VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 31.08.2021 - A 14 K 4613/17 - asyl.net: M30179
https://www.asyl.net/rsdb/m30179
Leitsatz:

Flüchtlingseigenschaft für afghanischen Mann wegen Armeezugehörigkeit und drohender Rache nach außerehelicher Beziehung:

"[...] Einem ehemaligen Angehörigen des afghanischen Militärs droht in Afghanistan die Verfolgung aus politischen Gründen, dies gilt ebenso für Angehörige der General Dostum unterstellten Truppenteile.

Ein Ehebruch, der von einem Untergebenen mit einer Ehefrau eines Höhergestellten begangen wird, kann auch für den beteiligten Mann Rachemaßnahmen bis hin zur Tötung zur Folge haben. Dies können auch Jahrzehnte später noch drohen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Militär, General Dostum, Ehebruch, außereheliche Beziehung, Taliban, Blutrache, Rache, Affäre, Dostum, Ehrenkodex, Paschtunwali, Paschtunen, Zina, Flüchtlingseigenschaft,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 2 Nr. 5,
Auszüge:

[...]

32 In seiner Geschichte sind demnach zwei Lebenssachverhalte miteinander verwoben, die jeder für sich zu einer flüchtlingsrechtlich relevanten Bedrohungslage führen.

33 Die Schilderung des Klägers steht hinsichtlich des Ehebruchs mit einer der Ehefrauen des Oberst in Einklang mit den vorliegenden Erkenntnismitteln. Aus diesen ist ersichtlich, dass Ehrverletzungen der Familie - wie z.B. das Widersetzen gegen eine Zwangsheirat oder das Davonlaufen von Zuhause mit einem selbstgewählten Partner - in Afghanistan grundsätzlich dazu führen können, dass Blutrache geübt wird. Vergeltung durch Blutrache beruht auf einem traditionellen Verständnis von Verhalten und Ehre. [...] Insbesondere im Fall von "zina" ist Blutrache ein verbreitetes Phänomen. Zina ist ein umfassender Begriff für alle Verhaltensweisen außerhalb der Norm wie außerehelicher bzw. vorehelicher Geschlechtsverkehr, illegale sexuelle Beziehungen und Ehebruch und gilt als moralisches Verbrechen. Zina ist sowohl nach dem Strafgesetzbuch als auch nach der Scharia strafbar und kann zu Morddrohungen und Ehrengewalt, einschließlich Ehrenmorden, führen. [...] Dabei droht nicht nur der Frau, welche gegen die sozialen Normen verstößt, ein Ehrenmord, sondern dies kann auch den Mann betreffen (vgl. UNHCR, UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs AFG-Asylsuchender, 30.08.2018, S. 74; EASO, Individuals targeted under societal and legal norms, 01.12.2017, S. 50). Für den Mann ist es insbesondere dann gefährlich, wenn die Frau aus einer einflussreichen Familie stammt (vgl. hierzu und zu Folgendem: SFH, Zina, außerehelicher Geschlechtsverkehr, 02.10.2012, S. 6f). Die Afghan Independent Human Right Commission geht davon aus, dass Männern, welche die Ehre einer Familie verletzt haben, nur ihre eigene Familie Schutz vor der Familie der Frau bieten kann. Oft werden Paare, die voreheliche Beziehungen eingegangen sind, miteinander verheiratet. Wenn jedoch die Frau einer höher gestellten Familie angehört, hat der Mann keine Möglichkeit, seine Schuld mit einer Heirat zu tilgen. Die Afghan Independent Human Right Commission weist darauf hin, dass gemischt ethnische Beziehungen noch viel komplizierter seien. In solchen Fällen werde der Mann oft getötet und seine Leiche geschändet oder er werde zusammengeschlagen oder der Entführung beschuldigt und inhaftiert.

34 Gerade um eine solche Konstellation handelt es sich im Fall des Klägers. Er hielt als normaler Soldat eine mindere gesellschaftliche Stellung inne als Oberst ... und damit auch dessen Ehefrauen.

