OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 22.09.2021 - 5 A 855/19.A - asyl.net: M30124
https://www.asyl.net/rsdb/m30124
Leitsatz:

Keine Flüchtlingsanerkennung wegen Wehrdienstentziehung in Syrien:

"Der Wehrdienstentzug syrischer Staatsangehöriger durch Ausreise und Verbleib im Ausland begründet für "einfache" Wehrdienstentzieher ohne hinzutretende Risikofaktoren derzeit keine Furcht vor flüchtlingsrelevanter Verfolgung.

Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft folgt nicht aus der Anwendung von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG. Nach der aktuellen militärischen Situation in Syrien ist derzeit nicht davon auszugehen, dass eine Ableistung des Militärdienstes in der syrischen Armee durch einen Wehrdienstpflichtigen, der sein hypothetisches Einsatzgebiet nicht kennt, diesen zwangsläufig oder zumindest sehr wahrscheinlich veranlassen würde, Verbrechen im Sinne von § 3 Abs. 2 AsylG zu begehen.

Der Senat lässt offen, ob für die spezifischen Verfolgungshandlungen nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG Unionsrecht gebieten kann, die gemäß § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und dem Verfolgungsgrund bereits dann zu bejahen, wenn die Verweigerung des Wehrdienstes nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG auf einem Grund i.S.d. § 3b AsylG beruht, unabhängig davon, ob die hieran anschließende Bestrafung durch den Verfolgungsakteur ihrerseits in diesen Fällen nicht final, sondern letztlich nur kausal hiermit verbunden ist.

Der Senat lässt ferner offen, ob in Fällen, in denen - anders als nach den Feststellungen des Senats hier - der Militärdienst gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG in einem Konflikt Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes i.S.d. Norm mit der Erwägung verneint werden kann, dass faktisch im Herkunftsland keine Bestrafung des Wehrdienstentzugs, sondern stattdessen eine Einziehung zum Militärdienst stattfindet, ohne dass in diese Erwägung einbezogen wird, mit welchen Maßnahmen ein Antragsteller zu rechnen hätte, wenn er nach einer solchen Einziehung zum Militärdienst sodann die Begehung von Verbrechen oder Handlungen i.S.d. § 3 Abs. 2 AsylG im konkreten Einsatz verweigern würde.

"Einfache" Wehrdienstentzieher ohne hinzutretende Risikofaktoren sind im Falle ihrer Rückkehr keiner Verfolgungsqualität erreichenden diskriminierenden Behandlung durch das syrische Regime oder einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung (§ 3a Ab. 2 Nr. 2 und 3 AsylG) wegen einer (unterstellten) oppositionellen Gesinnung oder eines anderen
Verfolgungsgrundes (§ 3a Abs. 3 i. V. m. § 3b Abs. 1 und Abs. 2 AsylG) ausgesetzt."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Syrien, Upgrade-Klage, Militärdienst, Wehrdienstentziehung, Verfolgungsgrund, politische Verfolgung, Asylrelevanz, Verknüpfung, Verfolgungshandlung, Rückkehrgefährdung, Nachfluchtgründe, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz, Wehrdienstverweigerung, Flüchtlingsanerkennung, Kriegsverbrechen, unverhältnismäßige Strafverfolgung, Strafverfolgung wegen Verweigerung von völkerrechtswidrigem Militärdienst
Normen: RL 2011/95/EU Art. 9 Abs. 2 Bst. e, RL 2011/95/EU Art. 10, RL 2011/95/EU Art. 12, AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, AsylG § 3b,
Auszüge:

[...]

