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VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 20.10.2021 - A 13 K 3663/19 - asyl.net: M30188
https://www.asyl.net/rsdb/m30188
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für von häuslicher Gewalt betroffene georgische Staatsangehörige:

1. Einer Frau aus Georgien und ihrem minderjährigen Sohn droht in Georgien massive Gewalt durch ihren Ex-Mann/Vater und damit ein ernsthafter Schaden gemäß § 4 Abs. 1 AsylG. Auch wenn gegen den Ex-Mann/Vater mehrfach ein Annhäherungsverbot ausgesprochen und er zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, ist der georgische Staat gemäß § 3c Nr. 3 AsylG nicht in der Lage, die Betroffenen wirksam zu schützen. Denn jener hat sie trotz Annäherungsverboten und Verurteilungen weiter bedroht.

2. Es besteht auch kein interner Schutz gemäß § 3e Abs. 1 AsylG, da der Ex-Mann immer noch das Sorgerecht für seinen Sohn hat, sodass er bei einer Rückkehr nach Georgien ihren Aufenthaltsort unschwer herausfinden könnte.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VG Stade, Urteil vom 25.03.2021 - 3 A 2387/17 - asyl.net: M29729)

Schlagwörter: Georgien, nichtstaatliche Verfolgung, geschlechtsspezifische Verfolgung, häusliche Gewalt, familiäre Gewalt, Schutzfähigkeit, interne Fluchtalternative, Sorgerecht, gemeinsames Sorgerecht, Frauen,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1, AsylG § 4 Abs. 3 S. 1, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3e Abs. 1
Auszüge:

[...]

1. Die Kläger sind gem. § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG als subsidiär Schutzberechtigte anzuerkennen. Ihnen droht in Georgien unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung durch den Ex-Mann der Klägerin zu 1, vor der der georgische Staat jedenfalls nicht in der Lage ist, wirksamen Schutz zu gewähren. [...]

aa) Die Kläger sind in diesem Zusammenhang als vorverfolgt i. S. d. Art. 4 Abs. 4 QRL anzusehen. Denn beide, insbesondere die Klägerin zu 1, haben vor ihrer Ausreise, konkret seit 2012 bis zu seiner Verhaftung im Jahre 2018, haben seitens des Ex-Mannes massive physische Verletzungen, Nachstellungen und Demütigungen erlitten. Der Einschätzung im angegriffenen Bundesamtsbescheid, wonach die erlittenen Schäden nicht die erforderliche Intensität erreichten (dort S. 6), erachtet das Gericht angesichts der glaubhaften Schilderungen der Klägerin hierzu und dem Umstand, dass der Ex-Mann der Klägerin deswegen zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde, geradezu als zynisch. Auch die im Asyl- und gerichtlichen Verfahren vorgelegten gesundheitsbezogenen Unterlagen dokumentieren, dass die Klägerin zu 1 multiple Verletzungen an Kopf und Rücken erlitten hat, die unschwer als Folgeschäden der erlittenen Misshandlungen begriffen werden können. Diese Misshandlungen waren auch ohne Zweifel geeignet und dazu gedacht, die Klägerin als Person zu erniedrigen und herabzuwürdigen. Gleiches gilt für die glaubhaft geschilderten psychischen Übergriffe durch den Ex-Mann.

