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Zitieren als:
BSG, Urteil vom 24.06.2021 - B 7 AY 5/20 R (Asylmagazin 1-2/2022, S. 59 f.) - asyl.net: M30148
https://www.asyl.net/rsdb/m30148
Leitsatz:

Keine Übernahme von Fahrt- und Übernachtungskosten für die Anhörung beim Bundesamt bei Bezug von Analogleistungen:

1. Fahrt- und Übernachtungskosten für die Wahrnehmung der persönlichen Anhörung beim Bundesamt sind nicht durch das Sozialamt zu erstatten. Eine besondere atypische Situation im Sinne des § 73 SGB XII ist nicht gegeben, da Kosten zur Wahrnehmung eines Termins bei einer Behörde bereits bei der Bemessung des Regelbedarfs berücksichtigt werden. Auch eine analoge Anwendung der Regelung kommt nicht in Betracht.

2. Zwar stellt die Anhörung nach § 25 AsylG ein Kernstück des Asylverfahrens dar. Die Wahrnehmung des Termins darf nicht an fehlenden vorhandenen Mittel scheitern. Dies ist jedoch durch die darlehensweise Leistungsgewährung nach § 37 Abs. 1 SGB XII gewährleistet.

3. Analogleistungsberechtigte können keine Ansprüche aus § 6 Abs. 1 AsylbLG ableiten, da für sie die Vorschriften des SGB XII gelten.

4. Auch ein Anspruch aus § 9 Abs. 3 S. 1 AsylbLG i.V.m. § 65a Abs. 1 SGB I kommt nicht in Betracht, da er auf das Sozialverwaltungsverfahren zugeschnitten ist.

(Leitsätze der Redaktion; unter Aufhebung der Entscheidung des LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 22.10.2020 - L 8 AY 21/17 - asyl.net: M29223)

Schlagwörter: Sozialrecht, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Asylverfahren, Anhörung, Fahrtkosten, Übernachtungskosten, atypische Bedarfslage, Sonderbedarf, Asylbewerberleistungsgesetz, Analogleistungen,
Normen: AsylbLG § 6 Abs. 1, AsylbLG § 2, SGB XII § 73 S. 1, AsylG § 25, SGB XII § 37, AsylbLG § 6 Abs. 1, SGB I § 65a Abs. 1, AsylbLG § 9 Abs. 3 S. 1,
Auszüge:

[...]

14 Leistungen nach § 73 SGB XII, die zu den "Hilfen in anderen Lebenslagen" nach dem Neunten Kapitel des SGB XII gehören, erfordern eine besondere, atypische Situation, die vorliegend mit der Wahrnehmung eines Termins bei einer Behörde und den dabei entstandenen Kosten nicht verbunden ist. Die am 5.7.2016 anlässlich der Wahrnehmung des Anhörungstermins in Ingolstadt entstandenen Fahrt- und Übernachtungskosten stellen keinen atypischen Bedarf iS des § 73 SGB XII dar (vgl. zu Mobilitätsbedarfen beim Umgangsrecht als "Mehrbedarf zum Regelbedarf" etwa BSG vom 11.2.2015 - B 4 AS 27/14 R - BSGE 118, 82 = SozR 4-4200 § 21 Nr. 21, RdNr. 17 f; BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 48/17 R - BSGE 127, 78 = SozR 4-4200 § 21 Nr. 30, RdNr. 20 f). Sowohl "sonstige Verwaltungsgebühren" als auch Mobilitätsbedarfe bzw Verkehrsdienstleistungen und auch Gaststätten- und Beherbergungsdienstleitungen sind als typischerweise anfallende Bedarfe bei der Bemessung des Regelbedarfs (§ 27a Abs. 2 Satz 1 iVm § 28 SGB XII, in der Fassung vom 24.3.2011, BGBl I 453) beachtet und entweder als regelbedarfsrelevant anerkannt oder in der Weise berücksichtigt worden, dass sie nicht zu einer Erhöhung der Leistungen geführt haben. Es sind dies keine "unbenannten" Bedarfe; für § 73 Satz 1 SGB XII ist damit kein Raum. [...]