48 Zur aktuellen tatsächlichen Praxis der Heranziehung zum Wehr- und Militärdienst und zu den Umständen des Einsatzes von Wehrpflichtigen in der syrischen Armee ist anhand der vorliegenden Erkenntnismittel Folgendes festzustellen:

49 In der ersten Phase des Bürgerkriegs hatte der syrische Staat die Kontrolle über weite Teile des Staatsgebiets verloren und das Regime kämpfte um sein Überleben. Die syrische Armee hatte durch Todesfälle, Desertionen und Überlaufen zu den Rebellen erhebliche Verluste zu erleiden (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Syrien, 5. Januar 2017, S. 39; Waters, The Lion and The Eagle, 18. Juli 2019, - Collapse -). Seit Herbst 2014 ergriff der syrische Staat Maßnahmen, um die dezimierte syrische Armee zu stärken (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28. März 2015). So soll das syrische Regime die Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten und die Suche nach Wehrdienstentziehern und Deserteuren intensiviert und dieses Vorgehen seit Januar 2016 nochmals gesteigert haben (vgl. SFH, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion, 23. März 2017, S. 6). Der hohe Bedarf an Soldaten schlug sich nicht nur in starken Rekrutierungsbemühungen nieder, sondern auch darin, dass Wehrpflichtige über die normale Wehrdienstzeit hinaus in der Armee weiterdienen mussten und nicht entlassen wurden. Entlassungen aus dem Militärdienst waren eher die Ausnahme (vgl. SFH, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion, 23. März 2017, S. 5 f.). Ausnahmen vom Militärdienst wurden willkürlich nicht anerkannt (FIS, Syria – Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime And Armed Opposition, 23. August 2016, S. 9 f.)

50 Mittlerweile ist es dem syrischen Staat mit der militärischen Unterstützung der Russischen Föderation und der Islamischen Republik Iran gelungen, die Kontrolle über große Teile des Landes zurückzuerlangen. Die Anzahl der Kampfhandlungen ist in der Folge zurückgegangen. Nicht unter der Herrschaft des Regimes steht weiterhin die Region um Idlib im Nordwesten, sowie der Norden und der Nordosten des Landes. Die Absicht des Regimes, das gesamte Staatsgebiet zurückzuerobern, besteht zwar fort und eine politische Lösung des Konflikts ist nicht in Sicht. Militärische Offensiven des syrischen Regimes laufen aber derzeit nicht und sind auch nicht absehbar (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 4. Dezember 2020, S. 6 ff.).

51 Letzte umfangreiche Kampfhandlungen erfolgten in der jüngeren Vergangenheit in der Region um Idlib, wo die vom VN-Sicherheitsrat als Terrororganisation designierte, bewaffnete Gruppe Hayat Tahrir al Sham (HTS, zuvor Jabhat al Nusra) nach Kämpfen mit anderen bewaffneten Oppositionsgruppen im Januar 2019 die militärische Kontrolle über die sogenannte "Deeskalationszone" Idlib (DEZ) weitgehend übernommen hat. Im Dezember 2019 hatten das Regime und seine Unterstützer zunächst die seit Mai 2019 in der DEZ laufende Militäroffensive deutlich intensiviert. Wie bereits zuvor verfolgte insbesondere das Regime dabei wiederum eine Strategie der "verbrannten Erde", die Luftangriffe auf zivile Infrastruktur wie Schulen, Krankenhäuser, Märkte und Flüchtlingslager einschließt, und den Eindruck erweckt, es werde zivile Infrastruktur gezielt zerstört und die Bevölkerung gezielt vertrieben. Die Kampfhandlungen in Idlib forderten laut dem VN-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) zwischen April 2019 und Februar 2020 mindestens 1.750 zivile Opfer, wobei das Regime und seinen Verbündeten für 93 % verantwortlich sein sollen. Durch die Offensive eroberte das Regime ca. 200 Ortschaften im südöstlichen Teil Idlibs sowie im Westen des Gouvernements Aleppo. Nachdem ein durch den türkischen Staatspräsidenten wiederholt geforderter Rückzug der Regimekräfte nicht erfolgte, sowie in Reaktion auf Luftangriffe des Regimes auf türkische Streitkräfte in der Region um Idlib-Stadt, bei denen 34 türkische Soldaten getötet und 34 verletzt wurden, begann die Türkei am 27. Februar 2020 die Militäroperation "Frühlingsschild" gegen die Truppen des syrischen Regimes und seine Verbündeten in Idlib. Die Türkei verfolgt dabei das Ziel, eine Offensive auf Idlib zu vermeiden, um eine Massenflucht in Richtung der türkischen Grenze zu verhindern. Nachdem sich so unmittelbar Russland und die Türkei in Kampfhandlungen gegenüberstanden, vereinbarten der türkische und der russische Staatspräsident am 5. März 2020 ein Waffenruheabkommen für Idlib, die Einrichtung eines Sicherheitskorridors nördlich und südlich der Fernstraße M4 sowie russisch-türkische Patrouillen entlang der Verbindungsstraße M4 in Nicht-Regimegebieten. Dieses Waffenruheabkommen wird seitdem im Wesentlichen eingehalten, wenngleich einzelne Angriffe seitens russischer und syrischer Streitkräfte in der Region Idlib, auch auf zivile Einrichtungen und mit zivilen Opfern, wohl weiterhin stattfinden (vgl. BILD, "Assad und Putin richten Blutbad an - Flüchtlinge und Krankenhäuser in Syrien im Visier", 8. September 2021). Ein grundlegender Bruch des Waffenruheabkommens ist derzeit - auch angesichts der weittragenden politischen Folgen einer  unmittelbaren militärischen Konfrontation zwischen der Türkei und Russland - nicht erwartbar. Die Frontlinien in der Region Idlib werden vielmehr weiterhin als "eingefroren" bewertet (vgl. zum Ganzen: Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 4. Dezember 2020, S. 6 ff.; NZZ, Bürgerkrieg in Syrien, 10. August 2021).