bb) Der Klägerin bzw. den Klägern ist insoweit auch vor ihrer Ausreise kein wirksamer staatlicher Schutz zuteil geworden (ebenso für einen vergleichbaren Fall häuslicher Gewalt VG Stade, Urteil vom 25.03.2021 - 3 A 2387/17 - asyl.net: M29729). Die Klägerin zu 1 hat diesbezüglich glaubhaft geschildert, dass ihr Ex-Mann zwar wegen der an ihr verübten häuslichen Gewalt zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. Auch nach dieser sowie anderer Verurteilungen und diesbezüglicher Gefängnisaufenthalte - auch nach der Scheidung 2019 - hat der Ex-Mann ihren glaubhaften Ausführungen zufolge die Klägerin zu 1 gesucht und (mit dem Tode) bedroht. Zwar wurde gegen den Ex-Mann zusätzlich insgesamt fünf Annäherungsverbote erlassen, einen wirksamen Schutz hat die Klägerin zu 1 hierdurch aber nicht erhalten, da sich der Ex-Mann an diese Verbote nicht gehalten, die Klägerin zu 1 vielmehr immer wieder aufgesucht und bedroht hat. Auch der Umstand, dass der Ex-Mann von 2018 bis Januar 2021 erneut in Haft war, führt nicht dazu, dass von einem wirksamen Schutz auszugehen wäre. Denn die Haftzeit ist zwischenzeitlich vorbei und seitdem hat der Ex-Mann den glaubhaften und nachweislich belegten Einlassungen der Klägerin zu 1 zufolge versucht, über deren Mutter den Aufenthaltsort der Kläger in Erfahrung zu bringen. Die Vermutung der Wiederholung der erlittenen Vorverfolgung ist vor diesem Hintergrund keineswegs widerlegt, sie besteht vielmehr unvermindert fort. Auch insoweit erweisen sich die textbausteinhaften Ausführungen im angegriffenen Bescheid (dort S. 5) angesichts des konkreten fluchtbegründenden Vorbringens der Klägerin als nicht haltbar und geradezu zynisch.

cc) Für die Kläger besteht auch nicht die Möglichkeit, internen Schutz in Anspruch zu nehmen, § 3e AsylG. [...]

Dabei kann den Klägern zwar zugemutet werden, sich andernorts als in ... niederzulassen und dies wäre den Klägern auch wirtschaftlich/sozio-ökonomisch möglich, weil im Rahmen der realitätsnahen Rückkehrperspektive (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18 - juris) anzunehmen wäre, dass die Kläger sowie die am ... 2020 geborene Tochter nicht allein, sondern zusammen mit dem jetzigen Ehemann der Klägerin zu 1, der derzeit in Polen zur Arbeitssuche weilt, zurückkehren würden. Denn die Klägerin zu 1 hat hierzu in der mündlichen Verhandlung geäußert, dass dieser nach Georgien zurückkehren würde, falls auch die Kläger dorthin zurückkehren müssten.

Gleichwohl ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass den Klägern die Möglichkeit internen Schutzes tatsächlich offensteht. Denn es ist nicht gesichert, dass den Klägern nicht landesweit ein ernsthafter Schaden durch den Ex-Mann drohte. Mithin fehlt es an der Voraussetzung des § 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG, d. h. den Klägern droht landesweit ein ernsthafter Schaden: Zwar ist nach der stündigen Spruchpraxis des erkennenden Berichterstatters grundsätzlich davon auszugehen, dass es Rückkehrer im Falle der Verfolgung durch nichtstaatliche Dritte möglich (und zumutbar) ist, sich anonym und unbehelligt in anderen Landesteilen niederzulassen und dass dies ungeachtet der (geringen) Größe und Einwohnerzahl des Landes gilt. Selbiges gilt im vorliegenden Verfahren hingegen nicht. Denn im Verlauf der mündlichen Verhandlung hat sich ergeben, dass die Klägerin zu 1 nicht über das alleinige Sorgerecht für den Kläger zu 2 verfügt, sondern dass dies vielmehr zwischen den Eltern (auf)geteilt ist. Hieraus schließt der erkennende Berichterstatter, dass es dem Ex-Mann der Klägerin zu 1 als Sorgeberechtigten des Klägers zu 2 unschwer möglich sein würde, den Aufenthaltsort desselben in Erfahrung zu bringen. Nachdem der Ex-Mann wiederholt und nachhaltig sein Interesse, diesen Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen, "dokumentiert" hat, erscheint es beachtlich wahrscheinlich, dass er auch in Zukunft ein gesteigertes Interesse und zugleich die rechtliche wie tatsächliche Möglichkeit dazu hätte, den Aufenthaltsort der Kläger im Falle ihrer Rückkehr nach Georgien in Erfahrung zu bringen.

Angesichts dieses Risikos und der Unfähigkeit des georgischen Staates, die Kläger wirksam von dem Ex-Mann zu schützen, besteht die vermutete Verfolgungsgefahr fort, ohne dass die Kläger hiervor (staatlichen wie internen) Schutz erhalten könnten. [...]