VG Sigmaringen

Merkliste
Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 05.11.2021 - A 1 K 5158/19 - asyl.net: M30187
https://www.asyl.net/rsdb/m30187
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für alleinerziehende Mutter zweier Kleinkinder aus Eritrea:

1. Verheiratete Frauen und Mütter sind in Eritrea vom militärischen Teil des Nationaldienstes faktisch freigestellt. Es ist zwar nicht auszuschließen, dass sie zum zivilen Teil des Nationaldienstes eingezogen werden, dort droht ihnen jedoch weder Verfolgung gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, noch ein ernsthafter Schaden gemäß § 4 Abs. 1 AsylG oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK.

2. Eine alleinerziehende Mutter zweier Kleinkinder, die über keine Berufsausbildung oder -erfahrung verfügt und deren Familienangehörige in Eritrea gerade das eigene Überleben bewerkstelligen, wird bei Rückkehr nicht in der Lage sein, ein wirtschaftliches Existenzminimum für sich und ihre Kinder zu erwirtschaften, sodass gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG das Bestehen eines Abschiebungsverbots festzustellen ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Eritrea, Nationaldienst, Frauen, Mutter, alleinerziehend, Abschiebungsverbot, Kleinkind, Kinder,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 4 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

1. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Eritrea. [...]

aa. Es kann offenbleiben, ob die Angabe der Klägerin, wenige Monat vor ihrer Ausreise aus Eritrea ein Einberufungsschreiben erhalten zu haben, der Wahrheit entspricht. Die diesbezüglichen Angaben der Klägerin waren größtenteils vage und auch wenig nachvollziehbar, nachdem die Klägerin zwar angab, sie habe zum Militärdienst herangezogen werden sollen, sei gleichzeitig aber von stattfindenden Razzien verschont geblieben, da ihr in dem Schreiben eine reichlich bemessene Frist, an die sie sich aber nicht mehr erinnern könne, eingeräumt worden sei.

Jedenfalls aber droht der Klägerin weder unter dem Aspekt einer illegalen Ausreise noch unter dem Aspekt einer drohenden Einberufung in den Nationaldienst Eritreas ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK.

Zwar wird die illegale Ausreise als solche (unabhängig von einer damit etwaig verbundenen Entziehung vom Nationaldienst) gem. Proklamation 24/1992 (Artikel 29, Absatz 2) mit einer Haftstrafe von bis zu fünf Jahren und/oder einer Geldbuße bestraft [...]. Solche Bestrafungen finden in der Praxis jedoch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit statt. [...]

Vor diesem Hintergrund ist eine Verfolgung allein aufgrund einer illegalen Ausreise bereits nicht beachtlich wahrscheinlich. Vielmehr müssen neben der illegalen Ausreise weitere Faktoren hinzukommen, die die asylsuchende Person in den Augen der eritreischen Behörden als missliebige Person erscheinen lassen [...].

Der Klägerin droht auch keine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung im Zusammenhang mit einer möglichen Einziehung in den Nationaldienst Eritreas oder gar einer möglichen Bestrafung wegen Entziehung vom Nationaldienst.

So sind nach dem oben Gesagten bereits keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass sich die Klägerin aktiv dem Nationaldienst entzogen hätte, nachdem sie - unabhängig der Glaubwürdigkeit dieser Einlassung - nach eigenen Angaben noch Zeit gehabt hätte, überhaupt erst bei der Verwaltung vorzusprechen.

