OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 29.10.2021 - 4 MB 50/21 - asyl.net: M30211
https://www.asyl.net/rsdb/m30211
Leitsatz:

Besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1a AufenthG auch bei Gesamtstrafenbildung:

"1. Das nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG geforderte Mindestmaß einer Freiheits- oder Jugendstrafe kann auch durch die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe erreicht werden, solange es sich um eine einzige Strafe handeln. Eine solche Verurteilung liegt auch bei einer Verurteilung in Tatmehrheit i.S.d. § 53 StGB oder bei einer nachträglichen Gesamtstrafe nach § 55 StGB vor.

2. "Eine im Mindestmaß erhöhte Freiheitsstrafe" i.S.d. § 54 Abs. 1 Nr. 1a lit d Alt. 1 AufenthG liegt schon dann vor, wenn das Gesetz für die Tat eine Freiheitsstrafe vorsieht, deren Mindestmaß über das allgemein nach § 38 Abs. 2 StGB vorgesehene Mindestmaß von einem Monat hinausgeht.

3. Zur Gefahrenprognose nach § 53 Abs. 1 AufenthG nach Straftaten im Rahmen einer Beschaffungs­kriminalität wegen Betäubungsmittelabhängigkeit und der Glaubhaftmachung einer Therapiebereitschaft."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisung, Straftat, Freiheitsstrafe, Gesamtstrafe, Prognose, Tatmehrheit,
Normen: AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 1a, StGB § 53, StGB § 55, StGB § 38 Abs. 2, AufenthG § 53 Abs. 1
Auszüge:

[...]

12 b. Weiter hat das Verwaltungsgericht die im Strafurteil vom ... 2019 ausgesprochene Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten berücksichtigt. Das Mindestmaß von einem Jahr Freiheitsstrafe könne auch durch eine nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe erreicht werden, wenn sich die Teilstrafen auf Taten bezögen, die von § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG erfasst würden. So verhalte es sich mit der einbezogenen Freiheitsstrafe von vier Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Lübeck vom ... 2018; sie beziehe sich auf einen Diebstahl mit Waffen gemäß § 244 Abs. 1 Nr. 1a StGB und erfülle den Tatbestand des § 54 Abs. 1 Nr. 1a lit. d AufenthG. Der dagegen erhobene Einwand des Antragstellers, dass die einbezogene Straftat an der Gesamtstrafe einen Anteil von mindestens einem Jahr haben müsse und dieser Anteil nicht erreicht werde, stellt die Richtigkeit der Entscheidung nicht in Frage. [...]

13 Nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG erfordert die Annahme eines besonders schweren Ausweisungsinteresses eine rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten. Ebenso wie bei § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG kann das Mindestmaß auch durch die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe erreicht werden, solange es sich um eine einzige Strafe handeln. Eine solche Verurteilung liegt auch bei einer Verurteilung in Tatmehrheit i.S.d. § 53 StGB oder bei einer nachträglichen Gesamtstrafe nach § 55 StGB vor [...]. So liegt es hier. Der Antragsteller wurde einerseits wegen mehrerer vorsätzlicher Straftaten (§ 53 StGB) – und zwar des Diebstahls in drei Fällen und dies jeweils in einem besonders schweren Fall (einmal § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und dreimal § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StGB) – verurteilt. Die Einzelstrafen betrugen sechs, sechs und vier Monate. In das Urteil einbezogen wurde andererseits gemäß § 55 StGB die Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Lübeck vom 1. Juni 2018 von vier Monaten. Aus diesen mehreren Straftaten hat das Amtsgericht eine Gesamtstrafe von einem Jahr und zwei Monaten gebildet, so dass das Mindestmaß des § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG erfüllt ist.

14 Soweit das VG München (a.a.O.) ausführt, dass die einbezogene Straftat an der Gesamtstrafe einen Anteil von mindestens einem Jahr haben müsse, bezieht es sich auf den – hier nicht gegebenen – Fall, in dem die Verurteilung nicht nur wegen Taten erfolgt, die von § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG erfasst sind, sondern zugleich auch wegen anderweitiger Taten. [...]

15 Diese Überlegung wird jedoch nicht relevant, wenn die Gesamtstrafe durchgehend für vorsätzliche Straftaten gebildet wird, die von § 54 Abs. 1 Nr. 1 bzw. 1a AufenthG erfasst werden. Hiervon ist vorliegend nicht nur in Bezug auf die Vorsatztaten, sondern auch sonst auszugehen. Weder macht die Beschwerde Gegenteiliges geltend noch drängt sich eine andere Betrachtung auf. Straftaten gegen das Eigentum, für die das Gesetz "eine im Mindestmaß erhöhte Freiheitsstrafe vorsieht" (§ 54 Abs. 1 Nr. 1a lit d Alt. 1 AufenthG), dürften vielmehr schon dann vorliegen, wenn das Gesetz für die Tat eine Freiheitsstrafe vorsieht, deren Mindestmaß über das allgemein nach § 38 Abs. 2 StGB vorgesehene Mindestmaß von einem Monat hinausgeht. [...]

17 2. Für die nach § 53 Abs. 1 AufenthG anzustellende Gefahrenprognose hat das Verwaltungsgericht aus dem Vorleben des Antragstellers, den Ausführungen des Amtsgerichts Lübeck in seinem Urteil vom 16. April 2019 zur Frage einer Strafaussetzung zur Bewährung (S. 13) sowie aus der letzten Stellungnahme der JVA Kiel vom 9. April 2021 auf eine Wiederholungsgefahr geschlossen. Vor dem Hintergrund seiner Betäubungsmittelabhängigkeit erscheine ein Rückfall des Antragstellers in vorherige Verhaltensweisen wahrscheinlich. [...]

20 Zur Darlegung eines ernstzunehmenden Therapiewillens, der schon jetzt darauf schließen lassen soll, dass in Zukunft nicht mehr mit der Begehung von Straftaten zu rechnen sei, hätte ein schlüssiger Vortrag zur Motivation des Antragstellers auch durch einen Vortrag zum organisatorischen Vorlauf für die Aufnahme in der Selbsthilfeeinrichtung ergänzt werden können. [...]