VG Trier

Merkliste
Zitieren als:
VG Trier, Beschluss vom 29.10.2021 - 7 L 3245/21.TR - asyl.net: M30134
https://www.asyl.net/rsdb/m30134
Leitsatz:

Keine drohende Verletzung von Art. 3 EMRK in Italien für besonders vulnerable Personen im Dublin-Verfahren:

1. Es ist nicht festzustellen, dass den Antragstellern gerade aufgrund ihrer besonderen Verletzlichkeit und unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen eine Situation extremer materieller Not droht.

2. Weder hinsichtlich des Asylverfahrens noch in Bezug auf die Aufnahmebedingungen droht nach Rückkehr im Dublin-Verfahren eine Verletzung von Art. 3 EMRK. Das Risiko von Obdachlosigkeit nach Rückkehr kann ausgeschlossen werden. 

3. Auch im Falle der Zuerkennung internationalen Schutzes droht den Antragstellern keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Italien, besonders schutzbedürftig, Aufnahmebedingungen, systemische Mängel,
Normen: EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 17 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

a. Zwar gehören die Antragsteller, die bei lebensnaher Betrachtung gemeinsam nach Italien überstellt werden (vgl. entsprechend zu Abschiebungsverboten: BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, juris), zu den in Art. 20 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 - Qualifikationsrichtlinie - und Art. 21 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 - Aufnahmerichtlinie - aufgeführten schutzbedürftigen Personengruppen, deren spezielle Situation von den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen ist. Allerdings vermag die Kammer nicht festzustellen, dass ihnen in Italien gerade aufgrund ihrer besonderen Verletzbarkeit und unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen eine Situation extremer materieller Not drohen würde, die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzen würde. Dies gilt sowohl mit Blick auf das Asylverfahren als solches (dazu aa.) als auch hinsichtlich der Aufnahmebedingungen (dazu bb.). [...]

Die vorstehend dargestellte Ausgestaltung des Asylverfahrens in Italien rechtfertigt nach alledem nicht die Annahme systemischer Schwachstellen i.S.v. Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-Verordnung. Dublin-Rückkehrende haben Zugang zum Asylverfahren und können ihre Rechte effektiv - notfalls gerichtlich - wahrnehmen.

bb. Auch mit Blick auf die Aufnahmebedingungen droht den Antragstellern keine Situation extremer materieller Not. Ab der Erstregistrierung ("fotosegnalemento") haben Dublin-Rückkehrende nach dem Gesetz wie alle anderen Asylbegehrende in Italien Zugang zu Unterbringung und Versorgung. Diese gesetzliche Vorgabe wird in der Praxis in der Regel auch umgesetzt. Sofern der Zugang zu Unterbringung und Versorgung teilweise erst ab der förmlichen Asylantragstellung ("verbalizzazione") gewährt wird (vgl. zu dieser Problematik: AIDA, a.a.O., S. 104 f.), ist zu sehen, dass sich die Wartezeit zwischen Erstregistrierung und förmlicher Antragstellung erheblich auf ein bis drei Wochen verkürzt hat (vgl. Auskunft der Sachverständigen Romer von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe in den mündlichen Verhandlungen des Verwaltungsgerichts Minden vom 13. November 2019, Protokoll zu den Verfahren 10 K 7608/17.A, 10 K 1683/18.A und 10 K 2221/18.A - SFH 11/2019 -, S. 12). [...]

Des Weiteren geht die Kammer davon aus, dass Dublin-Rückkehrende nach ihrer Rückführung nach Italien im Rahmen des Dublin-Verfahrens auch unmittelbar eine angemessene Unterkunft erhalten, ohne dass ihnen zwischenzeitlich Obdachlosigkeit und extreme materielle Not drohen würde. Wurde in Italien – wie hier - noch kein Asylantrag gestellt, hat die Aufnahme in einem der Zentren der Region, in der sich der internationale Ankunftsflughafen befindet, nach den Kriterien der Verteilung zu erfolgen, die zuvor von den regionalen Koordinierungsgremien der Präfekturen vereinbart worden sind (vgl. zu Vorstehendem: Bericht des Austauschbeamten des BMI, a.a.O., S. 6). Bereits bei Ankündigung der Überstellung wird die zuständige Präfektur, welche sich umgehend um Unterkunftsplätze in geeigneten Unterbringungseinrichtungen oder am Flughafen kümmert, über den betreffenden Asylbegehrenden informiert (vgl. den Bericht des Austauschbeamten des BMI, a.a.O., S. 5 f., 18 f., S. 48 f.). Im Rahmen eines zentralisierten Verfahrens wird zudem die Grenzpolizei einen Tag vor der Überstellung in Kenntnis gesetzt, so dass diese den Asylbegehrenden empfangen und die Präfektur eine adäquate Unterkunft finden kann (vgl. den Bericht des Austauschbeamten des BMI, a.a.O., S. 25 f., 33 f., 48 f.). [...]

