VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 29.09.2021 - 6 K 285/19 - asyl.net: M30154
https://www.asyl.net/rsdb/m30154
Leitsatz:

Kein Reiseausweis für eritreischen Mann mit subsidiärem Schutzstatus:

1. Der Rechtsbegriff der Zumutbarkeit im Sinne des § 5 Abs 1 AufenthV erfordert einen Rückgriff auf alle im konkreten Einzelfall bestehenden tatsächlichen Gegebenheiten. Hierzu gehören auch eventuelle Erlebnisse und Erfahrungen, die der Ausländer in Bezug auf seinen Heimatstaat gemacht hat. Dies gilt auch und gerade für Ausländer, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist. Dies gegenläufige Auffassung des OVG Lüneburg (Beschluss vom 18.3.2021, 8 LB 97/20) und des VG Wiesbaden (Urteil vom 8.6.2020, 4 K 2002/19. WI) findet im maßgeblichen Rechtsbegriff der Zumutbarkeit aus § 5 Abs 1 AufenthV keine Stütze (Rn. 40).

2. Für Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, ist auf der Rechtsfolgenseite zu beachten, dass den Ausländerbehörden für die Entscheidung über die Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer entgegen dem Wortlaut von § 5 Abs 1 AufenthV kein Ermessen zukommt. Dies ergibt sich aus Art 25 Abs 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 (Neufassung der Qualifikationrichtlinie) (Rn. 32).

(Amtliche Leitsätze; entgegen OVG Niedersachsen, Urteil vom 18.03.2021 - 8 LB 97/20 (Asylmagazin 9/2021, S. 346 ff.) - asyl.net: M29586)

Schlagwörter: subsidiärer Schutz, Eritrea, Nationaldienst, Reiseausweis für Ausländer, Nationalpass, Passbeschaffung, Reueerklärung, Gewissensentscheidung, Diasporasteuer, staatsbürgerliche Pflicht, Gewissensfreiheit,
Normen: AufenthV § 5 Abs. 1, RL 2011/95/EU Art. 25, AsylG § 4,
Auszüge:

[...]

29 In materiell-rechtlicher Hinsicht kann der Kläger die Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer allerdings nicht beanspruchen. Vielmehr ist der Bescheid des Beklagten vom 3.1.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.1.2019 rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO). [...]

31 Bei der Unzumutbarkeit von (weiteren) Bemühungen zum Erhalt eines nationalen Passpapieres handelt es sich um einen rechtlich voll überprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriff. Seine Bejahung bestimmt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls, wobei es grundsätzlich mit Blick auf den mit der Ausstellung eines Passes regelmäßig verbundenen Eingriff in die Personalhoheit eines anderen Staates nicht zu beanstanden ist, wenn die Ausländerbehörde den Ausländer zunächst auf die Möglichkeit der Ausstellung eines Passpapiers durch den Herkunftsstaat verweist und die Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer erst vornimmt, wenn zumutbare Bemühungen nachweislich ohne Erfolg geblieben sind. Eine Unzumutbarkeit, sich zunächst um die Ausstellung eines Nationalpasses zu bemühen, kommt dementsprechend nur in Ausnahmefällen in Betracht. Die den Ausnahmefall begründenden Umstände sind grundsätzlich von dem Ausländer darzulegen und nachzuweisen.

32 Für Personen, denen, wie vorliegend dem Kläger, der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, ist dabei auf der Rechtsfolgenseite grundsätzlich zu beachten, dass den Ausländerbehörden für die Entscheidung über die Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer bei subsidiär Schutzberechtigten entgegen dem Wortlaut von § 5 Abs. 1 AufenthV kein Ermessen zukommt.

33,34 Für subsidiär Schutzberechtigte im Sinne des § 4 AsylG gilt ergänzend Art. 25 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über Normen für die Anerkennung von  Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes vom 13.12.2011 (Neufassung) (Abl. EU vom 26.2.2011, L 337, S. 9 ff.; im Folgenden: Qualifikationsrichtlinie). Diese Vorschrift sieht vor, dass die Mitgliedstaaten Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist und die keinen nationalen Pass erhalten können, Dokumente für Reisen außerhalb ihres Hoheitsgebiet ausstellten, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen. Damit stellt das vorrangig anwendbare europäische Recht klar, dass subsidiär Schutzberechtigten vorbehaltlich zwingender entgegenstehender Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung ein gebundener Anspruch auf Erteilung eines Reiseausweises zukommt, wenn sie keinen nationalen Pass oder Passersatz - zumutbar - erhalten können. [...]

40 Der Rechtsbegriff der Zumutbarkeit erfordert einen Rückgriff auf alle im konkreten Einzelfall bestehenden tatsächlichen Gegebenheiten.

41 Auch wenn gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 1 AufenthV die Beantragung eines Passpapieres und die diesbezügliche Vorsprache gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 6 Abs. 1 Satz 7 PassG - nach der letztgenannten Vorschrift soll für die Beantragung eines Reisepasses prinzipiell eine persönliche Vorsprache erfolgen - bei den zuständigen nationalen Behörden im Grundsatz als zumutbar zu erachten sind, sind Fallkonstellationen denkbar, in denen bereits die Vorsprache in der Heimatbotschaft zwecks Passbeantragung unzumutbar sein kann.

