VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 20.07.2021 - 10 A 5156/18 - asyl.net: M30064
https://www.asyl.net/rsdb/m30064
Leitsatz:

Flüchtlingseigenschaft für Frau aus dem Iran wegen "Verwestlichung":

"[...] Klägerinnen iranischer Staatsangehörigkeit haben einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlings­eigenschaft aus § 3 AsylG, wenn es ihnen im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller Umstände ihres Einzelfalles ausnahmsweise nicht zumutbar erscheint, sich den im Iran herrschenden rechtlichen und gesellschaftlichen (iranisch-islamischen) und Frauen im Vergleich zu Männern benachteiligenden Regeln zu unterwerfen.

Dies ist dann der Fall, wenn eine weibliche Schutzsuchende infolge des längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität aufgrund der hiesigen Wertevorstellungen hinsichtlich der Gleichberechtigung von Frauen und Männern geprägt worden ist, dass sie entweder nicht mehr in der Lage wäre oder es ihr nicht mehr zugemutet werden kann, bei einer Rückkehr in den Iran ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen [...].

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Frauen, Iran, Verwestlichung, Flüchtlingseigenschaft, soziale Gruppe,
Normen: AsylG § 3
Auszüge:

[...]

26 Hiervon ausgehend steht zur Überzeugung des Berichterstatters fest, dass der Klägerin im Fall ihrer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine von ihr als menschlich herabwürdigend empfundene systematische Ungleichbehandlung gegenüber Männern droht, welche nach den konkreten Umständen des Einzelfalles ausnahmsweise die Qualität einer Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG erreicht. Darauf, ob der Klägerin wegen der regimekritischen, exilpolitischen Aktivitäten ihres Onkels, dem Zeugen ..., aufgrund einer drohenden Reflexverfolgung die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen wäre, kommt es in Ansehung dessen nicht mehr an. [...]

28 a) Der Berichterstatter entnimmt den eingeführten Erkenntnisquellen, dass Frauen im Iran wegen ihres Geschlechts in wesentlichen Lebensbereichen im Vergleich zu Männern rechtlich und tatsächlich  systematisch und kategorisch benachteiligt werden. Jedenfalls bei einer Kumulierung der Wirkungen können diese nach den konkreten Umständen des Einzelfalles eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte (vgl. § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG) einer weiblichen iranischen Schutzsuchenden darstellen.

29 Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes (AA) sind iranische Frauen in rechtlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht vielfältigen Diskriminierungen unterworfen und Gesetze zur Verhinderung und Bestrafung genderspezifischer Gewalt existieren nicht (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran v. 5.2.2021, S. 17 [2021/1]1; UN Human Rights Council (HRC), Situation of human rights in the Islamic Republic of Iran v. 11.1.2021, A/HRC/46/50, S. 14 ff. Rn. 40 ff. [G 9/21]; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Länderreport 28 Iran - Frauen – Rechtliche Stellung und gesellschaftliche Teilhabe aus Juli 2020, S. 4 [G 10/20]). Zwar wird in der iranischen Verfassung eine Gleichbehandlung der Geschlechter vorgeschrieben und eine besondere Schutzpflicht des Staates gegenüber Frauen vorgesehen, aber auch diese Rechte finden ihre Einschränkungen in den Regeln des schiitischen Islams, welcher die Staatsreligion des Irans ist (BAMF, a.a.O., S. 5 f. [G 10/20]). Danach finden Gesetze keine Anwendung, wenn sie im Gegensatz zur Scharia stehen; wie das islamische Recht auszulegen ist, bestimmen dabei der oberste Führer des Irans sowie die sechs im Wächterrat vertretenen Geistlichen (BAMF, a.a.O., S. 6 [G 10/20]). [...]

34 b) Aufgrund der dargestellten Erkenntnislage ist im Fall einer weiblichen Schutzsuchenden ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach den §§ 3 ff. AsylG dann gegeben, wenn der geschlechtsspezifische Aspekt für sie so bedeutsam für ihre Identität oder das Gewissen ist, dass sie nicht gezwungen werden sollte, auf ihn zu verzichten (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AsylG). Es darf ihr – ausnahmsweise und einzelfallbezogen – nicht zumutbar erscheinen, sich im Iran den dortigen rechtlichen und gesellschaftlichen iranisch-islamischen und Frauen im Vergleich zu Männern benachteiligenden Regeln zu unterwerfen (vgl. auch VG Hamburg, Urt. v. 7.7.2021, 10 A 2109/19, juris Rn. 43; VG Schleswig, Urt. v. 16.2.2006, 14 A 62/99, juris Rn. 27 f.; vgl. nur zur Unzumutbarkeit regelkonformen Verhaltens: BVerwG, Urt. v. 20.2.2013, 10 C 23/12, BVerwGE 146, 67 - 89, juris Rn. 26 ff.; OVG Hamburg, Beschl. v. 12.4.2021, 2 Bf 51/21.AZ, BA S. 4 n.v. im Fall der Religionsfreiheit und VGH München, Beschl. v. 2.12.2020, 14 ZB 20.31647, juris Rn. 10 im Fall von Homosexualität). Dies ist dann der Fall, wenn eine weibliche Schutzsuchende infolge des längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität aufgrund der hiesigen Wertevorstellungen hinsichtlich der Gleichberechtigung von Frauen und Männern geprägt worden ist, dass sie entweder nicht mehr in der Lage wäre oder es ihr nicht mehr zugemutet werden kann, bei einer Rückkehr in den Iran ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 29.11.2019, A 11 S 2376/19, juris Rn. 35; OVG Lüneburg, Urt. v. 21.9.2015, 9 LB  20/14, juris Rn. 26). Wann ein solcher Grad der Identitätsprägung hinsichtlich der in Europa gelebten Wertevorstellung zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern erreicht ist, lässt sich nicht allgemeingültig beantworten, sondern bedarf der Prüfung der konkreten Umstände des Einzelfalles im Rahmen einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 12.12.2019, 9 LA 452/19, juris Rn. 13 m.w.N.). Dabei ist auch einzustellen, dass der deutsche Gesetzgeber die für die Antragsteller ungünstige Neufassung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 4 der Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU), dass geschlechtsspezifische Aspekte, einschließlich der geschlechtlichen Identität, bei der Frage der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe nur angemessen zu berücksichtigen sind, in § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 4 AsylG nicht übernommen hat (vgl. BT-Drs. 17/13063, S. 19 f.). Anders als nach dem aktuellen Richtlinientext sind im Rahmen der deutschen Regelung geschlechtsspezifische Aspekte, einschließlich der geschlechtlichen Identität, uneingeschränkt zu berücksichtigen (vgl. BeckOK AuslR/Kluth, 29. Ed. 1.1.2021, AsylG § 3b Rn. 5; NK-AuslR/Winfried Möller, 2. Aufl. 2016, AsylVfG/AsylG § 3b Rn. 12, 18 f.).