52 Die Gebiete im Norden Syriens stehen demgegenüber unter der Kontrolle der Türkei und türkeinaher Milizen, die zwar vereinzelt Auseinandersetzungen mit der kurdischen Miliz Yekîneyên Parastina Gel (YPG) haben, nicht aber mit der syrischen Armee. Im Nordosten Syriens haben die Syrian Democratic Forces (SDF) und die YPG kurdisch dominierte Verwaltungsstrukturen errichtet, die vor allem im Konflikt mit der Türkei und türkeinahen Kräften liegen, hingegen mit dem syrischen Regime eine Einigung über die Präsenz von Regimekräften erreicht haben. Der Süden und Südwesten des Landes wurde vom syrischen Regime zurückerobert. Bezüglich dieser Gebiete wird beschrieben, dass das Regime keine effektive Kontrolle ausübe und die Lage sich zunehmend destabilisiere. Es komme vermehrt zu Demonstrationen und Unruhen sowie bewaffneten Auseinandersetzungen, Anschlägen und gezielten Tötungen. Im Süden und Südwesten hätten im März 2020 die regional bisher umfangreichsten Kampfhandlungen seit Sommer 2018 - auch mit zivilen Opfern - stattgefunden, als Regimetruppen bewaffnete Oppositionelle im südsyrischen Ort Sanamayn belagerten und sie unter Einsatz von Panzern innerhalb weniger Tage besiegten. Ende September bis Anfang Oktober 2020 sei es zu umfangreichen Kampfhandlungen zwischen bewaffneten Gruppen aus den Gouvernements Daraa und Suweida, darunter Kämpfer der drusischen Minderheit, Regimetruppen und -Milizen, sowie von Russland unterstützte Kampfverbände ehemaliger Oppositionskämpfer gekommen (vgl. auch hierzu Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 4. Dezember 2020, S. 6 ff.; NZZ, Bürgerkrieg in Syrien, 10. August 2021). Auch bezüglich dieser Region wird mithin lediglich über begrenzte Kampfhandlungen, nicht über ausgedehntere Militäroperationen der syrischen Armee berichtet.

