VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 23.09.2021 - 13 A 196/21 - asyl.net: M30121
https://www.asyl.net/rsdb/m30121
Leitsatz:

Frist zur Folgeantragstellung ist wegen Unionsrechtswidrigkeit nicht anwendbar:

1. Der Kläger kann seinen Folgeantrag nicht mit einer Änderung der Rechtslage durch ein BVerwG-Urteil (Urteil vom 17.11.2020 - 1 C 8.19 - asyl.net: M29341, wonach die Schutzzuerkennung in anderen EU-Staaten der Familienschutzgewährung in Deutschland nicht entgegensteht) begründen, da geänderte Rechtsprechung keine Änderung der Rechtslage herbeiführt. Die nach Abschluss seines Asylerstverfahrens erfolgte Schutzzuerkennung an seine Ehefrau stellt aber eine neue Sachlage dar. Am Bestand der Ehe bestehen keine Zweifel (Anm. d. Red.: das BAMF hatte dies bei Folgeantragstellung des Ehemannes verneint, obwohl es im vorangegangenen Dublin-Verfahren seine Aufnahme aus Griechenland zur Familienzusammenführung erwirkt hatte).

2. Die gesetzlich vorgesehene Frist zur Folgeantragstellung innerhalb von drei Monaten ab Kenntnis des Wiederaufnahmegrundes nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 3 VwVfG ist nicht anzuwenden, da sie unionsrechtswidrig ist (unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 09.09.2021 - C-18/20 XY gg. Österreich (Asylmagazin 12/2021, S. 434 ff.) - asyl.net: M29993; VG Minden, Beschluss vom 28.04.2021 - 1 L 741/20.A - asyl.net: M29676).

3. Die Schutzzuerkennung in einem anderen EU-Staat steht der Gewährung von Familienschutz in Deutschland nicht entgegen (unter Bezug auf BVerwG, Urteil vom 17.11.2020 - 1 C 8.19 - asyl.net: M29341).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylfolgeantrag, Drei-Monats-Frist, Familienschutz, Frist, Asylantragstellung, Familienschutz, EuGH, Unionsrecht, Asylverfahrensrichtlinie, Änderung der Sach- und Rechtslage, Folgeantragsgrund, internationaler Schutz in EU-Staat,
Normen: AsylG § 71 Abs. 1 S. 1, VwVfG § 51 Abs. 3, VwVfG § 51 Abs. 2, AsylG § 26 Abs. 1 S. 1 , AsylG § 26 Abs. 5, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, RL 2013/32/EU Art. 40,
Auszüge:

[...]

20 Zwar kann sich der Kläger nicht auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 17.11.2020 – 1 C 8.19 – als eine Änderung der Rechtslage berufen. Für eine solche bedarf es einer Änderung im Bereich des materiellen Rechts, dem eine allgemein verbindliche Außenwirkung zukommen muss. Eine geänderte Rechtsprechung führt hingegen gerade keine Änderung der Rechtslage herbei (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.01.1994 – 2 C 12.92 – BVerwGE 95, 86-94, juris Rn. 22). Gerichtliche Entscheidungsfindung bleibt vielmehr rechtliche Würdigung des Sachverhalts am Maßstab der vorgegebenen Rechtsordnung. Sie ist nicht geeignet oder darauf angelegt, die Rechtsordnung konstitutiv zu verändern (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12.11.2020 – 2 B 1.20 – juris Rn. 8 m. w. N.). Dies gilt auch für die höchstrichterliche Rechtsprechung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16.02.1993 – 9 B 241.92 – Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 29, juris Rn. 3; möglicherweise ausgenommen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, soweit sie nach § 31 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht besondere Bindungskraft genießen, vgl. OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 12.04.2021 – 14 A 818/19.A – juris Rn. 56 f. m. w. N.).

21 Vorliegend ist aber eine Änderung der Sachlage gegeben. [...]

22 Eine Änderung der Sachlage besteht hier insofern vor, als der Frau ... mit Bescheid des Bundesamtes vom 04.12.2017 (Lfd. Dok. Nr. 157 der Asylakte ... – 475) der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde.

23 Die Anerkennung der Frau ... lässt für den Kläger auch eine günstigere Entscheidung möglich erscheinen. Es kommt ein Anspruch auf internationalen Familienschutz nach § 26 Abs. 1 Satz. 1 AsylG i. V. m. § 26 Abs. 5 AsylG ernsthaft in Betracht. [...]

31 Ferner erfüllt der Kläger auch die Voraussetzungen nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m § 51 Abs. 2 VwVfG, als er im früheren Verfahren die zeitlich nach Verfahrensabschluss erfolgte Schutzanerkennung der Frau ... nicht geltend machen konnte.

32 Unerheblich ist, dass der Kläger seinen Folgeantrag nicht innerhalb von drei Monaten nach Kenntnis der Schutzanerkennung der Frau ... gestellt hat (vgl. § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG i. V. m. § 51 Abs. 3 VwVfG). Das Gericht sieht sich aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts an einer Anwendung von § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 3 VwVfG gehindert. [...]

34 Die nationale Fristgebundenheit bei Folgeanträgen steht dem Unionsrecht entgegen (vgl. EuGH, Urteil vom 09.09.2021 – C-18/20 [ECLI:EU:C:2021:710] – Rn. 55 ff.; vgl. auch VG Minden, Beschluss vom 28.04.2021 – 1 L 741/20.A – juris Rn. 35 f. m. w. N.).

35 Dies ergibt sich zum einen daraus, dass während der Unionsgesetzgeber etwa in Art. 28 RL 2013/32/EU den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit von Befristungen ausdrücklich einräumt, es für den Folgeantrag in den Art. 40 ff. RL 2013/32/EU an einer derartigen Regelung fehlt. Zum anderen ermöglichte noch der Art. 34 Abs. 2 lit. b RL 2005/85 als die Vorgängervorschrift des Art. 42 Abs. 2 RL 2013/32/EU eine Fristgebundenheit. Das Fehlen dieser Möglichkeit im neuen Art. 42 Abs. 2 RL 2013/32/EU bedeutet, dass die Mitgliedstaaten eine solche Frist nicht mehr vorsehen dürfen (vgl. EuGH, Urteil vom 09.09.2021 – C-18/20 – Rn. 55 ff.). [...]

38 Die Gewährung internationalen Schutzes durch einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union hindert nicht die Zuerkennung des von einem schutzberechtigten Familienangehörigen abgeleiteten internationalen Familienschutzes. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG findet in Fällen des § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i. V. m. Abs. 1 bis 3 AsylG keine Anwendung (BVerwG, Urteil vom 17.11.2020 – 1 C 8.19 – juris Leitsatz). [...]