Auch im Zusammenhang mit einer der Klägerin zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung drohenden Einziehung zum Nationaldienst droht dieser keine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung. So kann zwar nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass die Klägerin zum Nationaldienst herangezogen werden könnte (vgl. ausführlich: Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 21. September 2018 - 4 Bf 186/18.A -, Rn. 46-48, juris, wonach jedenfalls Frauen, die aufgrund Heirat oder Schwangerschaft „demobilisiert" wurden, im Gegensatz zu Entlassenen keine Papiere, die ihren Status außerhalb des Nationaldiensts legalisieren, bekommen), in diesem Zusammenhang droht der Klägerin aber keine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung. Denn verheiratete Frauen und Mütter - wie die Klägerin - sind jedenfalls vom militärischen Nationaldienst faktisch freigestellt [...]. Dagegen ist unklar, ob Müttern kleiner Kinder stattdessen stets die Einziehung in den zivilen Teil des Nationaldienstes droht, jedenfalls dürfte dies nicht ausgeschlossen sein [...]. Indessen rechtfertigt auch die Möglichkeit, dass der Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Eritrea eine Einberufung in den zivilen Teil des Nationaldienstes droht, nicht die Annahme einer der Klägerin drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK. Denn anders als im militärischen Teil des Nationaldienstes sind im zivilen Teil des Nationaldienstes harte Bestrafungen, Folter und Demütigungen nicht verbreitet. Auch wenn das Leben im zivilen Teil des Nationaldienstes ungeachtet dessen hart, die Besoldung schlecht und der Dienst faktisch unbegrenzter Dauer ist, sind die Arbeits- und Lebensbedingungen von Personen im zivilen Teil des Nationaldienstes mehrheitlich dieselben wie für Personen außerhalb des Nationaldienstes [...] und rechtfertigen damit nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbots [...].

bb. Allerdings liegen - gemessen an den oben genannten Maßstäben - im Falle der Klägerin besondere individuelle Umstände vor, die vorliegend zu Feststellung eines Abschiebungsverbots führen.

Nach den dem Gericht im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln besteht in Eritrea keine derart prekäre humanitäre Situation und insbesondere keine unzureichende allgemeine Versorgungslage, dass eine Rückführung dorthin in Anwendung von§ 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK generell ausgeschlossen wäre. [...]

Im Falle der Klägerin liegen jedoch außergewöhnliche individuelle Umstände vor, die vorliegend zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG führen. Die Berichterstatterin ist davon überzeugt, dass es der Klägerin aufgrund ihrer familiären Situation nicht möglich sein wird, den existenziellen Lebensunterhalt für sich und ihre Familie zu sichern. [...]

Die Klägerin ist zwischenzeitlich Mutter zweier kleiner Kinder, einer knapp dreijährigen Tochter und eines einjährigen Sohnes, mit denen sie gemeinsam in ... lebt. Der Vater der beiden Kinder ist dagegen in ... wohnhaft. In der Folge ist für die Rückkehrprognose zu unterstellen, dass die Klägerin als alleinerziehende Mutter mit ihren beiden Kindern nach Eritrea zurückkehren würde.

Zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist davon auszugehen, dass die Klägerin und ihre beiden Kinder in Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein würden. Bei einer realitätsnahen Beurteilung der - hypothetischen - Rückkehrsituation ist davon auszugehen, dass die Klägerin - alleine - zwei Kleinkinder zu versorgen hätte. Sie verfügt über keinen Schulabschluss und keinerlei Berufserfahrung, womit nicht angenommen werden kann, dass sie auf irgendeine Art und Weise den existentiellen Lebensunterhalt ihrer Familie wird sichern können. Auf die Hilfe ihrer in Eritrea verbliebenen Verwandten kann sie nicht verwiesen werden. Ihre Eltern und die minderjährige Schwester sichern sich gerade einmal selbst das Überleben, zu entfernteren Verwandten hat sie keinen Kontakt. Im Kampf um eine existenzsichernde Arbeitsstelle, die für die Klägerin als Mutter zweier Kleinkinder ohne jegliche berufliche Erfahrung nach den oben dargestellten Maßstäben ohnehin nur unter erschwerten Bedingungen zur Verfügung stehen würde, wird es der Klägerin nicht gelingen, sich gegenüber denjenigen durchzusetzen, denen die Anpassung leichter fällt, da sie mit den dortigen Verhältnissen vertraut sind oder auf ein familiäres Netzwerk zurückgreifen können, welches sie - jedenfalls in der Anfangszeit - unterstützen könnte. [...]