53 Vor dem Hintergrund des Rückgangs größerer Militäroperationen und der COVID-19-Pandemie sollen sich in letzter Zeit die Rekrutierungsbemühungen der syrischen Armee verringert haben (EASO, Syria - Military service, April 2021, S. 15). Dies stellt eine neue Entwicklung dar, nachdem zwar bereits seit 2018 - mit der Stabilisierung der militärischen Situation zugunsten des syrischen Staates - Entlassungen der länger dienenden Rekrutenklassen aus der syrischen Armee vorgenommen wurden, zunächst aber weiterhin ein hoher Personalbedarf der Armee bestand und weiterhin intensive Rekrutierungen erfolgten (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Syrien, 18. Dezember 2020, S. 43 f.; DIS, Syria - Military Service, Mai 2020, S. 9; Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 4. Dezember 2020, S. 7, 14; DIS, Syria - Issues Regarding Military Service, Oktober 2019, S. 11). Zum Teil wird behauptet, dass sich nunmehr die Rekrutierung auf Alawiten und loyale Gebiete konzentriert, und dass auch ältere Männer über 30 Jahre, wenn sie nicht über besondere Qualifikationen verfügen, wahrscheinlich Ausnahmen erhalten. Von anderer Seite wird angenommen, dass sich das syrische Regime weiterhin auf die Rekrutierung von Soldaten aus den zurückeroberten ehemaligen Rebellengebieten fokussiert (EASO, Syria - Military service, April 2021, S. 15). Hierbei werden in erheblichem Umfang insbesondere auch "versöhnte" vormalige Kämpfer der Rebellengruppen in Armeeeinheiten integriert (Waters, The Lion and The Eagle, 18. Juli 2019, - Rebuilding -).

54 Am 10. Januar 2021 hat die syrische Regierung ferner in einem Rundschreiben die Verringerung der Gefechtsbereitschaft und der Mobilisierung auf das Niveau von vor 2012 angeordnet. In der Praxis werde das durch ausgedehntere Urlaubstage für die Soldaten erreicht. Dies wurde als ein Mittel interpretiert, in einer Zeit, in der größere Militäroperationen eingefroren sind und sich die ökonomische Situation verschlimmert hat, die Kosten zu senken (EASO, Syria - Military service, April 2021, S. 15 f.).

55 Die Namen der einberufenen Personen werden in einer zentralen Datenbank erfasst (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Syrien, 18. Dezember 2020, S. 44, DIS, Syria - Military Service, Mai 2020, S. 11). Wer sich nicht bei seiner lokalen Rekrutierungsbehörde meldet, wird nach einer gewissen Zeit auf die Liste der Militärdienstentzieher gesetzt (vgl. u.a. EASO, Syria - Military service, April 2021, S. 20 f.; UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen, 24. April 2017, S. 24). Es gibt Berichte, denen zufolge militärdienstpflichtige Männer, die auf einen Einberufungsbescheid nicht reagieren, von Mitarbeitern der Geheimdienste abgeholt und zwangsrekrutiert werden. Die Wehrpflicht wird zudem durch die Einrichtung von Checkpoints und die Durchführung von Razzien im öffentlichen Raum (insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten), auf Ämtern bei Behördengängen, an Universitäten und in Krankenhäusern und teilweise auch weiterhin durch gezielte Hausdurchsuchungen durchgesetzt (vgl. DIS, Syria - Military Service, Mai 2020, S. 11 f.; EASO, Syria - Military service, April 2021, S. 20 ff.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Syrien, 18. Dezember 2020, S. 44; Landinfo, Syria: Reactions against deserters and draft evaders, 3. Januar 2018, S. 7; Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 4. Dezember 2020, S. 13 f. und vom 20. November 2019, S. 11). Der syrische Staat hat auch in rückeroberten Rebellengebieten Rekrutierungszentralen eingerichtet, bei denen sich Wehrdienstentzieher und Deserteure melden können, um so eine Suche der Sicherheitskräfte nach ihnen zu beenden (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Syrien, 18. Dezember 2020, S. 44).

56 Generell ist es Wehrdienstpflichtigen möglich, sich anstelle der Syrischen Arabischen Armee einer regimetreuen Miliz anzuschließen; allerdings versucht die Regierung, diese Milizen in die offiziellen militärischen Strukturen einzugliedern (FIS, Syria: Factfinding mission to Beirut and Damaskus, April 2018, Bericht vom 14. Dezember 2018, S. 8; Waters, The Lion and The Eagle, 18. Juli 2019). Angehörige z. B. des sog. Fünften Corps werden besser ausgebildet und ausgerüstet. Derartige Gruppen bieten auch die Chance, heimatnah zu dienen (FIS, Syria: Fact-finding mission to Beirut and Damaskus, April 2018, Bericht vom 14. Dezember 2018, S. 9 und 32). Solche Regierungsmilizen sollen allerdings für Plünderungen und Menschenrechtsvergehen berüchtigt sein (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 13. November 2018, S. 11).

