugleich abzuleiten ist, dass eine familiäre Lebensgemeinschaft nicht nur im Verfolgerstaat bestanden haben, sondern auch im Bundesgebiet noch bestehen muss (wohl bejahend: Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 14. Dezember 2020 – 6 Bf 240/20.AZ –, Rn. 16, juris m.w.N.). Denn jedenfalls fehlt eine solche § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG entsprechende Regelung gerade in § 26 Abs. 2 AsylG. Die Regelungen in § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG zeigen dabei, dass der Gesetzgeber diese Frage bei Normierung der verschiedenen Fallkonstellationen des Familienasyls bzw. Familienschutzes in den Blick genommen hat. Das Fehlen entsprechender weiterer Voraussetzungen für die in § 26 Abs. 2 AsylG geregelte Fallkonstellation lässt daher in systematischer Hinsicht nur den Schluss zu, dass der Gesetzgeber in Bezug auf die Ableitung der Asylberechtigung bzw. des internationalen Schutzstatus eines minderjährigen ledigen Kindes von einem stammberechtigten Elternteil hierauf bewusst verzichtet bzw. sich davon für diese Fallkonstellation abgewendet hat (Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 14. Dezember 2020 – 6 Bf 240/20.AZ –, Rn. 16 - 17, juris).

c. Gegenteilige Anhaltspunkte ergeben sich auch nicht aus der Gesetzesbegründung. Mit Wirkung vom 15. Oktober 1990 sah § 7a Abs. 3 AsylVfG erstmals die Gewährung von Asyl an Familienangehörige und zwar an Ehegatten und minderjährige Kinder vor. Die für Ehegatten bestehende Regelung, dass die Ehe schon in dem Staat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wurde, bestanden haben musste, galt für die im Zeitpunkt der Asylantragstellung bereits geborenen minderjährigen Kinder entsprechend. [...] Das Interesse an einem einheitlichen Rechtsstatus und nach einem gesicherten aufenthaltsrechtlichen Status für die engsten Familienangehörigen war nach der Begründung des Gesetzentwurfs bereits bei der Erweiterung des Kreises der familienasylberechtigten Kinder auf die nach der Anerkennung als Asylberechtigten geborenen Kinder durch das Gesetz zur Neuregelung des Asylverfahrens leitendes Motiv des Gesetzgebers (vgl. ausführlich: Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 14. Dezember 2020 – 6 Bf 240/20.AZ – , Rn. 19 - 24, juris).

d. Schließlich sprechen auch Sinn und Zweck der Regelung dafür, dass eine familiäre Lebensgemeinschaft zwischen dem minderjährigen Kind und dem i.S.d. § 26 Abs. 2 AsylG Stammberechtigten nicht zwingend bei Beantragung der Rechtsstellung aus § 26 AsylG bestehen muss. Ausgangspunkt der Regelung über die Gewährung von Familienasyl sowie von internationalem Schutz für Familienangehörige in § 26 AsylG war - wie aufgezeigt -, dass in vielen Verfolgerstaaten häufig auch für die engsten Familienangehörigen, also den Ehegatten bzw. Lebenspartner sowie die minderjährigen Kinder, eine vergleichbare Bedrohungslage wie für den Stammberechtigten vorliegen wird. Insoweit dient § 26 AsylG der Entlastung des Bundesamtes sowie der Gerichte von einer eigenen Prüfung der Bedrohungslage für diesen Personenkreis, wenn sie sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf Asyl bzw. auf Gewährung von internationalem Schutz im Bundesgebiet aufhalten (vgl. auch: BT-Drs. 17/13063 S. 21 zu dem am 01. Dezember 2013 in Kraft getretenen Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013, BGBl. I 2013 S. 3474). Daneben tritt aber zudem der Aspekt der Förderung der Integration der Familienangehörigen und des Asylberechtigten durch einen regelmäßig einheitlichen Rechtsstatus der Kernfamilie im Bundesgebiet. Beide Aspekte führen nicht zu einem Verständnis von § 26 Abs. 2, 5 AsylG, dass das minderjährige ledige Kind bei Antragstellung (noch) in einer familiären Lebensgemeinschaft mit dem Stammberechtigten Elternteil leben muss (Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 14. Dezember 2020 – 6 Bf 240/20.AZ – , Rn. 25, juris).

Dafür, dass eine besondere Verletzlichkeit von Familienangehörigen, in Fallkonstellationen, in denen eine Sippenhaft droht, regelmäßig nur gegeben ist, wenn das minderjährige Kind im Haushalt des Stammberechtigten lebt, bestehen weder Anhaltspunkte noch liegt eine relevante Gefährdung für ein nicht im Haushalt des Stammberechtigten lebendes minderjähriges Kind fern, zumal im Herkunftsstaat im Zweifel ohnehin nichts darüber bekannt sein dürfte, ob ein minderjähriges Kind und die schutzberechtigte Person in familiärer Lebensgemeinschaft leben, diese ein besonders intensives Näheverhältnis pflegen oder ein solches gar nicht besteht (vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11. Dezember 2020 – OVG 3 N 189/20 –, Rn. 6, juris). Anknüpfungspunkt für die Verfolgung von Familienangehörigen im Rahmen einer Sippenhaft dürfte vielmehr primär die - auch nur vermutete - emotionale Nähe des Stammberechtigten zu seinen minderjährigen Kindern und gerade die besondere Verletzlichkeit von Kindern sein, deren mögliche Verfolgung den Stammberechtigten treffen und im Sinne der ihn verfolgenden Akteure beeinflussen soll.

Diese Einschätzung wird letztlich auch dadurch bekräftigt, dass eine "spätere" emotionale wie räumliche Distanzierung des Kindes vom Stammberechtigten keine Auswirkungen auf dem ihm einmal gewährten Schutzstatus hat. Die Gründe für den Widerruf von "Familienasyl" sind in § 73 Abs. 2b AsylG - abschließend - geregelt. So hat der Umstand, dass sich der Flüchtling - etwa bei Erreichen der Volljährigkeit - von dem Stammberechtigten räumlich trennt oder eine irgendwie geartete "emotionale Distanzierung" stattfindet, keine Auswirkungen auf den Bestand einer einmal zuerkannten Schutzgewährung. Dass umgekehrt, bei Zuerkennung, andere Voraussetzungen gelten sollten, lässt sich dem Gesetz schlicht nicht entnehmen. [...]