VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Urteil vom 27.09.2021 - 6 K 8753/17.A - asyl.net: M30139
https://www.asyl.net/rsdb/m30139
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für politisch engagierten afghanischen Journalisten:

1. Personen, die sich journalistisch mit dem Ziel einer kritischen Berichterstattung betätigt haben, die sich für Menschenrechte eingesetzt oder die mit der afghanischen Regierung und ausländischen Organisationen zusammengearbeitet haben, sind von Verfolgung durch die Taliban bedroht.

2. Den Angaben der Taliban, man werde von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber diesen Personengruppen absehen, kann vor dem Hintergrund gegenteiliger medial dokumentierter Übergriffe nicht geglaubt werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Taliban, Berufsgruppe, Existenzgrundlage, Journalist, Menschenrechte, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Nach diesen Maßstäben hat das erkennende Gericht auf der Grundlage des eigenen Vorbringens des Klägers vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung die erforderliche Überzeugung gewonnen, dass dem Kläger im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan eine politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unmittelbar drohte.

Der Kläger hat anschaulich, detailliert und damit auch glaubhaft geschildert, dass die Taliban bereits vor seiner Ausreise an ihn herangetreten und ihn jedenfalls unter Androhung ernstzunehmender Konsequenzen nachdrücklich aufgefordert haben, seine als feindliche Gesinnung eingestufte Tätigkeit im Auftrag der Regierung einzustellen. [...]

Aufgrund dieser besonderen Umstände des Einzelfalles erfüllt der Kläger zur Überzeugung des Gerichts Merkmale einer derzeit in Afghanistan besonders gefährdete Personengruppe. Nach aktuell verfügbaren Erkenntnissen verdichten sich Berichte dahingehend, dass solche Personen, die - wie der Kläger - mit der afghanischen Regierung und ausländischen Organisationen zusammengearbeitet, sich für Menschenrechte eingesetzt oder journalistisch mit dem Ziel einer kritischen Berichterstattung über die politischen Verhältnisse in Afghanistan betätigt haben, nicht unerheblichen Repressalien durch Angehörige der Taliban ausgesetzt sind. Derartige Maßnahmen reichen Medienberichten zufolge von Einschüchterung, (schwerwiegender) körperlicher Misshandlung und Entführung bis hin zu gezielten Tötungen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, Stand: 16. September 2021, S. 18 f.; Deutschlandfunk, Mindestens 32 Journalisten von Taliban vorübergehend festgenommen, abrufbar unter: www.deutschlandfunk.de/afghanistan-mindestens-32-journalisten-von-taliban.2849.de.html?drn:news_id=1307174 (zuletzt abgerufen am 6. Oktober 2021); Zweites Deutsches Fernsehen {ZDF), Afghanische Journalisten - Berichte über Misshandlungen durch Taliban, 10. September 2021, abrufbar unter: www.zdf.de/nachrichten/politik/afghanistan-taliban-folter-journalisten-100.html (zuletzt abgerufen am 6. Oktober 2021)).

Die entgegensetzte Verlautbarung der Taliban, man werde von Vergeltungsmaßnahmen an Anhängern der früheren Regierung oder an Verfechtern verfassungsmäßig garantierter Rechte wie der Gleichberechtigung von Frauen, der Redefreiheit und der Achtung sonstiger Menschenrechte absehen, kann im Lichte medial dokumentierter Übergriffe durch Taliban-Kämpfer derzeit nicht ohne weiteres als der Wahrheit entsprechend eingestuft werden (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, Stand: 16. September 2021, S. 18 f.; van Biljert, The Taleban leadership converges on Kabul as remnants of the republic reposition themselves, 19. August 2021; ZDF, Afghanische Journalisten - Berichte über Misshandlungen durch Taliban, 10. September 2021, abrufbar unter: www.zdf.de/nachrichten/politik/afghanistan-taliban-folter-journalisten-100.html (zuletzt abgerufen am 6. Oktober 2021)).

Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Erkenntnislage und in Anbetracht des Umstands, dass die Taliban an den Kläger bereits schon einmal vor dessen Ausreise drohend herangetreten sind, spricht Überwiegendes dafür, dass der Kläger, der über ein für afghanische Verhältnisse ganz erhebliches Bildungsniveau verfügt, im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland mit Blick auf seine besondere Stellung erneut in das Visier der Taliban zu geraten drohte und aufgrund einer - ihm jedenfalls zugeschriebenen (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG) - feindlichen Gesinnung ernstlich mit der Anwendung physischer oder psychischer Gewalt zu rechnen hätte. Dabei ist insbesondere auch zu berücksichtigen, dass der Kläger sich, was sich auch mit dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck des Gerichts deckt, in hervorgehobener Weise mit einer an westlicher Staatenbildung orientierten, freiheitlich verfassten Grundordnung identifiziert, die in sehr weiten Teilen mit der Werteordnung der Taliban nicht in Einklang zu bringen ist. Seine politische Überzeugung hat der Kläger zudem schon in seinem Heimatland nicht nur im Rahmen durchlaufener Fortbildungsmaßnahmen nach außen hin erkennbar verfestigt, sondern ist für die Forderung nach einer modernen, westlich geprägten - und damit nicht zuletzt auch im Interesse der Jugend wirtschaftlich prosperierenden - Gesellschaftsordnung in der Öffentlichkeit auf dem Gebiet seiner Heimatprovinz nachhaltig eingetreten. [...]