57 Rückkehroptionen - auch - für Wehrdienstentzieher aus dem Ausland eröffnet das syrische Regime mit dem besonderen Verfahren des Security settlement ("taswiyat Wada"), in dem die Rückkehrer die Möglichkeit erhalten, ihre Angelegenheiten mit den staatlichen Stellen "zu klären". Sobald die Probleme mit dem syrischen Staat gelöst sind und dieser "vergeben hat", wird der Name der betreffenden Person von der Liste der gesuchten Personen genommen; die betreffende Person wird dann auch nicht mehr gesucht (DIS, Syria - Security clearance and status settlement for returnees, 18. Dezember 2020, S. 7 ff.). Zuvor kann der Wehrdienstentzieher bereits im Ausland feststellen lassen, ob er sich auf der Liste der gesuchten Personen befindet (Security clearance). Er kann sich dann ein entsprechendes drei Monate gültiges "Security clearance document" ausstellen lassen (DIS, Syria - Security clearance and status settlement for returnees, 18. Dezember 2020, S. 4 ff.). Personen, die sich dem Wehrdienst entzogen haben, können sich nach ihrer Rückkehr auch selbstständig in den Rekrutierungszentren melden. Dieser Umstand hat zur Folge, dass sie nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht werden (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Syrien, 18. Dezember 2020, S. 44). Ausweislich einer Rundverfügung aus dem Jahr 2019 wird wehrpflichtigen Männern, die nach Syrien zurückkehren, eine Frist von 15 Tagen gewährt, um sich - vor Antritt des Wehrdienstes - dem Rekrutierungsbüro vorzustellen und die eigenen Angelegenheiten zu regeln (DIS, Syria - Military Service, Mai 2020, S. 12; Landinfo, Syria - Return from abroad, 10. Februar 2020, S. 7 f.). Diese Rundverfügung ist auch tatsächlich im Wesentlichen so umgesetzt worden (DIS, Syria - Military Service, Mai 2020, S. 65, Nr. 160). Vor der Einberufung kann es zwar auch zu Inhaftierungen kommen. Solche Inhaftierungen stellen jedoch keine Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung dar. Es handelt sich dabei vielmehr um wenige Tage andauernde Ingewahrsamnahmen (DIS, Syria - Military Service, Mai 2020, S. 31), mit denen verhindert werden soll, dass der Betreffende bis zur Überstellung an eine militärische Einheit (erneut) untertaucht. Auch das Auswärtige Amt berichtet in seinem jüngsten Lagebericht, dass männliche Rückkehrer im wehrpflichtigen Alter in der Regel zum Militärdienst eingezogen würden und nur bei Desertion Haftstrafen drohten, wobei aber auch diese zumindest stellenweise erlassen würden (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 4. Dezember 2020, S. 30). Nur vereinzelt sprechen Quellen von Inhaftierungen von Wehrdienstentziehern vor der Entsendung zu einer militärischen Einheit (vgl. DIS, Syria - Military Service, Mai 2020, S. 51 (Nr. 50) und S. 90 (Nr. 358)), wobei in diesen Fällen naheliegt, dass solche Inhaftierungen mit einer Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung nichts zu tun haben, sondern Ingewahrsamnahmen sind, um den Wehrdienstentzieher nach seinem Ergreifen bis zur Überstellung an eine militärische Einheit an einem erneuten Untertauchen zu hindern.