Darüber hinaus belegen die Darstellungen in den Erkenntnismitteln, dass Italien auf die in der Vergangenheit erhobene Kritik reagiert hat und bestrebt ist, die zuvor bestehenden Defizite konsequent auszugleichen, durch die Neustrukturierung der Aufnahmeeinrichtungen eine adäquate Unterbringung zu gewährleisten und hierbei sämtliche unions- und europarechtlichen Bestimmungen einzuhalten. Insgesamt ist Italien gewillt, dort, wo erforderlich, den Rahmen für die Aufnahme von Asylbewerbern zu verbessern (vgl. Bericht des Austauschbeamten des BMI, a.a.O., S. 52). Dies zeigt sich ganz konkret dadurch, dass die neue italienische Regierung bzw. das italienische Parlament durch den Erlass des Gesetzesdekrets 130/2020 einen erheblichen Teil der politisch umstrittenen Regelungen des vormaligen Gesetzesdekrets 132/2018 (vgl. zur diesbezüglichen Kritik: EGMR, Urteil vom 23. März 2021, a.a.O., §§ 29 ff.) zurückgenommen hat (zum Ganzen: Europäische Kommission, Europäische Internetseite über Integration (EWSI), "ltaly: A new system of reception an integration", Bericht vom 25. Januar 2021, abrufbar unter ec.europa.eu/migrant-integration/news/italy-a-new-system-of-reception-and-integration; s. auch: Süddeutsche Zeitung, "Zurück zur Menschlichkeit", abrufbar unter: www.sueddeutsche.de/politik/italien-fluechtlinge-strafen-1.4968219). Der UNHCR hat die Reform des italienischen Aufnahmesystems ausdrücklich begrüßt und geht davon aus, dass das italienische Asylsystem hierdurch insgesamt positiv beeinflusst werden wird (vgl. hierzu auch: EGMR, Urteil vom 23. März 2021, a.a.O., § 37).

Unter Zugrundelegung des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens, dem im europäischen Asylsystem - wie bereits ausgeführt - fundamentale Bedeutung zukommt, und mangels entgegenstehender stichhaltiger Erkenntnisse geht die Kammer nach alledem davon aus, dass das Risiko von Obdachlosigkeit im Fall der Rückkehr nach Italien unter realitätsnaher Betrachtung ausgeschlossen werden kann, so dass auch die Einholung einer konkret-individuellen Zusicherung Italiens nicht erforderlich ist (so ausdrücklich: EGMR, Urteil vom 23. März 2021, a.a.O., §§ 54 ff.; anders noch: EGMR, Urteil vom 4. November 2014, a.a.O.; BVerfG, Beschlüsse vom 17. September 2014 - 2 BvR 732/14 - und vom 10. Oktober 2019, a.a.O., beide juris; wie hier: VG Bayreuth, Urteil vom 8. März 2021, a.a.O., Rn. 33). [...]

b. Auch im Fall einer zu unterstellenden Zuerkennung internationalen Schutzes in Italien nach Durchführung des Asylverfahrens droht den Antragstellern keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 GR-Charta (vgl. OVG RP, Urteil vom 15. Dezember 2020 - 7 A 11038/18.OVG -, Rn. 35 ff., juris). Die Kammer ist nämlich davon überzeugt, dass in Italien anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte grundsätzlich menschenrechtskonform behandelt werden und in der Lage sind, ihre Grundbedürfnisse zu decken.

