VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 08.09.2021 - 3 E 1270/21 (Asylmagazin 5/2022, S. 175 f.) - asyl.net: M30120
https://www.asyl.net/rsdb/m30120
Leitsatz:

Ablehnung der Anordnung von Ersatzzwangshaft zur Durchsetzung der aufenthaltsrechtlichen Mitwirkungspflicht:

"1. ("Ersatz“-) Zwangshaft ist - anders als Erzwingungshaft - kein primäres (selbständiges) Vollstreckungsmittel. Sie tritt als Beugehaft (akzessorisch) an die Stelle des Zwangsgeldes, wenn dies uneinbringlich ist. Sie ist selbst Druckmittel zur Bewirkung der Handlung, Duldung oder Unterlassung, die dem Pflichtigen in dem zu vollstreckenden Grundverwaltungsakt aufgegeben worden war.

2. Da es sich bei der Zwangshaft um einen schwerwiegenden Eingriff in die durch Art. 2 Abs. 2 GG gewährleistete Freiheit der Person handelt, muss sie das letzte Mittel sein, zu dem der Staat Zuflucht nimmt, um seine rechtmäßigen Anordnungen gegenüber widerspenstigen Bürgern durchzusetzen. Als solches ist sie nur in Ausnahmefällen zu rechtfertigen.

3. Der für alle Eingriffe der öffentlichen Gewalt geltende und aus dem Rechtsstaatsgebot folgende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besagt, dass Maßnahmen der öffentlichen Gewalt geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne sein müssen. Eine Maßnahme muss zunächst geeignet sein, das angestrebte Ziel zu erreichen. Ferner hat die öffentliche Gewalt unter mehreren geeigneten Maßnahmen diejenige auszuwählen, die den Einzelnen und die Allgemeinheit am wenigsten beeinträchtigt. Schließlich hat eine Maßnahme zu unterbleiben, wenn die durch sie zu erwartenden Nachteile für den Betroffenen außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg stehen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Zwangshaft, Erzwingungshaft, Zwangsmittel, Verhältnismäßigkeit, Rechtsstaatsprinzip, Passbeschaffung, Auslandsvertretung, zwangsweise Vorführung bei Auslandsvertretung, Mitwirkungspflicht,
Normen: GG Art. 2, AufenthG § 82 Abs. 4, HSOG § 51,
Auszüge:

[...]

2 Die Anordnung von Ersatzzwangshaft gem. § 51 HSOG gegenüber dem Beschwerdeführer stellt sich im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats als unverhältnismäßig und damit als rechtswidrig dar.

3 ("Ersatz"-) Zwangshaft ist - anders als Erzwingungshaft - kein primäres (selbständiges) Vollstreckungsmittel. Sie tritt als Beugehaft lediglich (akzessorisch) an die Stelle des Zwangsgeldes, wenn dies uneinbringlich ist. Ihr Zweck besteht nicht etwa darin, den Pflichtigen zur Zahlung des Zwangsgeldes zu zwingen, dies im Gegensatz zur Erzwingungshaft im Bußgeldverfahren, sondern sie ist selbst Druckmittel zur Bewirkung der Handlung, Duldung oder Unterlassung, die dem Pflichtigen in dem zu vollstreckenden Grundverwaltungsakt aufgegeben worden war. Sie ist gegenüber dem Zwangsgeld subsidiär, teilt dessen Charakter als reines Beugemittel und enthält keinerlei Strafelemente. Strafrechtliche und bußgeldrechtliche Bestimmungen wie etwa solche über Vorsatz, Fahrlässigkeit, Täterschaft und Teilnahme sind auf die Ersatzzwangshaft weder direkt noch analog anwendbar. Da es sich bei der Zwangshaft um einen schwerwiegenden Eingriff in die durch Art. 2 Abs. 2 GG gewährleistete Freiheit der Person handelt, muss sie das letzte Mittel sein, zu dem der Staat Zuflucht nimmt, um seine rechtmäßigen Anordnungen gegenüber widerspenstigen Bürgern durchzusetzen. Als solches ist sie nur in Ausnahmefällen zu rechtfertigen. Es bedarf einer strengen Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit; unverhältnismäßig könnte sie etwa sein, wenn ein Verstoß gegen eine Ordnungspflicht drei Jahre lang ohne Folgen geblieben war. Der mit der Ersatzzwangshaft verbundene schwerwiegende Eingriff in die persönliche Bewegungsfreiheit des Vollstreckungsschuldners darf nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache stehen. Die erforderliche Abwägung hat alle Umstände des konkreten Einzelfalles zu berücksichtigen (vgl. Troidl in Engelhardt/App/Schlatmann, Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz/Verwaltungszustellungsgesetz, Kommentar, 12. Aufl., 2021, § 16 Rdnr. 1 m.w.N.; Sadler/Tilmanns in Sadler/Tilmanns, Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz/Verwaltungszustellungsgesetz, 10. Aufl., 2019, § 16 Rdnr. 14 m.w.N.). [...]