42,43 Dies gilt etwa dann, wenn belastbare Anhaltspunkte dafür bestehen, dass dem Ausländer im Rahmen der Beantragung eines Passes bereits in der Auslandsvertretung seines Herkunftsstaat Gefahren drohen, oder wenn der Ausländer substantiiert Umstände vorträgt, aus denen sich ergibt, dass er seine weiterhin im Herkunftsstaat ansässigen Familienangehörigen durch das Bemühen um die Ausstellung eines Nationalpasses unmittelbar in Gefahr bringen könnte. Daneben kann sich die Unzumutbarkeit der Passerlangung auch aus den Bedingungen ergeben, die der Herkunftsstaat an die Ausstellung eines Passes knüpft.

44 Zu den unter dem Rechtsbegriff der Zumutbarkeit relevanten tatsächlichen Gegebenheiten gehören daneben aber auch eventuelle Erlebnisse und Erfahrungen, die der Ausländer in Bezug auf seinen Heimatstaat gemacht hat. Dies gilt auch und gerade für Ausländer, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist.

45-49 Die gegenläufige Auffassung des OVG Lüneburg und des VG Wiesbaden8, die aus dem Befund, dass die der Genfer Flüchtlingskonvention zu Grunde liegende Vorstellung des Zusammenbruchs des durch die Staatsangehörigkeit begründeten Rechtsverhältnisses zwischen Heimatstaat und Flüchtling nur bei einer die politische Verfolgung kennzeichnenden Ausgrenzung des Betroffenen aus der staatlichen Friedensordnung greift und bei subsidiär Schutzberechtigten gerade nicht zum Tragen kommt, folgern, dass die Gründe, die zur Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus geführt haben, für die Frage der Zumutbarkeit der Passbeschaffung im Sinne des § 5 Abs. 1 AufenthV grundsätzlich keine Rolle spielen sollen, überzeugt nicht. Sie findet in dem in vorliegendem Zusammenhang allein maßgeblichen Rechtsbegriff der Zumutbarkeit, der notwendig einzelfallbezogen ist, keine Stütze. Außerdem erscheint es der Kammer für die Frage, ob und gegebenenfalls welche Bemühungen zur Beantragung eines Nationalpasses im konkreten Einzelfall zumutbar sind, nicht bedeutungslos, welche Erlebnisse und Erfahrungen ein Ausländer mit seinem Heimatstaat verbindet. [...]

58 Gemessen an diesen Grundsätzen lässt sich nicht feststellen, dass dem Kläger die Beantragung eines Passpapieres und die diesbezügliche Vorsprache bei der eritreischen Botschaft in Deutschland unzumutbar ist.

59 Es ist zunächst nicht davon auszugehen, dass der Kläger bereits einen erheblichen Schaden durch ein staatliches Verhalten seines eritreischen Heimatstaates erleiden musste. Insoweit hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Asylerstverfahren ergangenen Bescheid vom 28.7.2014 ausgeführt, dass die Verhaftung und der Gefängnisaufenthalt nicht glaubhaft dargelegt wurden. Diese Einschätzung hat Bestand. Angesichts dieser durch eine fachkundige Stelle getroffenen fachlichen Einschätzung, die in der Folge vom Kläger nicht angegriffen worden ist, ist die bloße Behauptung, die seinerzeitige Entscheidung sei nicht zutreffend, nicht geeignet, einen Ausnahmefall im Sinne des § 5 Abs. 1 AufenthV darzulegen und nachzuweisen.

60 Für die vom Kläger im Verwaltungsverfahren geltend gemachte Befürchtung, eine Vorsprache bei der eritreischen Botschaft könne zu Repressalien gegenüber seinen in Eritrea lebenden Familienangehörigen führen, fehlen in tatsächlicher Hinsicht hinreichende Anhaltspunkte.

61 Zwar dürfte bei einer befürchteten Reflexverfolgung von weiter in der Heimat lebenden Verwandten von einem um einen deutschen Reiseausweis nachsuchenden Ausländer in der Tat kein Nachweis gefordert werden, der nur um den Preis einer eventuellen Gefährdung der Familie erbracht werden könnte. Allerdings ist erforderlich, dass die allgemeine Auskunftslage über den Herkunftsstaat hinreichende Anhaltspunkte für eine Reflexverfolgung beinhaltet. Dies ist in Bezug auf Eritrea indes nicht der Fall. Eine beachtliche Gefahr einer Reflexverfolgung von in der Heimat verbliebenen Verwandten lässt sich der aktuellen Auskunftslage nicht entnehmen.

