LG Lüneburg

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Zitieren als:
LG Lüneburg, Beschluss vom 11.10.2021 - 6 T 82/21 - asyl.net: M30146
https://www.asyl.net/rsdb/m30146
Leitsatz:

Fehlerhafter Haftantrag bei fehlenden Angaben zum Einvernehmen der Staatsanwaltschaft:

Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft zur Abschiebung nach § 72 Abs. 4 S. 1 AufenthG muss nicht schon bei Anordnung der Haft, sondern erst bei ihrer praktischen Durchführung vorliegen. Wenn ein strafrechtliches Verfahren gegen Betroffene anhängig ist und sich dies aus den Antragsunterlagen ohne weiteres ergibt, müssen im Haftantrag Angaben zum erwarteten Einvernehmen der Staatsanwaltschaft gemacht werden. Die Notwendigkeit des Einvernehmens entfällt nicht, wenn ein Ermittlungsverfahren wegen der Abwesenheit der betroffenen Person nach § 154f. StPO eingestellt wurde.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Strafverfahren, Abschiebungshaft, Einvernehmen der Staatsanwaltschaft zur Abschiebung, Untertauchen, Einstellung,
Normen: FamFG § 417 Abs. 1, AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1, AufenthG § 74 Abs. 4 S. 3, AufenthG § 72 Abs. 4 S. 5, StPO § 154, StPO § 154f,
Auszüge:

[...]

b) Die formellen Voraussetzungen liegen nicht vor, da die zuständige Behörde keinen zulässigen Antrag auf Anordnung der Sicherungshaft gem. § 417 Abs. 1 FamFG beim zuständigen Gericht gestellt hat, der auch den Begründungsanforderungen des § 417 Abs. 2 Satz 1 und 2 FamFG im Wesentlichen genügt.

Ob ein zulässiger Haftantrag vorliegt, ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (vgl. BGH, Beschluss vom 29.04.2010 - V ZB 218/09, zitiert nach juris; BGH, Beschluss vom 09.12.2010 - V ZB 136/10, zitiert nach juris). Zu den unerlässlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen gehört es nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG, dass die Antragsbegründung insbesondere Angaben zu den Voraussetzungen und zur Durchführbarkeit der Abschiebung enthält (BGH, Beschluss vom 20.01.2011 - V ZB 226/10, zitiert nach juris).

Davon erfasst sind auch Angaben zum Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaft nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG (vgl. BGH, Beschluss vom 12.02.2020 - XIII ZB 15/19, zitiert nach juris). In dem Haftantrag muss nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG dargelegt werden, dass die zuständigen Staatsanwaltschaften allgemein oder im Einzelfall ihr Einvernehmen mit der Abschiebung nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erklärt haben, wenn sich aus dem Antrag selbst oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne weiteres ergibt, dass ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Betroffenen anhängig ist. Das Fehlen des erforderlichen Einvernehmens der Staatsanwaltschaft stellt ein Vollstreckungshindernis dar (vgl. BGH, Beschluss vom 12.02.2020 - XIII ZB 15/19, BGHZ 224, 344). Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft muss deshalb nicht schon bei Anordnung der Haft zur Sicherung von Abschiebung oder Überstellung vorliegen, sondern erst bei ihrer praktischen Durchführung. Ergibt sich aus dem Haftantrag oder den ihm beigefügten Unterlagen ein laufendes und nicht offensichtlich zustimmungsfreies Ermittlungsverfahren, ist der Haftantrag im Hinblick auf § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG nur zulässig, wenn die Behörde dieses mögliche Abschiebungshindernis ausräumt. Dafür genügt es in der Regel, wenn die Behörde darlegt, das Einvernehmen liege vor, sei entbehrlich oder werde bis zum vorgesehenen Abschiebungstermin voraussichtlich vorliegen oder entbehrlich geworden sein (vgl. BGH, Beschluss vom 20. 01.2011 - V ZB 226/10, zitiert nach juris). Fehlen diese Angaben, ist der Antrag mangels ausreichender Begründung unzulässig (vgl. BGH, Beschluss vom 22.07.2010 - V ZB 28/10, zitiert nach juris). Werden Ermittlungsverfahren durch mehrere Staatsanwaltschaften geführt, müssen sich die Angaben auf alle ein Verfahren führende Staatsanwaltschaften nach§ 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erstrecken (vgl. BGH, Beschluss vom 20.01.2011 - V ZB 226/10, zitiert nach juris).

