VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Beschluss vom 08.09.2021 - 4 L 1411/21.KS - asyl.net: M30209
https://www.asyl.net/rsdb/m30209
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Einreise- und Aufenthaltsverbot:

"1. Die Klage gegen die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 und 2 AufenthG entfaltet gem. § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG keine aufschiebende Wirkung.

2. Ist die Ausweisungsverfügung – derzeit – nicht vollziehbar, kann dem Betroffenen nicht allein auf Grund der Ausweisung der weitere Aufenthalt im Bundesgebiet verboten und für den Fall einer – auch freiwilligen – Ausreise die Einreise verboten werden, solange die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausweisungsverfügung andauert.

3. Einer inzidenten Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung bedarf es in diesem Fall nicht.

4. Die Behörde kann daher entweder bereits bei Erlass des Einreise- und Aufenthaltsverbots dessen Vollzieh­barkeit in Form einer Bedingung von der Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung abhängig machen, oder gem. § 80 Abs. 4 VwGO die Vollziehung nach Eingang des Eilverfahrens aussetzen."

(Amtliche Leitsätze; teilweise entgegen OVG Sachsen, Beschluss vom 14.08.2018 - 3 B 159/18 - asyl.net: M26601)

Schlagwörter: Ausweisung, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Sofortvollzug, Vollziehbarkeit, vorläufiger Rechtsschutz, aufschiebende Wirkung, Suspensiveffekt,
Normen: AufenthG § 11 Abs. 1, AufenthG § 84 Abs. 1 Nr. 7, VwGO § 80 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

1) a) Der Antrag ist unzulässig, soweit er sich auf die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ausweisungsverfügung (Ordnungspunkt 1 des Bescheides vom 21. Juli 2021) richtet.

Dem Antragsteller fehlt insoweit das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO. Denn die Klage gegen die Ausweisungsverfügung entfaltet bereits aufschiebende Wirkung, § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Ein gesetzlicher Ausschluss der aufschiebenden Wirkung gem. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 VwGO besteht nicht; die Ausweisungsverfügung wird nicht vom Katalog der in § 84 Abs. 1 AufenthG genannten Maßnahmen umfasst. Die Antragsgegnerin hat die aufschiebende Wirkung der Klage auch nicht durch eine Anordnung der sofortigen Vollziehung gem. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ausgeschlossen, weshalb auch eine gerichtliche Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO nicht in Betracht kommt. Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Antragsgegnerin entgegen der gesetzlichen Regelung von einer sofortigen Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung ausgeht, weshalb auch eine Feststellung der aufschiebenden Wirkung nicht in Betracht kommt. [...]

2) Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbotes aufgrund der Ausweisung (Ordnungspunkt 2 des Bescheides vom 21. Juli 2021) ist zulässig und begründet.

Die Klage gegen die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 und 2 AufenthG entfaltet gem. § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG keine aufschiebende Wirkung. [...]

Die Anordnung in Ordnungspunkt 2 des Bescheides vom 21. Juli 2021 erweist sich als – derzeit – rechtswidrig, so dass das Aussetzungsinteresse des Antragstellers gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Vollziehung überwiegt. Denn die dieser Verfügung zugrundeliegende Ausweisung ist derzeit nicht vollziehbar. Damit aber kann – trotz der grundsätzlich bestehenden Wirksamkeit der Ausweisung gem. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG – dem Antragsteller nicht allein auf Grund der Ausweisung der weitere Aufenthalt im Bundesgebiet verboten und für den Fall einer – auch freiwilligen – Ausreise die Einreise verboten werden, solange die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausweisungsverfügung andauert.

Zwar wird in der Rechtsprechung vertreten, dass in Fallgestaltungen wie diesen bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Anordnung eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots aufgrund der Ausweisung die zugrundeliegende Ausweisung inzident auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen sei (Nds. OVG, Beschluss vom 23. Februar 2021 – 8 ME 126/20 –, juris Rn. 8; vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21. Januar 2020 – 11 S 3477/19 –, juris Rn. 30; Sächs. OVG, Beschluss vom 14. August 2018 – 3 B 159/18 –, juris Rn. 14; Bay. VGH, Beschluss vom 24. Juli 2017 – 19 CS 16.2376 –, juris Rn. 4). Dieser Ansicht liegt die Überlegung zugrunde, durch das Einreise- und Aufenthaltsverbot komme es zu einem mittelbaren Vollzug der Ausweisungsverfügung. Effektiver Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG sei daher nur dann gewahrt, wenn die Ausweisung im Eilverfahren gegen das Einreise- und Aufenthaltsverbot geprüft werde.