35 Im Anbetracht dieser Erkenntnismittel und den Angaben des Klägers erscheint es nachvollziehbar, dass diesem jedenfalls bis zur Machtübernahme durch die Taliban nach seinem Vortrag auch nach seiner Flucht Verfolgung seitens Oberst ... drohte - zumal nach den Erkenntnismitteln derartige Rachemaßnahmen auch Jahrzehnte später noch weiter drohen können (vgl. hierzu und zu Folgendem: SFH, Blutrache und Blutfehde, 07.06.2017, S. 2ff).

36 Es kann dahinstehen, ob sich aus der geschilderten Bedrohung durch Oberst ... auch nach dem Machtwechsel aktuell eine Bedrohungslage ergibt. Nach der Einnahme von Masar-e Sharif durch die Taliban ist General Dostum am 14.08.2021 über die nahegelegene Grenze nach Usbekistan geflohen (Afghanistan Analysts Network (AAN), Martine van Bijlert, The Taleban leadership converges on Kabul as remnants of the republic reposition themselves, 19.08.2021; www.afghanistan-analysts.org/en/reports/war-andpeace/the-taleban-leadership-converges-on-kabul-as-the-remnants-of-the-republic-try-to-repositionthemselves/). Oberst ... kann sich als Anhänger Dostums ebenfalls zur Flucht entschlossen haben, denkbar ist aber genauso, dass er versucht, die Seiten zu wechseln und seine Dienste den Taliban anzubieten.

37 Der Kläger ist jedoch als Angehöriger der afghanischen Streitkräfte unmittelbar von Verfolgungsmaßnahmen aus politischen Gründen durch die Taliban bedroht.

38 Bei den Truppen des Generals Dostum handelte es sich ursprünglich um eine Miliz, die 1987 als 53. Infanteriedivision in die reguläre afghanische Armee eingegliedert worden war. Abdul Rashid Dostum wird als Anführer der usbekischen Minderheit in Afghanistan angesehen, ein ehemaliger Warlord und einer der Anführer der Nordallianz, zeitweilig war er 1. Vizepräsident Afghanistans (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, 15.04.2021, S. 283). Seine Dschunbeisch-i Melli-yi Islami-ye Afghanistan, die Islamisch-nationale Bewegung Afghanistans hatte sich keiner Ideologie verschrieben, trotz ihres Namens auch keiner religiösen (Gesellschaft für bedrohte Völker, Michael Pohly, Afghanistan ohne Chance? 12.10.2001; Ahmad Taheri, taz, Das Portrait Raschiduddin Dostam, 17.01.1994, taz.de/Raschiduddin-Dostam/!1581670/). Bis zum Fall der Stadt Masar-e Sharif am 14.08.2021 kämpften die Einheiten Dostums gegen die Taliban (reuters, Afghan militia leaders Atta Noor, Dostum escape 'conspiracy', 14.08.2021, www.reuters.com/world/asia-pacific/afghan-militialeaders-atta-noor-dostum-escape-conspiracy-2021-08-14/; AAN, Martine van Bijlert, aaO, 19.08.2021). Die Truppenteile General Dostums teilen daher das Schicksal der sonstigen afghanischen Armee.