Diesen Anforderungen wurde der gestellte Antrag nicht gerecht. In dem Haftantrag der beteiligten Behörde vom 27.03.2021 fehlen Ausführungen zu dem Einvernehmen der Staatsanwaltschaft Hamburg, obwohl sich aus dem Antrag und den ihm beigefügten Unterlagen ohne weiteres ergab, dass ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren geführt wird. Die Strafanzeige der Polizei Hamburg datiert auf den 08.12.2020 und erstreckt sich auf den Tatvorwurf nach §§ 113, 114, 223, 224 StGB. Ausführungen zum Einvernehmen der Staatsanwaltschaft sind grundsätzlich für alle strafrechtlichen Ermittlungs- und gerichtlichen Strafverfahren notwendig. Eine Ausnahme gemäß § 72 Abs. 4 Satz 3 AufenthG liegt schon deshalb nicht vor, da bei tätlichen Angriffen auf Vollstreckungsbeamte ein hohes Strafverfolgungsinteresse besteht und diese Straftaten nicht von der Aufzählung in § 72 Abs. 4 Satz 5 AufenthG erfasst sind. Zum Zeitpunkt der Haftantragstellung lag die Weiterleitung der Strafanzeige der Polizei Hamburg schon deutlich mehr als drei Monate zurück, so dass im Hinblick auf übliche Abläufe davon auszugehen war, dass bereits ein Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft Hamburg geführt wird. Wie die weitere Kommunikation der antragstellenden Behörde zeigt, war ein AZ. der Staatsanwaltschaft Hamburg auch bekannt (vgl. E-Mail vom 31.03.2021, Bl. 343 d. A.). Im Übrigen ergibt sich aus der Ausländerakte, die dem Amtsgericht zum Zeitpunkt der Entscheidung am 27.03.2021 im Original vorlag, dass es nicht möglich war, mit der Staatsanwaltschaft Hamburg telefonisch in Kontakt zu treten und eine e-postalische Anfrage bislang nicht beantwortet wurde, so dass der Verfahrensstand unbekannt war. Die antragstellende Behörde kann sich nicht darauf berufen, dass das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft Hamburg entbehrlich war. Die Notwendigkeit des Vorliegens des staatsanwaltschaftlichen Einvernehmens entfällt ausnahmsweise für eingestellte Strafverfahren, wenn eine Einstellung nach § 154 StPO erfolgt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 06.10.2020 - XIII ZB 31/20, zitiert nach juris). Diese Ausnahme greift bei Einstellungen nach § 154f StPO nicht ein (vgl. BGH, Beschluss vom 13.9.2018 - V ZB 231/17, zitiert nach juris). Aus der zum Zeitpunkt der Anhörung des Betroffenen vorliegenden Ausländerakte ergibt sich, dass der Verfahrensstand unbekannt war (Bl. 343 d. A.). Schon aus diesem Grund waren weitere Rücksprachen mit der Staatsanwaltschaft Hamburg erforderlich. Der Behörde war mit E-Mail vom 01.04.2021 durch die Staatsanwaltschaft Hamburg mitgeteilt, dass das Verfahren gegen den Betroffenen vorläufig nach § 154f StPO eingestellt worden war.

In diesem Fall hätte die Antragstellerin schon wegen des unbekannten Verfahrensstandes bereits zum Haftantrag Angaben zum erwarteten Einvernehmen der Staatsanwaltschaft Hamburg darlegen müssen. Es hätte dargestellt werden müssen, das Einvernehmen sei entbehrlich oder werde bis zum vorgesehenen Abschiebungstermin voraussichtlich vorliegen oder entbehrlich geworden sein. Denn ohne diese Darlegung war dem Haftgericht die Prüfung, ob aus dem noch fehlenden Einvernehmen ein Abschiebungshindernis entstehen kann (vgl. zum Prüfungsumfang BGH Z. 224, 344, a.a.O., Rn. 19), nicht möglich. Weiter hätte in dem Haftantrag dargestellt werden müssen, dass das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft Magdeburg/Zweigstelle Halberstadt zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht erforderlich war, da zu diesem Zeitpunkt ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen der am 26.03.2021 begangenen Tat noch nicht vorgelegen haben kann. [...]