VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 24.08.2021 - A 14 K 5099/17 - asyl.net: M30181
https://www.asyl.net/rsdb/m30181
Leitsatz:

Flüchtlingseigenschaft für afghanischen Mann wegen Konversion zum Christentum:

"Einem Kläger droht in Afghanistan die Verfolgung aus religiösen Gründen, wenn er vom Islam zum Christentum konvertiert ist. Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit vorliegt, sind eine Reihe objektiver wie auch subjektiver Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Nachdem sich auf der ersten objektiven Stufe ein extrem hohes Maß an dem Kläger drohenden Verfolgungshandlungen ergibt, sind an die zweite Stufe keine hohen Anforderungen zu stellen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Konvertiten, religiöse Verfolgung, Christen, Apostasie, Taliban,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

32 2. Nach diesen Grundsätzen ist anzunehmen, dass dem Kläger wegen seiner Konversion zum Christentum in seinem Herkunftsland Afghanistan die Verfolgung aus religiösen Gründen in Sinne von § 3 AsylG droht. Das Gericht ist nach dem persönlichen Eindruck vom Kläger in der mündlichen Verhandlung und seinem schriftlichen und mündlichen Vortrag davon überzeugt, dass der Kläger zum Christentum konvertiert ist und ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung in Anknüpfung an seine Religionszugehörigkeit sowohl durch staatliche als auch nichtstaatliche Akteure (§ 3c AsylG) droht, ohne dass wirksamer Schutz im Sinne des § 3d AsylG zu erlangen ist oder eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht (§ 3e Abs. 1 AsylG). [...]

34 Bei der Beurteilung der Frage, ob ein solcher Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit vorliegt und als Verfolgungshandlung zu qualifizieren ist, sind eine Reihe objektiver wie auch subjektiver Gesichtspunkte zu berücksichtigen (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 05.09.2012 - C-71/11 u.a. - juris, Rn. 70; BVerfG, Beschluss vom 03.04.2020 - 2 BvR 1838/15 - juris, Rn. 33; BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris, Rn. 28 f.). Auf einer ersten objektiven Stufe hat das Gericht zu ermitteln, welche Maßnahmen und Sanktionen gegenüber dem Betroffenen in seinem Herkunftsland voraussichtlich ergriffen werden und wie gravierend diese sind. Auf einer zweiten Stufe ist in subjektiver Hinsicht zu ermitteln, ob der Kläger sich aus voller innerer Überzeugung von seinem bisherigen Bekenntnis gelöst hat.a) Den einschlägigen Erkenntnismitteln lässt sich folgende Lage in Afghanistan mit Blick auf die Religionsfreiheit und die Behandlung von Konvertiten entnehmen: [...]