62,63 Soweit Familienangehörige von Deserteuren und Dienstverweigerern, die das Land verlassen hatten, in der Vergangenheit eine Buße von umgerechnet 3000 € bezahlen und, falls sie diese Buße nicht aufbringen konnten, für bis zu einem Jahr in Haft mussten, ist diese Art von Verfolgung in den letzten Jahren kaum noch festzustellen. Laut dem European Asylum Support Office (EASO) gab es, Stand 2019, nur noch sporadische diesbezügliche Berichte. Generell reduziert sich die Gefahr für Familienangehörige, wenn die Behörden nicht mehr vermuten, dass sich die gesuchte Person, die durch Druck auf Angehörige dazu veranlasst werden soll, sich wieder zu melden, noch im Land befindet.

64,65 Auch dem Auswärtigen Amt ist aus neuerer Zeit kein Fall bekannt, in dem es zu Sanktionen gegen in Eritrea verbliebene Familienangehörige wegen illegaler Ausreise eines Familienangehörigen gekommen ist. [...]

75,76 [...] Angesichts dessen, dass der Kläger sich auf einen bereits erlittenen, durch staatliche Stellen Eritreas herbeigeführten ernsthaften Schaden nicht berufen kann, ergibt sich eine Unzumutbarkeit der Passbeantragung auch nicht aus dem Umstand, dass die Passbeantragung für ihn mit der Entrichtung einer zweiprozentigen Aufbausteuer an den eritreischen Staat verbunden ist.

Die Aufbausteuer wird von allen im Ausland lebenden volljährigen eritreischen Staatsangehörigen erhoben. Die Entrichtung der Steuer wird dabei zur Voraussetzung für alle staatlichen Dienstleistungen gemacht. Eritreische Staatsangehörige in Deutschland müssen folglich die Steuer entrichten, wenn sie die Dienstleistung: Passausstellung in Anspruch nehmen wollen.

77,78 Allerdings erscheint es je nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls möglicherweise nicht grundsätzlich ausgeschlossen, es für eine Person, die bereits Opfer von gravierenden  Menschenrechtsverletzungen war, als unzumutbar anzusehen, wenn sie dem dafür verantwortlichen Staat auch noch jährlich zwei Prozent ihres Einkommens als Steuern zukommen lassen soll. Indes ist, wie dargelegt, eine solche Konstellation vorliegend nicht gegeben. Der Kläger hat einen bereits erlittenen ernsthaften Schaden durch den eritreischen Staat nicht dargelegt.

Allgemein ist die Forderung einer Auslandssteuer jedenfalls nicht unzumutbar. Nach § 5 Abs. 2 Nr. 3 und Nr. 4 AufenthV gelten insbesondere die Erfüllung von zumutbaren staatsbürgerlichen Pflichten und die Zahlung der vom Herkunftsstaat allgemein festgelegten Gebühren für behördlichen Maßnahmen als zumutbar. Als staatsbürgerliche Pflicht in diesem Sinne ist nach dem ausdrücklichen Willen des Verordnungsgebers auch die Zahlung von Steuern und Abgaben anzusehen.

79,80 Bei der eritreischen Aufbausteuer handelt es sich um eine solche Steuer, deren Zahlung zu den staatsbürgerlichen Pflichten zählt. Ihre Entrichtung erscheint auch von der Höhe her zumutbar. Der Kläger hat nicht geltend gemacht, dass er eine in seinem Fall willkürliche Festsetzung der Steuer befürchtet. Desgleichen hat er nicht dargelegt, dass die Steuer ihm wegen ihrer Höhe faktisch die Möglichkeit nehmen würde, einen Heimatpass zu erhalten.

81 Es wird schließlich auch nicht davon berichtet, dass die Nichtzahlung der Auslandssteuer nachteilige Folgen für in Eritrea zurückgebliebene Familienangehörige hätte. Als Sanktion für ausbleibende  Steuerzahlungen wird lediglich angeführt, dass der säumige Steuerzahler keine staatlichen Dienstleistungen erhält. Wenn Repressionen wegen Nichtzahlung der Steuer durch ein ausländisches Familienmitglied für Verwandte im Heimatland in beachtlicher Anzahl vorkämen, müsste es angesichts der großen Zahl von Auslandseritreern entsprechende diesbezügliche Erkenntnisse geben. Solche sind nicht ersichtlich.

82-84 Soweit Gerichte es verschiedentlich mit Blick auf die neben der Aufbausteuer häufig ebenfalls als Voraussetzung für die Erteilung eines eritreischen Nationalpasses geforderte Reueerklärung als möglich angesehen haben, Passbemühungen im Einzelfall als unzumutbar einzustufen, stellt sich diese Frage nach den unterbreiteten Einzelfallumständen vorliegend nicht. Der Kläger hat sich nicht auf eine Unzumutbarkeit der Beantragung eines Reisepasses bei der eritreischen Auslandsvertretung wegen der möglicherweise erforderlichen Unterzeichnung einer Reueerklärung berufen und dementsprechend nicht dargelegt, inwiefern sich die Abgabe einer solchen Erklärung als aus gewichtigen persönlichen Gründen für ihn überhaupt problematisch gestalten würde. [...]