LSG Bayern

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Zitieren als:
LSG Bayern, Beschluss vom 07.09.2021 - L 8 AY 80/21 B ER - asyl.net: M30100
https://www.asyl.net/rsdb/m30100
Leitsatz:

Rechtswidrige Leistungskürzung wegen Ermessensausfall der Behörde:

1. Hebt die Sozialbehörde einen Leistungsbescheid auf und gewährt anschließend gekürzte Leistungen, so handelt es sich um eine Rücknahme nach § 45 SGB X, wenn die wesentlichen Umstände sich nicht geändert haben und die Behörde davon ausgeht, dass bereits bei Erlass des Ausgangsbescheides kein Anspruch auf ungekürzte Leistungen bestand. 

2. Hinsichtlich der Rücknahme steht der Leistungsbehörde ein Ermessen zu. Übt sie dieses nicht aus, so ist der Rücknahmebescheid materiell rechtswidrig.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Verwaltungsakt, Dauerverwaltungsakt, Asylbewerberleistungsgesetz, Sozialrecht, Leistungskürzung, Mitwirkungspflicht, Ausreisepflicht, Passbeschaffung, Ermessen, Ermessensausfall, Rücknahme,
Normen: SGB X § 45, AsylbLG § 1a,
Auszüge:

[...]

Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist das Begehren des ASt, höhere Leistungen nach dem AsylbLG, nämlich in Form von Grundleistungen nach Bedarfsstufe 1 ohne Anspruchskürzung zu erhalten. Da es sich hinsichtlich der Höhe der Leistungen nach dem AsylbLG um einen einheitlichen Streitgegenstand handelt, unabhängig davon, auf welche Rechtsgrundlage das Begehren nach weiteren Leistungen gestützt wird, ist - jedenfalls regelmäßig im Wege der Auslegung nach dem Meistbegünstigungsprinzip - die Leistungshöhe unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt zu prüfen (vgl. BSG, Urteil vom 17.06.2008 - B 8/9b AY 1/07 R und Urteil vom 26.06.2013 - B 7 AY 6/11 R; Urteil des Senats vom 29.04.2021 – L 8 AY 122/20 - alle nach juris). Zeitlich ist das Begehren des ASt auf die Zeit vom 20.05.2021 bis 31.10.2021 begrenzt (§ 123 SGG), wie sich aus dem erstinstanzlich gestellten und anwaltlich formulierten Antrag ergibt (Schriftsatz vom 19.05.2021). [...]

Im Übrigen ist der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zulässig und hat in der Sache weitgehend Erfolg. [...]

Gemessen hieran überwiegt das Suspensivinteresse des ASt. [...]

Dem ASt steht voraussichtlich trotz der mit Bescheid vom 15.04.2021 verfügten Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 3 AsylbLG weiter ein Anspruch auf Grundleistungen aus dem Bescheid der Ag vom 15.03.2021 zu. Der Bescheid vom 15.04.2021 ist nämlich bei summarischer Prüfung rechtswidrig. [...]

Der Bescheid vom 15.04.2021 ist aber materiell rechtswidrig. Das folgt zwar nicht schon daraus, dass in Bezug auf den ASt für die Zeit von Mai bis Oktober 2021 die Voraussetzungen für die Bewilligung nur gekürzter Leistungen gemäß § 1a Abs. 1 und 3 AsylbLG (in der seit 01.09.2019 geltenden Fassung des Gesetzes vom 13.08.2019, BGBl. I, 1290, und vom 15.08.2019, BGBl. I, 1294) nicht gegeben gewesen wären. Nach § 1a Abs. 1 und 3 AsylbLG erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 und 5 AsylbLG, bei denen aus von ihnen selbst zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, ab dem auf die Vollziehbarkeit einer Abschiebungsandrohung oder Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung folgenden Tag nur Leistungen entsprechend § 1a Abs. 1 AsylbLG. Danach haben die Leistungsberechtigten keinen Anspruch auf Leistungen nach den §§ 2, 3 und 6 AsylbLG, es sei denn, die Ausreise konnte aus Gründen, die sie nicht zu vertreten haben, nicht durchgeführt werden. Ihnen werden bis zu ihrer Ausreise oder der Durchführung ihrer Abschiebung nur noch Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege gewährt. Nur soweit im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, können ihnen auch andere Leistungen im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG gewährt werden. [...]