36 Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach dem afghanischen Strafgesetzbuch zwar nicht ausdrücklich als Straftat definiert ist, jedoch nach allgemeiner afghanischer Rechtauffassung unter die nicht weiter definierten "ungeheuerlichen Straftaten" fällt (UNHCR, UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018 - UNHCR, Richtlinien, 2018 - S. 72). Nach der Scharia ist die Todesstrafe für die Abkehr vom Islam vorgesehen (s. AA, Lagebericht 15.07.2021, S. 9). Abtrünnigkeit sei ein schweres Vergehen, das zwar Berichten zufolge nur selten strafrechtlich verfolgt werde, aber in den vergangenen Jahren sei dies vorgekommen (European Asylum Support Office, Country Guideance: Afghanistan, 2019 - EASO, Country Guidance, 2019, S. 68; AA, Lagebericht 15.07.2021, S. 9 [seit 2001]; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage von Personen, die vom islamischen Glauben abgefallen sind, von KonvertitInnen; von Personen, die sich nicht an islamische Regeln halten und von Personen, die öffentlich Kritik am Islam üben: Behandlung durch Gesellschaft und Staat; Möglichkeiten zur Ausübungen christlicher Religion; Veränderungen hinsichtlich der Lage von ChristInnen; Gesellschaftliche Wahrnehmung von RückehrerInnen aus Europa, 15.06.2020 - ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan, 15.06.2020 - S. 4). Dies kann nach Einschätzung des Afghanistan-Experten Thomas Ruttig und der Dozentin für Anthropologie Melissa Kerr Chiovenda daran liegen, dass es überhaupt keine Apostaten oder Konvertiten geben würde, die sich offen über ihren Glauben beziehungsweise Nicht-Glauben äußern und sich so unauffällig verhalten würden, dass staatliche Stellen oder der Staat nie etwas davon erfahren würden (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan, 15.06.2020, S. 4). Nach Ansicht der Anthropologin Friederike Stahlmann griffen die von der Gesellschaft verhängten Sanktionen - dazu sogleich - in der Regel schneller als die staatlichen; wenn Apostasie bekannt werde, sei von staatlicher Seite für diese Straftat keine Toleranz zu erwarten (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan, 15.06.2020, S. 5).Neben der drohenden strafrechtlichen Verfolgung seitens des Staates werden Konvertiten in der Gesellschaft ausgegrenzt und angegriffen, beispielweise durch Annullierung ihrer Ehen, Ablehnung durch die Familie oder Verlust des Arbeitsplatzes (s. BFA, Länderinformationsblatt, 16.12.2020, S. 247). Die afghanische Gesellschaft ist gegenüber diesen Personen äußerst feindselig gesinnt, sodass mit Übergriffen bis hin zur Ermordung seitens der Familie, der Gesellschaft und regierungsfeindlichen Gruppierungen zu rechnen ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, Update der SFH-Länderanalyse, 30.09.2020 - SFH, Gefährdungsprofile, 30.09.2020 - S. 13). Zwar seien auch individuelle Umstände wie persönliche Beziehungen und Konflikte, der familiäre Hintergrund und der Herkunftsort für die Reaktion der Gesellschaft von Bedeutung, jedoch bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Person getötet würde oder zumindest schikaniert oder stark eingeschüchtert werde (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan, 15.06.2020, S. 6 f.). Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch angesehen, sondern die Abkehr vom Islam (BFA, Länderinformationsblatt, 16.12.2020, S. 253). Aufgrund dieser Repression bekennen sich Konvertiten häufig nicht öffentlich zu ihrer neuen Religion. Der Staat könne Apostaten, die seitens der Gesellschaft angegriffen oder Diskriminierungen erfahren, keinen Schutz bieten (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan, 15.06.2020, S. 4). Nichtregierungsorganisationen oder Hilfsorganisationen, die Konvertiten unterstützten, seien nicht bekannt, da diese die erforderliche staatliche Genehmigung bei Unterstützung dieser Personen verlieren würden; sie würden deshalb Konvertiten meiden, da sie nicht in den Verdacht geraten möchten, missionarisch tätig zu sein (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan, 15.06.2020, S. 15).

37 Nach Einschätzung des Afghanistan-Experten Thomas Ruttig sind Afghanen, die einer Konversion beschuldigt werden, vollkommen auf sich gestellt. Er kenne drei oder vier Personen, deren Konversion bekannt geworden sei, die dann aus Afghanistan gerettet und ausgeflogen werden mussten (vgl. ACCORD, Dokumentation des Expertengesprächs mit Thomas Ruttig und Michael Daxner vom 04.05.2016, - ACCORD, Expertengespräch, 04.05.2016 - S. 9). Nach seiner Einschätzung verheimlichten die meisten Konvertiten ihren Glaubensübertritt und nähmen weiterhin zur Tarnung an traditionellen religiösen Handlungen teil. Werde ein Glaubensübertritt aber bekannt, sei er in keinem - ihm bekannten - Fall akzeptiert worden (vgl. ACCORD, Expertengespräch, 04.05.2016, S. 9). Falls die Sache vor ein staatliches Gericht gelange, sähen sich die Richter ideologisch gezwungen, nach der Scharia zu urteilen. In einem Fall, bei dem es nur um den Vorwurf der Blasphemie ging, sei ein junger schiitischer Journalist zunächst zum Tode und später zu 30 Jahren Haft verurteilt worden, bevor er über diplomatische Bemühungen aus Afghanistan herausgeholt worden sei (vgl. ACCORD, Expertengespräch, 04.05.2016, S. 10). [...]