58 Die Quellen ergeben ferner, dass die Reaktion auf einfache Wehrdienstentziehung nunmehr regelmäßig darin besteht, solche Personen unverzüglich einzuziehen und militärisch einzusetzen (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Syrien, 18. Dezember 2020, S. 49 ff.; EASO, Country Guidance: Syria - Common analysis and guidance note, September 2020, S. 66; EASO, Syria - Targeting individuals, März 2020, S. 37; Landinfo, Syria: Reactions against deserters and draft evaders, 3. Januar 2018, S. 8). Aktuelle Quellen berichten insbesondere nicht mehr von systematischen Bestrafungen oder Verfolgungen von einfachen Militärdienstentziehern, sondern vor allem von unmittelbarer Heranziehung zum Einsatz auch mittels an den Checkpoints hinterlegter Listen, von Ingewahrsamnahmen zur Verhinderung des erneuten Untertauchens bzw. - vor allem - rascher Eingliederung in Armee oder Milizen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 4. Dezember 2020, S. 30; UNHCR, UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, März 2021, S. 132 f.; EASO, Syria - Targeting of individuals, März 2020, S. 38 f.) (so auch HessVGH, Urt. v. 13. September 2021 - 8 A 1992/18.A -, juris [S. 15 ff. Urteilsabdruck]; OVG LSA, Urt. v. 1. Juli 2021 - 3 L 154/18 -, juris Rn. 73 ff.; OVG M-V, Urt. v. 26. Mai 2021 - 4 L 238/13 -, juris Rn. 28 ff.; VGH BW, Urt. v. 4. Mai 2021 - A 4 S 468/21 -, juris Rn. 29 ff.; OVG NRW, Urt. v. 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A -, juris Rn. 48 ff.; a. A. OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 29. Januar 2021 - 3 B 109.18 -, juris, Rn. 93 ff.; offen gelassen von NdsOVG, Urt. v. 22. April 2021 - 2 LB 408/20 - juris Rn. 55). Der gegenteiligen Tatsachen- und Lagebeurteilung des OVG Berlin-Brandenburg tritt der Senat nicht bei. Für die vorgenannte Praxis des syrischen Regimes existiert eine große Anzahl von aktuellen Quellen. Demgegenüber sind jedenfalls breit angelegte bzw. systematische Verfolgungshandlungen oder Bestrafungen von Militärdienstentziehern seit längerer Zeit nicht mehr dokumentiert worden. Gäbe es heute in Syrien Verfolgungshandlungen von einfachen Militärdienstentziehern, müsste es aber hierüber - angesichts der nicht unerheblichen Zahl von Rückkehrern -, wie in der Vergangenheit, aktuelle Berichte geben, was nicht der Fall ist (VGH BW, Urt. v. 4. Mai 2021 - A 4 S 468/21 -, juris Rn. 29 ff.). Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die Strafandrohung nach wie vor bestehe und Amnestien sinnlos seien, wenn strafrechtliche Sanktionen faktisch ausgesetzt seien. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass für den syrischen Staat ein Bedürfnis besteht, die erforderliche Rekrutierung durch eine Strafandrohung für Wehrdienstentziehung grundsätzlich abzusichern. Davon zu trennen ist die Frage, wie er auf das Massenphänomen dieses Delikts tatsächlich reagiert, ob er insbesondere - wie es nach dem oben Gesagten festzustellen ist - dem Soldatenbedarf Vorrang vor einer Bestrafung gibt (OVG NRW, Urt. v. 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A -, juris Rn. 101).

59 Der Senat geht nach den vorliegenden Erkenntnismitteln ferner nicht davon aus, dass ein militärischer Einsatz der Wehrdienstentzieher an der Front als Bestrafung für unterstellte Illoyalität gedacht ist (sog. Politmalus) (so auch OVG NRW, Urt. v. 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A -, juris Rn. 83 ff.; VGH BW, Urt. v. 4. Mai 2021 - A 4 S 468/21 - , juris Rn. 29; OVG M-V, Urt. v. 26. Mai 2021 - 4 L 238/13 -, juris Rn. 37 ff.; a. A. wohl OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 29. Januar 2021 - OVG 3 B 109.18 -, juris Rn. 95 ff. unter Bezugnahme auf UNHCR, Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR’s Country Guidance on Syria, 7. Mai 2020, S. 9). Nach den vorliegenden Erkenntnissen trifft das Risiko einer Frontkommandierung jedermann in der syrischen Armee und hängt davon ab, ob die jeweilige Einheit im Fronteinsatz steht, wobei die Einheiten zwischen Fronteinsatz und Etappe rotieren. Die militärischen Einheiten werden aber nicht aus bestimmten Gruppen, etwa Wehrpflichtigen aus eroberten Gebieten, zusammengesetzt. Zudem sollen die meisten Frontopfer nach wie vor aus den als zuverlässig geltenden Gebieten Latakia, Tartus, Westhama, Westhoms und Damaskus stammen. [...]

