LG Hamburg

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Zitieren als:
LG Hamburg, Beschluss vom 23.11.2021 - 329 T 33/18 - asyl.net: M30216
https://www.asyl.net/rsdb/m30216
Leitsatz:

Dublin-Haft vor August 2019 mangels Rechtsgrundlage rechtswidrig:

1. Vor dem Inkrafttreten des sogenannten "Geordnete-Rückkehr-Gesetz" im August 2019 existierte keine Rechtsgrundlage zur Inhaftierung zwecks Sicherstellung einer Dublin-Rückführung.

2. Eine Rechtsgrundlage lag insbesondere nicht in § 62 Abs. 5 AufenthG a.F., da diese Regelung sich explizit nur auf die Sicherungshaft nach § 62 Abs. 3 AufenthG a.F. bezieht. Einer analogen Heranziehung einer Ermächtigungsgrundlage für Freiheitsentziehungen steht Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG entgegen. 

(Leitsätze der Redaktion; anschließend an LG Braunschweig, Beschluss vom 02.10.2019 - 8 T 594/19 - asyl.net: M27690)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Überstellungshaft, ordnungsgemäße Ladung, Prozessbevollmächtigte, Rechtsanwalt, faires Verfahren, Terminsladung, Ingewahrsamnahme, Dublin III-Verordnung, Rechtsgrundlage, behördliche Festnahme, Geordnete-Rückkehr-Gesetz, Regelungslücke, Abschiebungshaft,
Normen: AufenthG § 2 Abs. 14 S. 3, AufenthG § 62 Abs. 5 S. 1 a.F., GG Art. 104 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde des Betroffenen hat Erfolg.

Die Beschwerde ist zulässig gemäß §§ 58 ff. FamFG i.V.m. § 428 Abs. 2 FamFG.

Die Beschwerde ist auch begründet, da die Ingewahrsamnahme des Betroffenen vom Zeitpunkt seiner Festnahme am 4.11.2016 bis zum Erlass des Haftbeschlusses des Amtsgerichts vom selben Tage rechtswidrig und der Betroffene hierdurch in seinen Rechten verletzt war. Es kann entgegen der Beschwerdebegründung dahinstehen, ob es sich um eine geplante oder spontane Festnahme handelte. Die behördliche Freiheitsentziehung des Betroffenen in der Zeit zwischen der Festnahme am 4.11.2016 und dem Erlass des Haftbeschlusses des Amtsgerichts Hamburgs verstieß bereits mangels Ermächtigungsgrundlage gegen Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG.

Im Rahmen des § 428 Abs. 1 Satz 1 FamFG bedarf es stets einer materiellen Ermächtigungsgrundlage für die Verwaltungsmaßnahme. Zum Zeitpunkt der Ingewahrsamnahme fehlte eine solche hinreichende Rechtsgrundlage im Sinne des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl. so bereits Beschluss der Kammer vom 18. Juni 2020 - 329 T 67/18 - und auch LG Braunschweig, Beschluss vom 02. Oktober 2019 - 8 T 594/19 -; LG Osnabrück, Beschluss vom 12. November 2019 - 11 T 360/19 -; LG Landshut, Beschluss vom 02. Oktober 2020 - 62 T 2958/20 -, juris). Eine Rechtsgrundlage für die vorläufige behördliche Ingewahrsamnahme befand sich nicht in §§ 427, 428 Abs. 1 Satz 1 FamFG i.V.m. § 62 Abs. 5 AufenthG a.F, da der § 62 Abs. 5 AufenthG a.F. ausdrücklich nur auf die Sicherungshaft gemäß § 62 Abs. 3 AufenthG a.F. Anwendung findet. Eine Rechtsgrundlage für die vorläufige behördliche Ingewahrsamnahme in Verfahren nach der Dublin-III-Verordnung lag zum Zeitpunkt der Ingewahrsamnahme am 4.11.2016 noch nicht vor. Die derartige Regelungslücke wurde erst nachträglich mit dem Geordnete-Rückkehr-Gesetz durch Einführung des § 2 Abs. 14 Satz 3 AufenthG in der Fassung vom 19. August 2019 geschlossen (vgl. BT-Drucks. 19/10047, S. 30). Die Regelungslücke konnte auch nicht durch eine analoge Anwendung des § 62 Abs. 5 AufenthG geschlossen werden. Einer analogen Heranziehung materiell-rechtlicher Ermächtigungsgrundlagen für Freiheitsentziehungen steht Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG grundsätzlich entgegen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.5. 2007 - 2 BvR 2106/05, NVwZ 2007, 1296 m.w.Nw.). [...]