VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 11.10.2021 - A 15 K 4778/17 - asyl.net: M30176
https://www.asyl.net/rsdb/m30176
Leitsatz:

Flüchtlingseigenschaft für alleinstehende junge Frau aus Afghanistan:

"Klarzustellen ist, dass die fraglos frauenfeindliche Politik der Taliban in Afghanistan für sich allein nach den aktuellen Erkenntnismitteln nicht die Annahme rechtfertigt, dass Frauen generell einer flüchtlingserheblichen geschlechtsbezogenen politischen Verfolgung in Afghanistan unterlägen.

Die derzeitige politische und gesellschaftliche Situation in Afghanistan kann allerdings eine geschlechts­spezifische Verfolgung alleinstehender Frauen, im Sinne von § 3b Abs. 1 AsylG begründen, da gerade auch wegen der Anknüpfung an das Geschlecht die persönliche Entfaltung vollständig unmöglich gemacht wird oder sie sogar in ihrer Existenz bedroht."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, alleinstehende Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Taliban, soziale Gruppe, Flüchtlingseigenschaft, westlicher Lebensstil, Verwestlichung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1,
Auszüge:

[...]

23 Angesichts der Dynamik des Geschehens in Afghanistan ist aus Sicht der Berichterstatterin besondere Vorsicht bei der Bewertung der Voraussetzungen des Flüchtlingsschutzes geboten. Verfassungsrechtlich (Art. 103 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG) erwächst für die Fachgerichte die Pflicht, bei der Beantwortung der Frage, ob ein Asylsuchender in ein Land mit stetigen Verschlechterung der Menschenrechts- und Sicherheitslage abgeschoben werden darf, sich laufend über die tatsächlichen Entwicklungen zu unterrichten und nur auf der Grundlage aktueller Erkenntnisse zu entscheiden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.03.2017 - 2 BvR 681/17 - juris und vom 09.02.2021 - 1 BvQ 8/21 - juris zu § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG). Das Bundesverfassungsgericht hat ausweislich der vorbezeichneten Entscheidungen dabei mehrfach darauf hingewiesen, dass es verfassungsrechtlich geboten ist, sich mit den aktuellen Erkenntnissen zur aktuellen Lebenssituation in Afghanistan zu befassen. Vorliegend ist derzeit völlig unklar, wie sich die Lage in Afghanistan entwickeln wird.

24 2. Die derzeitige politische und gesellschaftliche Situation in Afghanistan begründet eine geschlechtsspezifische Verfolgung alleinstehender junger Frauen, insbesondere solcher, die - wie die Klägerin - längere Zeit im (westlichen) Ausland gelebt haben, im Sinne von 3b Abs. 1 AsylG.

25 a. Bereits vor der (erneuten) Machtergreifung der Taliban im Sommer dieses Jahres sahen sich Frauen in Afghanistan - trotz aller vorausgegangenen Reformen - erheblichen gesellschaftlichen und sozialen Diskriminierungen ausgesetzt. Zwar hatte die bisher geltende und wohl von den Taliban außer Kraft gesetzte Verfassung und Gesetzgebung Afghanistans zunehmend die Rechte der Frauen gestärkt, doch konnten sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen (vgl. Human Rights Watch, "I Thought Our Life Might Get Better" Implementing Afghanistan’s Elimination of Violence against Women Law, August 2021). Frauen wurden nach wie vor in vielfältiger Hinsicht diskriminiert (vgl. SFH, Afghanistan: Situation von "flüchtigen" Frauen, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse, vom 01.10.2018; Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 24. Mai 2016 zu Afghanistan: Besondere Gefährdung von Frauen). Im gesellschaftlichen Bereich bestimmten nach wie vor eine orthodoxe Auslegung der Scharia und archaischpatriarchalische Ehrenkodizes die Situation von Frauen und Mädchen. Der Verhaltenskodex der afghanischen Gesellschaft verlangte von ihnen grundsätzlich den Verzicht auf Eigenständigkeit. Innerhalb der Familie hatten sie sich dem Willen der männlichen Familienmitglieder zu unterwerfen. Falls sie sich den gesellschaftlichen Normen verweigerten, bestand die Gefahr der sozialen Ächtung. Die Entwicklung einer eigenständigen Lebensperspektive war ihnen ohne familiäre Unterstützung kaum möglich. Mochte der afghanische Staat zwar rechtlich verpflichtet gewesen sein, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken, mangelte es jedoch oftmals in der Praxis an der Umsetzung dieser Rechte. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten waren und sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen (vgl. BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 25 ff.). Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Sorgerecht, Erbschaft und Bewegungsfreiheit. Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist unabhängig von der Ethnie weit verbreitet, wenn auch kaum dokumentiert.