39 Die Schilderungen des Klägers stimmen mit der Auskunftslage zum Zeitpunkt der geschilderten Bedrohung überein. Es gab und gibt ein systematisches und fortwährendes Vorgehen bewaffneter regierungsfeindlicher Gruppen gegen afghanische Militärangehörige. Die Angriffe reichen von Einschüchterungen, Attentaten, Entführungen und Punktzielangriffen bis zur Verwendung von selbst gebauten Sprengkörpern und Selbstmordattentaten. Im Zeitraum 2014 bis 2015 dokumentierte UNAMA mehrere gezielte Angriffe auf zivile Staatsbedienstete; diese zählten häufig zu den Opfern gezielter Tötungen. Die Taliban hätten Berichten zufolge ihre Taktik geändert und griffen seit dem Abzug der internationalen Streitkräfte in erster Linie die afghanischen Sicherheitskräfte an (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, 15.07.2021, Stand: Mai 2021, S. 16; Briefing Notes des Bundesamtes vom 03.05.2021; New York Times, ‚There Is No Safe Area‘: In Kabul, Fear Has Taken Over, 17.01.2021; Der Spiegel, Uno dokumentiert blutigsten November seit Beginn der Aufzeichnungen, 23.02.2021). Berichten zufolge wurden auch ehemalige Mitglieder der afghanischen Sicherheitskräfte von regierungsfeindlichen Kräften angegriffen (vgl. UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender - Zusammenfassende Übersetzung - Stand 19.04.2016). Es gab sogar Berichte zur Ermordung von Familienangehörigen von Armeesoldaten (s. Briefing Notes des Bundesamtes vom 03.05.2021). Seit Dezember 2020 / Januar 2021 ist generell eine zunehmende Destabilisierung und eine landesweit zunehmende Gewalt zu verzeichnen, (beispielhaft beginnend mit den Briefing Notes des Bundesamts vom 11.01.2021; s.a. Aljazeera, Afghanistan – Visualising the impact of 20 years of war, abzurufen unter: https://interactive.aljazeera.com/aje/2021/afghanistan-visualising-impact-ofwar/index.html; AAN, Civilian Casualties Worsened as Intra-Afghan Talks Began, says UNAMA’s 2020 report on the Protection of Civilians, 28.02.2021; New York Times, 'There Is No Safe Areaʼ: In Kabul, Fear Has Taken Over, 17.01.2021; Der Spiegel, Uno dokumentiert blutigsten November seit Beginn der Aufzeichnungen, 23.02.2021). Auch zahlreiche weitere Erkenntnismittel machen Ausführungen zu den sich weiter verschärfenden Machtkämpfen und der mit voranschreitendem Rückzug der internationalen Kräfte zunehmend fragileren Situation der afghanischen Regierungstruppen (vgl. nur UNSC, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security, 12.03.2021; HRW, Afghanistan: Targeted Killings of Civilians Escalate, 16.03.2021; AAN, Civilian Casualties Worsened as Intra-Afghan Talks Began, says UNAMA’s 2020 report on the Protection of Civilians, 28.02.2021; ACCORD, Themendossier zu Afghanistan: Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan, 27.01.2021). Dabei konnte bereits seit längerem festgestellt werden, dass die Taliban in den von ihnen kontrollierten Regionen eine ernstzunehmenden Parallelregierung organisiert und durchgesetzt haben, mit ihrem eigenen Rechtssystem und einem Einfluss, der so weit reicht, dass Regierungsprojekte in diesen – Stand November 2020 – rund 400 Distrikten nur mit Zustimmung und Kooperation der Taliban umsetzen konnte (Thomas Ruttig, Die Parallelregierung, 21.11.2020, https://taz.de/Truppenabzug-aus-Afghanistan/!5727714/).

40 Vor diesem Hintergrund war - nach Überzeugung des Gerichts - im Zeitpunkt der Ausreise des Klägers aus Afghanistan aufgrund privater Umstände sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit wegen des Ehebruchs mit einer der Frauen des Obersts bedroht. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan ist das Leben des Klägers und seine körperliche Unversehrtheit nunmehr zumindest aufgrund seiner Zugehörigkeit zu den afghanischen Streitkräften und damit wegen seiner (tatsächlichen oder jedenfalls vermeintlichen) politischen Überzeugung bedroht.