5 Unter Anlegung dieser Maßstäbe stellt sich die Anordnung der Ersatzzwangshaft als ungeeignet dar und ist zudem nicht das zur Verfügung stehende mildeste Mittel.

6 Zu Recht weist der Beschwerdeführer in seiner Beschwerdebegründung auf die Stellungnahme des Regierungspräsidiums Darmstadt vom 17.10.2012 an den Beschwerdegegner hin, nach der er zum damaligen Zeitpunkt hinreichend bei der Passbeschaffung mitgewirkt habe, sich aber gleichwohl nicht absehen lasse, ob und wann er einen Pass oder ein Passersatzpapier zur Ausreise nach Bangladesch erhalten werde. Es sei daher zu prüfen, so das Regierungspräsidium Darmstadt weiter, ob dem Beschwerdeführer eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen sei. Tatsächlich wurde dem Beschwerdeführer daraufhin erstmals am 17.04.2014 eine Aufenthaltserlaubnis bis zum 12.09.2014 erteilt, die auf seine Verlängerungsanträge jeweils, letztmalig bis zum 12.09.2016, verlängert wurde. Auf den danach gestellten Verlängerungsantrag erhielt der Beschwerdeführer Fiktionsbescheinigungen. Mit Bescheid vom 19.09.2018 wurde der Beschwerdeführer aufgefordert, bei der Ausländerbehörde vorzusprechen und einen gültigen Nationalpass vorzulegen (Ziffer 1); sollte er über keinen gültigen Pass verfügen, wurde er aufgefordert, einen neuen Pass ausstellen zu lassen und diesen ebenfalls innerhalb der vorgenannten Frist vorzulegen (Ziffer 2). Für den Fall, dass er den Anforderungen nicht fristgerecht nachkomme, wurde ihm ein Zwangsgeld in Höhe von 200,00 Euro angedroht. Der Bescheid, den der Beschwerdeführer bestandskräftig werden ließ, wurde in der Folgezeit zum Anlass genommen, weitere Zwangsgeldandrohungen und Festsetzungen vorzunehmen, zuletzt mit Bescheid vom 21.01.2021, mit dem ein Zwangsgeld in Höhe von 800,00 Euro festgesetzt und ein weiteres in Höhe von 1.000,00 Euro angedroht wurde. Am 11.03.2021 erfolgte dann der Antrag des Beschwerdegegners auf Anordnung von Ersatzzwangshaft.

7 Die Anordnung von Ersatzzwangshaft ist nach den dem Senat vorliegenden Aktenmaterialien ungeeignet in dem oben umschriebenen Sinn, da nicht ersichtlich ist, dass sich der Sachverhalt nach den Feststellungen des Regierungspräsidiums Darmstadt vom 17.10.2012 geändert haben könnte und die Botschaft der Volksrepublik Bangladesch nunmehr bereit sein könnte, dem Beschwerdeführer einen Nationalpass bzw. ein Passersatzdokument auszustellen. [...]

8 Die Anordnung von Ersatzzwangshaft stellt sich des Weiteren als unverhältnismäßig dar, weil dem Beschwerdegegner - seine Ansicht als richtig unterstellt, eine erneute Vorsprache bei der Botschaft der Volksrepublik Bangladesch könnte heute geeignet sein, einen Nationalpass für den Beschwerdeführer zu erhalten - ein milderes Mittel zur Verfügung gestanden hätte. Der Beschwerdegegner hätte dem Beschwerdeführer nämlich gemäß § 82 Abs. 4 AufenthG aufgeben können, bei der zuständigen Behörde des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er vermutlich besitzt, persönlich zu erscheinen und im Verweigerungsfall hätte er dies durch eine Vorführung bei der Botschaft der Volksrepublik Bangladesch durchsetzen können. [...]