Einer inzidenten Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung bedarf es indes nicht. Vielmehr ist es aus Sicht der Kammer nach der 2019 erfolgten Neuregelung des § 11 Abs. 1 AufenthG Aufgabe der Ausländerbehörde, bei der – gem. § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung zu erlassenden – Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbotes die (ggf. fehlende) Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung zu berücksichtigen. Steht die Ausweisungsverfügung an sich nicht unter der gesetzlichen Anordnung des Sofortvollzuges (§ 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 84 Abs. 1 AufenthG), muss sich diese Entscheidung des Gesetzgebers auf behördliche Vollzugsmaßnahmen auswirken, die an die Ausweisung anknüpfen. Dem steht auch die Regelung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht entgegen, wonach die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage gegen eine Ausweisungsverfügung ihre Wirksamkeit unberührt lässt. Denn im Unterschied zur alten Regelung ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot gerade keine gesetzliche – nur an die Wirksamkeit der Ausweisungsverfügung anknüpfende – Folge mehr, sondern ergeht aufgrund behördlicher Entscheidung. Für diese Ansicht spricht auch die Regelung des § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG, wonach eine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nicht eintritt, wenn der Verwaltungsakt, durch den die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendet wurde, durch eine behördliche oder unanfechtbare gerichtliche Entscheidung aufgehoben wird. Der Gesetzgeber geht also davon aus, dass eine rückwirkende Wiederherstellung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts möglich ist. Dies ist allerdings faktisch dann nicht möglich, wenn der Betroffene aufgrund des Einreiseverbotes nicht einreisen darf oder sein weiterer Aufenthalt im Bundesgebiet unter der erhöhten Strafandrohung des § 95 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. b AufenthG steht. Da diese Folgen allein an die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes anknüpfen, kommt dessen Anordnung einer – aufgrund der aufschiebenden Wirkung der Klage allerdings nicht mehr möglichen – Vollziehung der Ausweisungsverfügung gleich. Da der Gesetzgeber sich jedoch entschieden hat, die Ausweisungsverfügung nicht in den Katalog der die aufschiebende Wirkung einer Klage ausschließenden Tatbestände des § 84 Abs. 1 AufenthG aufzunehmen, darf diese Wertung nicht dadurch umgangen werden, dass das kraft Gesetz sofort vollziehbare Einreise- und Aufenthaltsverbot ohne Einschränkung auf die Vollziehbarkeit der Ausweisung angeordnet wird. Die in der Rechtsprechung vorgesehene Inzidentprüfung der Ausweisung im Rahmen eines Eilverfahrens gegen die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes kann hierbei nicht in gleicher Weise effektiven Rechtsschutz gewährleisten. Denn in diesem Rahmen wird nicht geprüft, ob die ansonsten für die Anordnung des Sofortvollzugs einer Ausweisung notwendige Eilbedürftigkeit der Ausweisungsverfügung (die zudem von der Behörde schriftlich begründet werden müsste, § 80 Abs. 3 VwGO) besteht. Wenn aber keine Gründe ersichtlich sind, die Ausweisung vor Abschluss des gerichtlichen Verfahrens zu vollziehen, darf dies nicht durch den unmittelbaren Vollzug im Wege des Einreise- und Aufenthaltsverbotes umgangen werden.

Die Behörde kann daher entweder bereits bei Erlass des Einreise- und Aufenthaltsverbots dessen Vollziehbarkeit in Form einer Bedingung von der Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung abhängig machen, oder gem. § 80 Abs. 4 VwGO die Vollziehung nach Eingang des Eilverfahrens aussetzen.

Da die Antragsgegnerin die Anordnung im zweiten Punkt ihrer Verfügung nicht unter die Bedingung der Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung gestellt hat oder die Vollziehung des Ordnungspunktes ausgesetzt hat, ist insoweit die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. [...]