Während Italien in der Vergangenheit für die Unterbringung von anerkannten Schutzberechtigten ein System sekundärer Aufnahmeeinrichtungen (zunächst SPRAR, später SIPROIMI) vorhielt, wurde dieses System nunmehr durch das sog. SAI ersetzt. Dieses steht auch solchen Personen offen, die nach Aufenthalt in einem anderen Mitgliedsstaat nach Italien rücküberstellt werden (vgl. Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, borderline-europe und Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Berlin vom 16. Dezember 2019 zu den Rückkehrbedingungen für anerkannt Schutzberechtigte in Italien, S. 2). Dabei werden anerkannten Schutzberechtigten Leistungen zuteil, die ihre Perspektiven zur Begründung und Wahrung einer Existenz im Rahmen der Verfestigung ihres Aufenthalts in Italien verbessern. Zusätzlich zu den Leistungen. die Schutzsuchenden gewährt werden (hierzu bereits oben), werden ihnen auch Maßnahmen mit dem Ziel einer umfassenden Integration geboten, wie Integrationskurse, Berufsorientierung und -qualifikation sowie Unterstützung bei der Suche nach einem Arbeitsplatz (vgl. AIDA, a.a.O., S. 100, 182; vgl. auch Länderinformationsblatt, S. 14). Außerdem sind die speziellen Unterbringungsbedürfnisse von besonders schutzbedürftigen Personen auch in den Zweitaufnahmeeinrichtungen sicherzustellen. Dass die Kapazitäten in den Zweitaufnahmeeinrichtungen erschöpft wären und aus diesem Grunde ein Zugang nicht möglich wäre, ist nicht ersichtlich. Vielmehr standen im Jahr 2020 31.324 Plätze in den SAI-Einrichtungen für 27.372 Zugangsberechtigte zur Verfügung (vgl. Bundesrepublik Deutschland/Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Situation des Aufnahmesystems seit der Reform des Salvini-Dekrets, Bericht vom 15. Juli 2021, a.a.O., S. 6). Die Unterbringungszeit beträgt grundsätzlich sechs Monate, kann jedoch für weitere sechs Monate verlängert werden, um beispielsweise den Integrationsprozess abzuschließen, aber auch um außergewöhnlichen Umständen wie Gesundheitsproblemen oder der besonderen Schutzbedürftigkeit von Personen Rechnung zu tragen. Eine zweite und grundsätzlich letzte Verlängerung der Unterbringungszeit um maximal weitere sechs Monate ist in besonderen Ausnahmefällen zusätzlich möglich (vgl. SFH :j 01/2020, S. 51; AIDA, a.a.O., S. 182).

Darüber hinaus haben anerkannte Schutzberechtigte rechtlich Zugang zu Sozialwohnungen und zu Sozialleistungen im selben Ausmaß wie italienische Staatsbürger (vgl. Länderinformationsblatt, S. 24, SFH 01/2020, S. 57). [...]

Darüber hinaus ist die Kammer der Überzeugung, dass es anerkannten Schutzberechtigten trotz der im Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH 01/2020) dargestellten Schwierigkeiten tatsächlich möglich ist, eine Arbeit zu finden. Von Schutzberechtigten kann insofern verlangt werden, dass sie sich in ganz Italien um eine Arbeitsstelle, ggf. im Niedriglohnsektor, bemühen. Denn der italienische Arbeitsmarkt erweist sich auf regionaler Ebene als sehr heterogen, mit stark industrialisierten Regionen im Norden und solchen im Süden, in denen Tätigkeiten in der Landwirtschaft und im Tourismus überwiegen. Von Schutzberechtigten kann erwartet werden, in die Regionen zu ziehen, in denen sie auch ohne vorherige Ausbildung Beschäftigungen in der Landwirtschaft und im Tourismus finden, zumal in den kommenden Jahren der Arbeitskräftebedarf stark ansteigen dürfte (vgl. hierzu OVG RP, Urteil vom 15. Dezember 2020, a.a.O., Rn. 45 f. m.w.N.). [...]

c. Dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen in Italien infolge der Corona-Pandemie eine eklatante Verschlechterung erfahren hätten, die zur Folge hätte, dass Asylbewerber und international Schutzberechtigte bei einer Rückkehr nach Italien einer Situation extremer materieller Not i.S.v. Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt wären, ist zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ebenfalls nicht ersichtlich (vgl. auch OVG RP, Urteil vom 15. Dezember 2020 a.a.O., Rn. 53 ff.). [...]