60 Eine andere Behandlung kann bei Deserteuren und Überläufern zu erwarten sein. Diese haben abhängig von den Gründen für die von ihnen begangene Desertion eine Haftstrafe von einigen Jahren bis hin zur Todesstrafe zu befürchten (Landinfo, Syria - Reactions against deserters and draft evaders, 3. Januar 2018, S. 10). Während des Bürgerkriegs seien Deserteure hingerichtet worden, diese Praxis habe der syrische Staat aber - von Einzelfällen abgesehen - seit einigen Jahren aufgegeben. Es gebe Beispiele von desertierten Offizieren, die in ihre alten Positionen wiedereingerückt seien. Demgegenüber werde von Todesurteilen gegen Überläufer wegen Verrats berichtet (DIS, Syria - Military Service, Mai 2020, S. 31 ff). Es wird aber auch von Fällen berichtet, in denen Deserteure nur geringe Haftstrafen erhielten, weil man sie aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an Kräften an der Front für den Fronteinsatz gebraucht habe (DIS, Syria - Military Service, Mai 2020, S. 33; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Syrien, 18. Dezember 2020, S. 50; EASO, Syria - Military service, April 2021, S. 36). [...]

64 bb) Der Senat kann unter den Umständen der oben dargestellten aktuellen militärischen Situation in Syrien nicht die Feststellung treffen, dass zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt seiner mündlichen Verhandlung die hypothetische Ableistung des Militärdienstes durch den Kläger in der syrischen Armee diesen zwangsläufig oder zumindest sehr wahrscheinlich veranlassen würde, Verbrechen im Sinne von § 3 Abs. 2 AsylG zu begehen, bzw. dass die Gesamtsituation im vorliegenden Fall eine Begehung der behaupteten Verbrechen plausibel erscheinen lässt (so auch NdsOVG, Urt. v. 22. April 2021 - 2 LB 408/20 - juris Rn. 75 ff.; a. A. OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 29. Januar 2021 - 3 B 109.18 -, juris, Rn. 100 ff.; offen gelassen von OVG NRW, Urt. v. 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A -, juris Rn. 106; HessVGH, Urt. v. 13. September 2021 - 8 A 1992/18.A -, juris [S. 15 Urteilsabdruck]). [...]

66 Zwar würde ein Militärdienst des Klägers mit Blick auf den in Syrien weiterhin schwelenden Bürgerkrieg in einem "Konflikt" i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG stattfinden (vgl. NdsOVG, Urt. v. 22. April 2021 - 2 LB 408/20 - juris Rn. 76 m. w. N.).

67 Auch teilt der Senat die Bewertung, dass aus den Reihen der syrischen Armee im Verlaufe des seit dem Jahr 2011 andauernden Bürgerkrieges eine Vielzahl von Kriegshandlungen begangen wurden, die sich gezielt gegen Wohngebiete und die zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser und Schulen richteten und die als Kriegsverbrechen im o.g. Sinn einzustufen sind. [...]

68 Kriegshandlungen, die als Kriegsverbrechen erscheinen und auch die Schwelle von Verbrechen gegen die Menschlichkeit überschreiten können, wurden zuletzt namentlich für die Truppen des syrischen Regimes und für ihren russischen Verbündeten bei der Durchführung der Hauptmilitäroffensive in der Region Idlib ab April 2019 bis zum Waffenruheübereinkommen im März 2020 berichtet. [...]

69 Gegenüber der militärischen Lage im April 2017, welche der Gerichtshof der Europäischen Union in seiner Entscheidung vom 19. November 2020 (- C-238/19 -) in den Blick genommen hat, hat sich die Lage in Syrien zwischenzeitlich jedoch, wie unter Buchst. a ausgeführt, erheblich verändert. Mit der Stabilisierung des Regimes und der Rückeroberung erheblicher Landesteile durch die syrische Armee und ihre Verbündeten und mit der Vereinbarung einer im Wesentlichen eingehaltenen Waffenruhe mit der Türkei bezüglich der Region Idlib im März 2020 hat namentlich Anzahl und Intensität der militärischen Auseinandersetzungen und damit die Wahrscheinlichkeit der Begehung von Kriegsverbrechen ganz erheblich abgenommen (vgl. EASO, Syria - Military service, April 2021, S. 11). [...]