26 b. Nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen, insbesondere Presseberichte, hat sich diese für Frauen in Afghanistan zu keinem Zeitpunkt einfache Situation seit der Machtübernahme der Taliban extrem verschlechtert. [...]

27 Nach den vorliegenden Erkenntnisquellen erlauben es mithin weder die frauenverachtenden Vorschriften der Taliban, noch die allgemeine gesellschaftliche Situation und insbesondere die unbefriedigende Sicherheitslage alleinstehenden Frauen ein menschenwürdiges Leben. Nach den derzeitigen Verhältnissen in Afghanistan ist für Frauen ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, vom 16.07.2020, S. 13 ff.). Eine alleinstehende Frau in Afghanistan ohne männlichen Schutz kann und darf sich derzeit in Afghanistan kaum bewegen. Sie hat so gut wie keine Möglichkeit, Arbeit zu finden und sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder gar Unterkunft zu finden.

28 c. Klarzustellen ist, dass die fraglos frauenfeindliche Politik der Taliban in Afghanistan für sich allein nach den aktuellen Erkenntnismitteln nicht die Annahme rechtfertigt, dass Frauen generell einer flüchtlingserheblichen geschlechtsbezogenen politischen Verfolgung in Afghanistan unterlägen. Die derzeit 23 Jahre alte unverheiratete Klägerin würde aber als alleinstehende Frau nach Afghanistan zurückkehren. Sie hat - bis auf wenige - ihr nicht bekannte Verwandte keine (männlichen) Angehörigen und kein soziales Netz, mit deren Hilfe sie sich in Afghanistan "durschlagen" könnte. Erschwerend kommt hier dazu, dass die  Klägerin niemals in Afghanistan gelebt hat. Sie ist im Iran geboren und aufgewachsen. Sie unterhält keine Bindungen zu Afghanistan und ist mit den Gepflogenheiten der afghanischen Gesellschaft nicht vertraut. Es ist bekannt, dass das soziale Leben in Afghanistan nicht erst seit dem Wiedererstarken der Talibanherrschaft wesentlich einschränkender für Frauen ist als im Iran. Der Vortrag der Beklagten im angefochtenen Bescheid vom 31.05.2017, die Klägerin habe "den größten Teil ihres Lebens in einer islamisch geprägten Umgebung verbracht" mag zwar oberflächlich betrachtet zutreffend sein, mutet jedoch im Hinblick auf die Lebenswirklichkeit in diesem Land zynisch an. Hinzu kommt, dass die Klägerin seit 2015 und damit seit fast sechs Jahren in Deutschland lebt. Ohne, dass es hier darauf ankommt, inwieweit bei der Klägerin eine sogenannte "Verwestlichung" anzunehmen ist (vgl. hierzu VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 24.11.2020 -8 K 1588/16.A - juris), liegt es auf der Hand, dass eine junge Frau, die ihr gesamtes bisheriges Leben als junge Erwachsene in einer Gesellschaft verbracht hat, welche von rechtlicher und (weitgehend) tatsächlicher Gleichberechtigung der Geschlechter geprägt ist, kaum in der Lage sein dürfte, sich in die gegenwärtigen gesellschaftlichen und rechtlichen Strukturen Afghanistans einzuleben und dort zu überleben.

29 Die Klägerin unterscheidet sich mithin allgemein von anderen Rückkehrern und auch anderen vulnerablen Gruppen, dass hier nicht lediglich eine schlechte Versorgungs- oder Sicherheitslage die (Wieder-)eingliederung in die afghanische Gesellschaft verhindert (vgl. zu sog. "faktischen Iranern" Urteil der Kammer vom 16.03.2021 - A 15 K 9379/17 - juris; zu Familie mit kleinen Kindern VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 - juris Rn. 388 ff.), sondern gerade auch wegen der Anknüpfung an das Geschlecht die persönliche Entfaltung vollständig unmöglich gemacht wird oder sie sogar in ihrer Existenz bedroht. [...]

31 [...] Die Klägerin wird als Zugehörige zur sozialen Gruppe der alleinstehenden, in Afghanistan nicht sozialisierten Frauen verfolgt, die aufgrund der kulturellen und religiösen Gepflogenheiten in der strikt patriarchalisch geprägten Gesellschaft Afghanistans sowie der derzeitigen politischen Lage tiefgreifend diskriminiert werden und eine deutlich abgegrenzte Identität haben sowie von der sie umgebenden Bevölkerung als andersartig betrachtet werden. [...]