LSG Hessen

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Zitieren als:
LSG Hessen, Beschluss vom 01.10.2021 - L 6 AS 403/21 B ER - asyl.net: M30206
https://www.asyl.net/rsdb/m30206
Leitsatz:

Kein Leistungsausschluss für EU-Staatsangehörige bei Bezug von Arbeitslosengeld I:

"Bei europarechtskonformer Auslegung von § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU spricht vieles dafür, dass das Aufenthaltsrecht des Arbeitnehmers für den Zeitraum des Bezugs von Arbeitslosengeld nach dem SGB III fortbesteht und der Arbeitnehmer in dieser Zeit nicht dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II unterfällt."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: EU-Staatsangehörige, Arbeitslosigkeit, Aufenthaltsrecht, Freizügigkeitsrecht, freizügigkeitsberechtigt, Leistungsausschluss, ALG-1, Arbeitslosengeld I
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2, FreizügG/EU § 2 Abs. 3 S. 2, SGB III § 137 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Es erscheint als hinreichend wahrscheinlich, dass der Antragsteller gestützt auf §§ 7 ff. SGB II in der Hauptsache erfolgreich einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II wird geltend machen können. [...]

ee) Weiter steht dem Anordnungsanspruch nach den Erkenntnissen im Eilverfahren kein Ausschlusstatbestand entgegen; namentlich gilt dies für die Regelung aus § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 b) SGB II, wonach Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, vom Bezug von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen sind. Die Vorschrift ist nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen Prüfung derzeit nicht einschlägig, weil sich der Antragsteller auf die unionsrechtlich durch Art. 45 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und innerstaatlich durch § 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 FreizügigG/EU gewährleistete Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen kann. [...]

Der Antragsteller hat zuletzt eine abhängige Tätigkeit ausgeübt und mit dieser Tätigkeit in den Monaten November 2020 bis März 2021 einen Bruttoverdienst zwischen 805,93 Euro und 1.158,13 Euro monatlich erzielt. Damit ist er aufgrund der erzielten Vergütung unzweifelhaft als Arbeitnehmer im Sinne der oben genannten Grundsätze einzustufen.

Nach den Erkenntnissen des Eilverfahren besteht das Aufenthaltsrecht des Antragstellers auch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses über den 12. März 2021 fort. [...]

Der Senat geht nach derzeitigem Kenntnisstand davon aus, dass sich der Antragsteller sich auf § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU berufen können wird. Bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung bleibt gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU das Recht aus § 2 Abs. 1 FreizügG/EU während der Dauer von sechs Monaten unberührt.

Der Senat ist der Ansicht, dass – nach den Erkenntnissen des Eilverfahrens – diese Voraussetzungen vorliegen. Hierfür sprechen folgende Umstände: Zum einen bezieht der Antragsteller derzeit Arbeitslosengeld nach dem SGB III. Die Beigeladene hat zwar eine Sperrzeit für eine verspätete Arbeitslosenmeldung verhängt, nicht jedoch eine Sperrzeit wegen Arbeitsaufgabe (§ 159 Abs. 1 Nr. 1 SGB III). Insoweit wird auf die Akte der Beigeladenen verwiesen. Zum anderen ist für die Bestätigung über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit die Beigeladene zuständig. Nur in Fällen, in denen keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld erworben wurde, ist für das Ausstellen der Bescheinigung das Jobcenter und nicht die Agentur für Arbeit zuständig (Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 2 FreizügG/EU, Rn. 130). Die Beigeladene hat am 19. August 2021 bescheinigt, dass unfreiwillige Arbeitslosigkeit im Hinblick auf die letzte Beschäftigung vorliege (Bl. 166 VA).

Darüber hinaus ist der Erhalt der Erwerbstätigeneigenschaft an den Nachweis gebunden, dass der Betroffene zur Verfügung steht oder fähig ist zur Ausübung einer beruflichen Tätigkeit und damit zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt binnen angemessener Frist (Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 2 FreizügG/EU, Rn. 130). Aufgrund des Arbeitslosengeldbezuges nach dem SGB III geht der Senat im Rahmen des Eilverfahrens davon aus, dass diese Voraussetzungen aktuell erfüllt sind, so dass die Freizügigkeitsberechtigung des Antragstellers mindestens bis zum 12. September 2021 fortbestanden hat.

Rechtlich nicht abschließend geklärt ist die - hiesige - Konstellation, bei der ein nicht bedarfsdeckender Leistungsanspruch nach dem SGB III gegenüber der Beigeladenen länger besteht als die Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU. [...]

Daher spricht bei europarechtskonformer Auslegung von § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU vieles dafür, dass das Aufenthaltsrecht des Arbeitnehmers unter Zugrundelegung einer angemessenen Frist fortbesteht. [...]