35 Dies betrifft auch die Klägerin. Der Berichterstatter hat sich auf Grundlage der Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung und dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon überzeugen können (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), dass sie aufgrund ihres mittlerweile über drei Jahre andauernden Aufenthalts in Deutschland in ihrer Identität als Frau aufgrund der in Deutschland verbreiteten und gelebten Wertevorstellung von der Gleichberechtigung von Frauen und Männern wesentlich und nachhaltig geprägt wurde. Der Berichterstatter hat insoweit nach ihren Angaben und ihrem persönlichen Eindruck in der mündlichen Verhandlung keine Zweifel, dass es für sie einen äußerst hohen Stellenwert hat, ihr Leben selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu führen, ohne dass sie dabei der Bevormundung von männlicher Seite – wie es im Iran nach der dargestellten Erkenntnislage allgegenwärtig ist – und den beschriebenen Benachteiligungen ausgeliefert ist. Aus der Gesamtschau ihrer Angaben ergibt sich, dass sie sich im Laufe ihres Aufenthalts in Deutschland mit den Benachteiligungen für Frauen im Iran aufgrund der von ihr in Deutschland erfahrenen Freiheiten auseinandergesetzt hat und diese für sie nunmehr unverzichtbar sind. Aufgrund dessen ist nicht anzunehmen, dass sie sich im Falle einer Rückkehr in den Iran ohne umfangreiches Verleugnen ihrer Persönlichkeit den im Iran herrschenden Regeln und Gepflogenheiten hinsichtlich der benachteiligenden Behandlung von Frauen im Vergleich zu Männern noch widerspruchslos unterordnen kann. [...]

37 Es hat besonderes Gewicht, dass die Klägerin bereits als junge Frau im Alter von 14 Jahren nach Deutschland eingereist ist und die für die Persönlichkeitsentwicklung typischerweise besonders prägende Phase der Pubertät unter dem Einfluss der in Deutschland gelebten Gleichberechtigung von Frauen und Männern nicht nur im privaten Haushalt von ihren Bezugspersonen mit iranischem kulturellen Hintergrund, sondern auch in ihren weiteren Lebensbereichen, insbesondere im schulischen Bereich, erlebt hat. Sie schilderte dazu nachvollziehbar, wie sie – im Gegensatz zu ihren Erfahrungen in der Schule im Iran – in ihrer Schule in Deutschland erfahren hat, wie Mädchen und Jungen bzw. Frauen und Männer insbesondere hinsichtlich der Wertschätzung ihrer Meinungen in Diskussionen gleichbehandelt wurden. Dass eine solche nachhaltige Prägung im schulischen Bereich der Klägerin vollzogen wurde, wird dadurch gestützt, dass sie in ihrer Anhörung in der mündlichen Verhandlung gezeigt hat, dass sie sich in der deutschen Sprache flüssig und dem Niveau des für die Gerichtsverhandlung notwendigen Umfangs sicher verständigen kann. Darüber hinaus sprechen ihre sehr guten Deutschkenntnisse ebenfalls dafür, dass sie sich in die hiesigen Lebensverhältnisse tatsächlich eingefunden hat. Schließlich äußert sich die von der Klägerin verinnerlichte und als wesentlicher Teil ihrer Persönlichkeit verankerte Wertevorstellung, als Frau gleichberechtigt zu sein, auch in ihrer aktuellen Lebensführung. Es wurde offensichtlich, dass die nunmehr volljährige Klägerin in Deutschland ihr Leben in einer Weise führt und für die Zukunft plant, welche Ausdruck einer die Gleichbehandlung als Frau unbedingt einfordernden Persönlichkeit ist. Ihren authentischen und eindrücklichen Angaben war zu entnehmen, dass sie sich beruflich im Bereich der Zahnmedizin sehe, da sie neben einem genuinen Interesse an dem Beruf sich dadurch auch hinreichend imstande sehe, finanziell unabhängig zu werden, um ihr Leben selbstbestimmt führen zu können. Ihre Freizeit verbringe sie mit Freunden bei gemeinsamen Unternehmungen in Form von Reisen, Treffen und Feiern mit Alkohol. Ihr äußeres Erscheinungsbild entsprach weiter dem im städtischen Alltag in Hamburg vielfach sichtbaren, sommerlichen Bekleidungsstil anderer junger Frauen (vgl. zu den Kriterien für die Annahme einer identitätsprägenden Übernahme westlicher Wertevorstellungen OVG Lüneburg, Urt. v. 21.9.2015, 9 LB 20/14, juris Rn. 41 f.). [...]