16 Mangels Regelungslücke scheidet eine "analoge" Anwendung von § 73 Satz 1 SGB XII bei einmaligen oder laufenden Bedarfslagen, die vom Dritten oder Vierten Kapitel des SGB XII erfasst sind, aus. Die vom LSG zur Begründung seiner Entscheidung in Bezug genommene frühere Rechtsprechung des BSG zu Fahrtkosten in Ausübung des Umgangsrechts (vgl. BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 14/06 R - BSGE 97, 242 = SozR 4-4200 § 20 Nr. 1, RdNr. 21 ff), die insoweit für Leistungsberechtigte nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) noch auf § 73 SGB XII rekurriert hatte, ist in der Folge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 9.2.2010 (1 BvL 1/09 u. a. - BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr. 12) und der Einführung von Mehrbedarfen für einen atypischen laufenden Mehrbedarf (vgl. § 21 Abs. 6 SGB II) nicht fortgeführt worden (vgl. zuletzt BSG vom 29.5.2019 - B 8 SO 8/17 R - SozR 4-4200 § 24 Nr. 8 RdNr. 15). Für Bedarfe, die der Sache nach vom Regelbedarf umfasst sind, kommt auch für Leistungsberechtigte nach § 2 Abs. 1 AsylbLG neben den Fällen der abweichenden Bemessung nach § 27a Abs. 4 SGB XII (dazu später) nur die darlehensweise Gewährung von Leistungen in Betracht (§ 37 Abs. 1 SGB XII).

17 Soweit das LSG darauf hinweist, dass die formale Anhörung des Ausländers nach § 25 AsylG ein Kernstück des Asylverfahrens ist und auf unionsrechtlichen Verfahrensgarantien beruht, ist das zwar zutreffend, führt aber nicht zu einer anderen Beurteilung der Bedarfslage. Es muss allerdings sichergestellt sein, dass die Wahrnehmung dieses Termins nicht an nicht vorhandenen Mitteln scheitert. Dies wird jedoch mit einer darlehensweisen Leistungsgewährung auf Grundlage nach § 37 Abs. 1 SGB XII erreicht. Danach sollen auf Antrag notwendige Leistungen als Darlehen erbracht werden, wenn im Einzelfall ein von den Regelbedarfen umfasster und nach den Umständen unabweisbar gebotener Bedarf auf keine andere Weise gedeckt werden kann. Um einen solchen Bedarf handelt es sich der Sache nach, ohne dass eine abschließende Entscheidung zu den hier vorliegenden Umständen des Einzelfalls erforderlich wäre. Die Kläger haben eine darlehensweise Gewährung (zumindest im Revisionsverfahren) ausdrücklich nicht beantragt.

18 Dass der Gesetzgeber in § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt 4 AsylbLG, der aber auf die Kläger keine Anwendung findet (dazu sogleich), typisierend für diejenigen Personen, die sich im Asylverfahren befinden und die Wartefrist des § 2 Abs. 1 AsylbLG noch nicht erfüllt haben, einen Anspruch auf bestimmte sonstige Leistungen vorsieht, die zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht erforderlich sind, führt nicht zur normativ begründeten Annahme eines in gleicher Weise bestehenden atypischen Bedarfs für Analogleistungsberechtigte, die die Wartefrist erfüllt haben und leistungsberechtigt nach § 2 Abs. 1 AsylbLG iVm § 73 SGB XII sind. Eine solche normative Erstreckung eines anerkannten atypischen Bedarfs für Personen, die sich erst kurze Zeit im Bundesgebiet aufhalten, auf Personen mit verfestigtem Aufenthalt ist weder geboten noch sachgerecht. Die reduzierten Grundleistungen nach § 3 AsylbLG sind bei Leistungsberechtigten nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG (nur) für die Dauer des Asylverfahrens gedacht; die Öffnungsklausel des § 6 AsylbLG hat Auffangfunktion. Hingegen sind Analogleistungsberechtigte nach Erfüllung der Wartefrist nach § 2 Abs. 1 AsylbLG zwar weiterhin dem AsylbLG zugeordnet, erhalten aber höhere Leistungen und profitieren auch und gerade von der Regelbedarfsermittlung nach dem SGB XII und damit auch von der Anerkennung von bei verfestigtem Aufenthalt typischerweise bestehenden Bedarfen. Soweit das LSG darauf hinweist, dass die Anerkennung eines existentiellen Bedarfs im Bereich der Grundleistungen im Grundsatz auch für dessen rechtliche Relevanz im Rahmen der Analogleistungen sprechen kann, ist dem in dieser Allgemeinheit zwar nicht zu widersprechen. Was sich bei einem beginnenden oder kurzfristigen Aufenthalt während der Dauer eines Asylverfahrens noch als atypische Bedarfslage zusätzlich zu den (reduzierten) Grundleistungen erweist, stellt sich aber (wie oben ausgeführt) wegen der Kosten für Mitwirkungspflichten bei einem längeren verfestigten Aufenthalt unter dem Regime des § 2 Abs. 1 AsylbLG mit der einhergehenden Berücksichtigung solcher Kosten bei der Regelbedarfsermittlung nach dem SGB XII als benannte und damit nicht mehr atypische Bedarfslage dar.