Allerdings hat die Ag im Bescheid vom 15.04.2021 hinsichtlich der "Aufhebung" des Bescheids vom 15.03.2021 über die Bewilligung von Grundleistungen die Vorgaben des § 9 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG i.V.m. § 45 SGB X nicht eingehalten. Nach § 9 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG gelten für die Abänderung (Rücknahme, Widerruf, Aufhebung) von Verwaltungsakten die §§ 44 bis 50 SGB X. Vorliegend wurde der Bescheid vom 15.03.2021 durch den Bescheid vom 15.04.2021 mit Wirkung ab Mai 2021 "aufgehoben". Dabei handelt es sich jedoch um eine Rücknahme i.S.d. § 45 SGB X, denn die Abgrenzung des Anwendungsbereichs von § 45 SGB X, also der Rücknahme einer von Anfang an rechtswidrigen Begünstigung, einerseits und von § 48 SGB X, der Aufhebung eines Dauerverwaltungsakts wegen einer nachträglichen wesentlichen Änderung der für seinen Erlass maßgeblichen Umstände, andererseits, erfolgt anhand der objektiv gegebenen Sach- und Rechtslage, die bei Erlass des zur Korrektur anstehenden Verwaltungsaktes gegeben war. Auf die Kenntnis der Behörde (oder auch nur deren Kenntnismöglichkeit) oder gar auf den Abschluss der von ihr für notwendig erachteten Ermittlungen kann es dabei nicht ankommen (vgl. BSG, Urteil vom 02.04.2009 - B 2 U 25/07 R; Urteil des Senats vom 05.08.2020 - L 8 AY 28/19 - alle nach juris), da dies die objektive Lage nicht zu ändern bzw. zu beeinflussen vermag. Der Bescheid vom 15.03.2021 stellt, wie oben dargelegt, einen Dauerverwaltungsakt dar, denn damit sind dem ASt zukunftsoffen Grundleistungen für die Zeit ab Januar 2021 bewilligt worden. Ferner war der Bescheid mangels rechtzeitiger Anfechtung durch einen Widerspruch spätestens Mitte April 2021 bestandskräftig. Die Leistungsbewilligung mit Bescheid vom 15.04.2021 war jedoch rechtswidrig, denn bei seinem Erlass erfüllte der ASt die Voraussetzungen für die Bewilligung von Grundleistungen ohne Anspruchseinschränkung nicht mehr. Vielmehr war er vollziehbar ausreisepflichtig, kam aber seinen Mitwirkungspflichten - dazu gilt das oben Gesagte - nicht nach. Auch wenn § 1a AsylbLG keine eigene Anspruchsgrundlage darstellt, sondern lediglich den Anspruch auf Grundleistungen begrenzt (vgl. BSG, Urteil vom 12.05.2017 – B 7 AY 1/16 R - juris), ist seine Anwendung der zuständigen Behörde nicht freigestellt oder liegt in deren Ermessen, sondern seine Anwendung ist zwingend, wie sich aus dem Wortlaut des § 1a AsylbLG in der Zusammenschau mit § 14 Abs. 2 AsylbLG ergibt.

Damit hätten dem Ast bereits bei Erlass des Bescheids vom 15.03.2021 jedenfalls für die hier relevante Zeit ab Mai 2021 nur mehr gemäß § 1a AsylbLG eingeschränkte Leistungen bewilligt werden dürfen. Stellt man für die Anspruchseinschränkung nicht ohnehin bereits darauf ab, dass der Kläger seit Jahren fruchtlos wiederholt aufgefordert wurde, an der Beschaffung von Heimreisedokumenten mitzuwirken, und die Ag deswegen schon mehrfach Anspruchseinschränkungen festgestellt hatte (Bescheide vom 02.08.2018, 24.08.2019, 05.11.2019, 07.02.2020, 20.02.2020 und 14.05.2020), war im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheids vom 15.03.2021 jedenfalls auch die mit Schreiben vom 15.10.2020 von der Ausländerbehörde gesetzte Frist bis 11.01.2021 ohne Nachweis der verlangten Mitwirkungshandlung des ASt verstrichen.

Bei der Rücknahme des somit insofern rechtswidrigen Bescheids vom 15.03.2021 hätte die Ag daher - unbeschadet dessen, dass einer Rücknahme auch schutzwürdiges Vertrauen des ASt i.S.d. § 45 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB X entgegenstehen dürfte — nach der Vorgabe in § 45 Abs. 2 SGB X Ermessen ausüben müssen (vgl. Urteil des Senats vom 05.08.2020 - L 8 AY 28/19 - juris; Frerichs in jurisPK-SG XII, § 3 AsylbLG, Stand: 12.06.2020, Rn. 204). Daran fehlt es mangels entsprechender Ausführungen im Bescheid aber völlig, womit ein sog. Ermessensausfall vorliegt. Vielmehr ging die Ag offenbar von einer Aufhebung gemäß § 48 SGB X aus, die keine Ermessensausübung erfordert. Eine solche liegt hier aber, wie gezeigt, nicht vor. Auch die von der Ag vor Erlass des Bescheids vom 15.04.2021 durchgeführte Anhörung, bei der nochmals nach einem Nachweis über die Beantragung der Identity Card gefragt wurde bzw. nach Gründen, die einer Antragstellung entgegenstehen könnte, ändert daran etwas. Daraus konnte sich nämlich keine (wesentliche) Änderung der Sachlage ergeben, weil bereits mit Ablauf der von der Ausländerbehörde gesetzten Frist der Tatbestand des § 1a Abs. 3 AsylbLG verwirklicht war und keine neue bzw. nochmalige Frist gesetzt worden war.

Mangels einer demnach anzunehmenden wesentlichen Änderung der Verhältnisse gegenüber denen bei Bekanntgabe des Bescheids vom 15.03.2021 wäre im Übrigen die Aufhebung nach § 48 SGB X ebenfalls rechtswidrig.

Eine Heilung der gänzlich fehlenden Ermessenserwägungen kommt auch über Art. 45 Abs. 1 Nr. 2 BayVwVfG nicht infrage. Ebenso scheidet eine Umdeutung wegen Art. 47 Abs. 3 BayVwVfG aus. Ferner existiert für den Bereich des AsylbLG keine Vorschrift, welche - etwa wie im Rahmen des Zweiten oder Dritten Buches Sozialgesetzbuch - in diesen Fällen in Abweichung von § 45 Abs. 2 SGB X eine gebundene Entscheidung vorsieht.

Überdies würden erstmalige Ermessenserwägungen im gerichtlichen Verfahren einen völlig anderen Ansatz bedeuten, was in der vorliegenden prozessualen Situation der Anfechtungsklage als unzulässiges "Nachschieben von Gründen" einzustufen wäre (vgl. dazu Keller, a.a.O., § 54 Rn. 35 ff.), da es zu einer Wesensänderung des Bescheids vom 15.04.2021 und in der Folge zu einer Beschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten des ASt führen würde (vgl. BSG, Urteil vom 25.06.2015 - B 14 AS 30/14 R - juris). [...]