70 Mit dem erheblichen Rückgang der Anzahl und Intensität an Kampfhandlungen in Syrien ist nunmehr zugleich auch das Risiko der Wehrdienstleistenden erheblich gesunken, im Zuge solcher Kampfhandlungen in die Begehung von Kriegsverbrechen seitens der syrischen Armee involviert zu werden, auch wenn es zu solchen Kampfhandlungen, die Kriegsverbrechen beinhalten können, in einzelnen Fällen offenkundig weiterhin kommt (vgl. jüngst BILD, "Assad und Putin richten Blutbad an - Flüchtlinge und Krankenhäuser in Syrien im Visier", vom 8. September 2021). Dies gilt umso mehr, als ein Teil der bis März 2020 dokumentierten Kriegsverbrechen nicht von der syrischen Armee selbst, sondern von ausländischen Verbündeten des Regimes (insb. Russland) begangen wurde und insofern eine Beteiligung von syrischen Wehrdienstleistenden ohnehin unwahrscheinlich gewesen wäre. Aktuelle Berichte zum Einsatz verbotener chemischer Waffen liegen in Bezug auf ganz Syrien für das Jahr 2020 nicht mehr vor (vgl. USDOS, Syria - 2020 Human Rights Report, 30. März 2021, S. 23). Die Anzahl der dokumentierten zivilen Opfer, die von den Konfliktparteien in Syrien getötet wurden, ist ab April 2020 deutlich zurückgegangen (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Syrien, 18. Dezember 2020, S. 17). Angesichts der derzeit "eingefrorenen Fronten" und sehr begrenzten Anzahl von Kampfhandlungen unter Beteiligung der syrischen Armee schließt sich der Senat nach alledem der Bewertung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts an, dass es in der aktuellen militärischen Situation zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht (mehr) plausibel ist, dass auch für noch nicht eingezogene Wehrdienstleistende, die ihren künftigen militärischen Einsatzbereich nicht kennen, die hypothetische Ableistung des Militärdienstes in der syrischen Armee unabhängig vom Einsatzgebiet diese zwangsläufig oder zumindest sehr wahrscheinlich veranlassen würde, unmittelbar oder mittelbar Verbrechen im Sinne von § 3 Abs. 2 AsylG zu begehen (NdsOVG, Urt. v. 22. April 2021 - 2 LB 408/20 - juris Rn. 76 ff.).

71 Die gegenteilige Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg, die demgegenüber ausschlaggebend darauf abstellt, dass von der syrischen Armee überhaupt weiterhin Kriegsverbrechen unter Einsatz von Wehrpflichtigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit begangen werden, überzeugt hingegen nicht, weil sie vernachlässigt, dass letztlich nicht eine auf die gesamte syrische Armee, sondern auf den einzelnen Wehrpflichtigen bezogene Prognose der Umstände seines Militärdienstes zu treffen ist. Bei einer großen Anzahl von Soldaten einer Armee einerseits und einer nur noch kleinen Anzahl von Kampfhandlungen, die Verbrechen im Sinne von § 3 Abs. 2 AsylG umfassen, andererseits kann es ersichtlich nicht mehr als plausibel erachtet werden, dass - unabhängig vom Einsatzgebiet - ein Ableisten des Militärdienstes zwangsläufig oder zumindest sehr wahrscheinlich unmittelbar oder mittelbar die Beteiligung an solchen Verbrechen oder Handlungen umfassen würde. Das Risiko einer Involvierung in derartige Verbrechen oder Handlungen ist unter solchen Umständen zwar für Wehrpflichtige, die ihr Einsatzgebiet nicht kennen, nicht völlig ausgeräumt, sondern durchaus weiterhin gegeben; es erscheint aber in seinem Ausmaß objektiv gering, was die vorgenannten Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG nicht erfüllt. [...]