19 Da die Kläger Analogleistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG beanspruchen können, scheidet die (unmittelbare oder entsprechende) Anwendung des § 6 Abs. 1 AsylbLG als Anspruchsgrundlage aus. Nach dem Wortlaut der Norm und der Bedeutung der Grundleistungen nach §§ 3 ff AsylbLG als eigenständiges Sicherungssystem zur Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums in der ersten Zeit des Aufenthalts während des Asylverfahrens können Analogleistungsberechtigte nach § 2 AsylbLG aus § 6 AsylbLG keine Rechte herleiten, weil die Vorschriften des SGB XII an die Stelle der Vorschriften über die existenzsichernden Leistungen des AsylbLG treten.

20 Auch ein Anspruch nach § 27a Abs. 4 Satz 1 Alt 2 SGB XII aF unter Abänderung des Bescheids vom 1.8.2016, der Analogleistungen für Juli 2016 bewilligt hat, kommt nicht in Betracht. Danach wird im Einzelfall der individuelle Bedarf abweichend vom Regelsatz festgelegt, wenn ein Bedarf unabweisbar seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Ein lediglich einmalig auftretender Bedarf unterfällt nicht dem Anwendungsbereich dieser Norm, sondern es wird ein laufender höherer Bedarf vorausgesetzt (Coseriu in Kommentar zum Sozialrecht, 4. Aufl 2015, § 27a SGB XII RdNr. 10; R. Becker in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl 2014, § 37 RdNr. 12 <Stand: 23.1.2017>; offengelassen von BSG vom 20.4.2016 - B 8 SO 5/15 R - BSGE 121, 139 = SozR 4-3500 § 18 Nr. 3, RdNr. 13), wie sich auch aus der zum 1.1.2017 klarstellend geänderten Gesetzesfassung ergibt (vgl. BT-Drucks 18/9984, 90). Für die Deckung einmaliger Bedarfsspitzen ist damit ein "ergänzendes" Regelsatzdarlehen nach § 37 Abs. 1 SGB XII zu gewähren.

21 Ein Anspruch nach § 9 Abs. 3 Satz 1 AsylbLG iVm § 65a Abs. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) kommt ebenfalls nicht in Betracht. Danach kann auf Antrag Ersatz notwendiger Auslagen in angemessenem Umfang erhalten, wer einem Verlangen des zuständigen Leistungsträgers nach den §§ 61 oder 62 SGB I nachkommt. § 65a SGB I ist zwar auch im Bereich des SGB XII anwendbar (vgl. Gutzler in Lilge/Gutzler, SGB I, 5. Aufl 2019, § 65a RdNr. 3), aber auf das Sozialverwaltungsverfahren zugeschnitten und betrifft nur das Rechtsverhältnis zwischen der Sozialbehörde, die ein Tun nach §§ 61 f. SGB I verlangt, und einer Sozialleistungen beantragenden Person. Vorliegend zielt dieser Kostenerstattungsanspruch also auf Mitwirkungspflichten in Bezug auf die Leistungen nach dem AsylbLG ab. Eine analoge Anwendung auf Auslagen, die im Asylverfahren im Verhältnis zum BAMF entstehen, scheidet aus. Der Beklagte muss sich ein etwaiges Fehlverhalten des BAMF, das den Anhörungstermin nicht in leicht erreichbare Nähe zum Wohnort der Kläger verlegt hatte, auch nicht zurechnen lassen. [...]