41 Dies ergibt sich für den Kläger verschärft nach dem erfolgten Machtwechsel am 15.08.2021. Der mit dem Abschluss des Abkommens zwischen den USA und den Taliban – ohne Beteiligung der afghanischen Regierung - am 29.02.2020 in Gang gesetzte Prozess (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, 14.01.2021, S. 16; EASO, Country Guidance: Afghanistan, Common analysis and guidance note, Dezember 2020, S. 58), in dessen Verlauf die Taliban gegenüber der afghanischen Regierung an Stärke und Macht gewannen,, hat sich in den vergangenen Wochen in dem Maße beschleunigt, wie die alliierten Streitkräfte sich aus Afghanistan zurückzogen. Nachdem in den beiden ersten Augustwochen in immer kürzeren Abständen die Provinzhauptstädte an die Taliban gefallen waren, floh Präsident Ghani im Laufe des 15.08.2021 ins Ausland, die Taliban nahmen Kabul daraufhin kampflos ein (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl [BFA], Sonderkurzinformation der Staatendokumentation, a) Aktuelle Lage in Afghanistan, b) Hinweise für die Benützung der aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan; Der Tagesspiegel, Präsident flieht aus Afghanistan – Deutsche Botschaft geräumt, 15.08.2021; Briefing Notes des Bundesamts vom 16.08.2021). Sie fanden verlassene Polizeistationen und Ministerien vor, auch die afghanischen Streitkräfte waren geflohen. Bis auf wenige Ausnahmen (insbesondere Russland, China, Pakistan) wurden die Botschaften überstürzt geräumt und das Botschaftspersonal zum militärischen Teil des Flughafens Kabul verlegt (Der Tagesspiegel, aaO). In den folgenden zwei Wochen wurden unter Führung der amerikanischen Streitkräfte durch zahlreiche westliche Staaten unter chaotischen Umständen rund um den Kabuler Flughafen ungefähr 120.000 Menschen evakuiert (davon ca. 4.500 durch die Bundeswehr), Staatsangehörige der beteiligten Nationen sowie afghanische Staatsangehörige, die sich vor den neuen Machthabern in Sicherheit bringen wollten (Süddeutsche Zeitung, www.sueddeutsche.de/politik/afghanistan-news-taliban-deutschland-1.5396664, Meldung vom 31.08.2021, abgerufen am 05.09.2021). Nach derzeitigen Angaben des Auswärtigen Amts gehe man von mehr als 40.000 zur Ausreise nach Deutschland berechtigten Afghanen, sog. Ortskräfte und ihre engsten Angehörigen, aus, die in Afghanistan zurückgeblieben sind (Erklärungen des Auswärtigen Amts in der Regierungspressekonferenz vom 30.08.2021, www.auswaertigesamt.de/de/newsroom/regierungspressekonferenz/2478940).

42 Trotz einiger offizieller Verlautbarungen der Taliban, die eine gegenüber der ersten Herrschaft der Taliban gemäßigte Vorgehensweise ankündigen (siehe hierzu Deutschlandfunk Kultur,https://www.deutschlandfunkkultur.de/afghanistans-zukunft-taliban-predigen-emiratlight.979.de.html?dram:article_id=501891, 19.08.2021), gibt es bereits Meldungen seitens des UNHCR und Human Rights Watch, dass es trotz der von den Taliban verkündeten Amnestie in verschiedenen Landesteilen zu Massenhinrichtungen von früheren afghanischen Regierungsmitarbeitern und ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte gekommen sei (so die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Statement vom 24.08.2021, S. 1). Außerdem sei laut UNHCR der Bewegungsspielraum von Frauen in manchen Regionen eingeschränkt worden, Mädchen dürften teilweise nicht mehr zur Schule gehen (Briefing Notes des Bundesamts vom 30.08.2021). Mehr Aussagekraft als Pressemitteilungen der Taliban in diesen Wochen, in denen das Interesse der Weltöffentlichkeit auf Kabul gerichtet ist, dürften die Verhältnisse in den Regionen aufweisen, die bereits seit längerem von den Taliban beherrscht werden (Emran Feroz, Journalist und Afghanistan-Experte, Deutschlandfunk Kultur, Afghanistans Zukunft, Taliban predigen Emirat light, 19.08.2021, www.deutschlandfunkkultur.de/afghanistans-zukunft-taliban-predigen-emiratlight.979.de.html. [...]