41 Dies alles gilt in verschärftem Maße nach dem erfolgten Machtwechsel am 15.08.2021. Der oben geschilderte Prozess, in dessen Verlauf die Taliban gegenüber der afghanischen Regierung an Stärke und Macht gewannen, hat sich in den vergangenen Wochen in dem Maße beschleunigt, wie die alliierten Streitkräfte sich aus Afghanistan zurückzogen. Nachdem in den beiden ersten Augustwochen in immer kürzeren Abständen die Provinzhauptstädte an die Taliban gefallen waren, floh Präsident Ghani im Laufe des 15.08.2021 ins Ausland, die Taliban nahmen Kabul daraufhin kampflos ein (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl [BFA], Sonderkurzinformation der Staatendokumentation, a) Aktuelle Lage in Afghanistan, b) Hinweise für die Benützung der aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan; Der Tagesspiegel, Präsident flieht aus Afghanistan – Deutsche Botschaft geräumt, 15.08.2021; Briefing Notes des Bundesamts vom 16.08.2021). Sie fanden verlassene Polizeistationen und Ministerien vor, auch die afghanischen Streitkräfte waren geflohen. Bis auf wenige Ausnahmen (insbesondere Russland, China, Pakistan) wurden die Botschaften überstürzt geräumt und das Botschaftspersonal zum militärischen Teil des Flughafens Kabul verlegt (Der Tagesspiegel, aaO). In den folgenden zwei Wochen wurden unter Führung der amerikanischen Streitkräfte durch zahlreiche westliche Staaten unter chaotischen Umständen rund um den Kabuler Flughafen ungefähr 120.000 Menschen evakuiert (davon ca. 4.500 durch die Bundeswehr), Staatsangehörige der beteiligten Nationen sowie afghanische Staatsangehörige, die sich vor den neuen Machthabern in Sicherheit bringen wollten (Süddeutsche Zeitung, www.sueddeutsche.de/politik/afghanistan-news-talibandeutschland-1.5396664, Meldung vom 31.08.2021, abgerufen am 05.09.2021). Nach derzeitigen Angaben des Auswärtigen Amts gehe man von mehr als 40.000 zur Ausreise nach Deutschland berechtigten Afghanen, sog. Ortskräfte und ihre engsten Angehörigen, aus, die in Afghanistan zurückgeblieben sind (Erklärungen des Auswärtigen Amts in der Regierungspressekonferenz vom 30.08.2021, www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/regierungspressekonferenz/2478940).

42 Trotz einiger offizieller Verlautbarungen der Taliban, die eine gegenüber der ersten Herrschaft der Taliban gemäßigte Vorgehensweise ankündigen (siehe hierzu Deutschlandfunk Kultur, www.deutschlandfunkkultur.de/afghanistans-zukunft-taliban-predigen-emirat-light.979.de.html, 19.08.2021), gibt es bereits Meldungen seitens des UNHCR und Human Rights Watch, dass es trotz der von den Taliban verkündeten Amnestie in verschiedenen Landesteilen zu Massenhinrichtungen von früheren afghanischen Regierungsmitarbeitern und ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte gekommen sei. Außerdem sei laut UNHCR der Bewegungsspielraum von Frauen in manchen Regionen eingeschränkt worden, Mädchen dürften teilweise nicht mehr zur Schule gehen (Briefing Notes des Bundesamts vom 30.08.2021). Es spricht daher einiges dafür, dass sich das neue Taliban-Regime nicht grundsätzlich von dem früheren der Jahre1996 bis 2001 unterscheiden wird. [...]

45 Die Wirksamkeit einer nach kirchenrechtlichen Vorschriften vollzogenen Taufe und damit die Mitgliedschaft des Schutzsuchenden in der Kirchengemeinschaft darf von den Gerichten nicht in Frage gestellt werden, selbst dann, wenn der Sachvortrag zur Konversion oder die vorgelegten Unterlagen Anhaltspunkte für eine gewisse Oberflächlichkeit, für Missbräuchlichkeit oder für eine taktische Prägung des Religionsübertritts erkennen lassen, da dies zum Selbstbestimmungsrecht der Kirchen (Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV) zählt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.04.2020 - 2 BvR 1838/15 - juris, Rn. 29; a.A. insoweit BVerwG, Urteil vom 25.08.2015 - 1 B 40.15 - juris, Rn. 11 a.E.). Derartige Anhaltspunkte können jedoch in der Verfolgungsprognose berücksichtigt werden.

46 Nachdem sich auf der ersten objektiven Stufe ein extrem hohes Maß an dem Kläger drohenden Verfolgungshandlungen ergibt, bis hin zur Tötung, und dies nicht nur als Ausnahmefall, sondern als regelhafte nach der Scharia vorgesehene Strafe, sind an die zweite subjektive Stufe keine hohen Anforderungen zu stellen. Das Gericht ist nach dem glaubhaften Vortrag des Klägers bereits davon überzeugt, dass ihm aufgrund der persönlichen motivierten Anschwärzung seines ehemaligen Freundes Ahmad von den Taliban und anderen gesellschaftlichen Akteuren zumindest der Abfall vom Islam, die Apostasie, zugeschrieben wird. Darüber hinaus liegt beim Kläger zur Überzeugung des Gerichts eine echte Abwendung vom Islam und Hinwendung zum christlichen Glauben vor.

47 Bei Gesamtwürdigung der vom Kläger zu seiner Konversion gemachten Angaben und des Eindrucks, den sich das Gericht in der mündlichen Verhandlung von ihm verschaffen konnte, ist das Gericht davon überzeugt, dass der christliche Glaube, dem sich der Kläger durch seine Taufe am 01.05.2016 formal angeschlossen hat, die religiöse Identität des Klägers prägt. [...]