OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 20.08.2021 - 2 M 89/21 - asyl.net: M30226
https://www.asyl.net/rsdb/m30226
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz für die Erteilung einer Duldung wegen Versorgung eines pflegebedürftigen erwachsenen Kindes:

Aus der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG folgt, dass eine vollziehbar ausreisepflichtige drittstaatsangehörige Person grundsätzlich ein Rechtsschutzbedürfnis für eine gerichtliche Entscheidung besitzt, mit der die Abschiebung vorläufig untersagt wird. Dies gilt auch dann, wenn noch nicht alle tatsächlichen Voraussetzungen für die Durchführung der Abschiebung erfüllt sind.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Duldung aus rechtlichen Gründen, familiäre Beistandsgemeinschaft, pflegebedürftig, Rechtsschutzinteresse, Rechtsschutzbedürfnis, einstweilige Anordnung, vorläufiger Rechtsschutz, Schutz von Ehe und Familie, Abschiebung,
Normen: GG Art. 19 Abs. 4, GG Art. 6, EMRK Art. 8, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

Nach § 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG darf einem Ausländer nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise der Termin der Abschiebung nicht mehr angekündigt werden, d.h. er hat ab diesem Zeitpunkt jederzeit mit dem Vollzug der Abschiebung zu rechnen. Demzufolge besitzt er nach Ablauf der Ausreisefrist grundsätzlich auch ein Rechtsschutzinteresse für die Erlangung vorläufigen Abschiebungsschutzes. Ein Anordnungsgrund für den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der der Ausländerbehörde aufgegeben werden soll, Abschiebemaßnahmen zu unterlassen, könnte einem betroffenen Ausländer in dieser Situation lediglich dann fehlen, wenn - auch für ihn - feststünde, dass aufgrund besonderer Umstände, die im behördlichen Verfahren oder in der Sphäre des Antragstellers wurzeln, jetzt und in absehbarer Zeit (einige Wochen reichen hierfür nicht aus) die Abschiebung nicht vollzogen wird. Denn die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG verpflichtet nicht zum Erlass einer einstweiligen Anordnung gewissermaßen "auf Vorrat", die aller Voraussicht nach durch die weitere Entwicklung des Sachverhalts überholt wird und die noch zu einem späteren Zeitpunkt problemlos beantragt werden kann. Abgesehen von diesem Sonderfall folgt jedoch aus der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, dass der betroffene Ausländer jederzeit ein rechtliches Interesse an einer gerichtlichen Entscheidung besitzt, mit der die Abschiebung vorläufig untersagt wird. Dies gilt typischerweise selbst dann, wenn die Abschiebung nicht unmittelbar bevorsteht, weil noch nicht alle tatsächlichen Voraussetzungen für deren Durchführung erfüllt sind und beispielsweise noch Pass- oder Passersatzpapiere des Betroffenen fehlen, denn der Sinn von § 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG liegt nicht darin, einem ausreisepflichtigen Ausländer die Möglichkeit zu nehmen, eine vollziehbar angeordnete Abschiebung durch einen gerichtlichen Eilantrag zu verhindern. Es bleibt ihm daher im Rahmen der zeitlichen Möglichkeiten vor der nicht mehr anzukündigenden Abschiebung jederzeit unbenommen, gegen diese beim Verwaltungsgericht vorläufigen Rechtsschutz zu begehren (vgl. BayVGH, Beschluss vom 26. November 2018 - 19 CE 17.2453 - juris Rn. 15; Beschluss des Senats vom 15. Juni 2021 - 2 M 43/21 - juris Rn. 18).

Gemessen daran fehlt der Antragstellerin das Rechtsschutzbedürfnis für ihren Antrag nicht. Zwar war sie zum Zeitpunkt der Antragstellung beim Verwaltungsgericht am 3. Juni 2021 im Besitz einer Duldung, die nach dem Schreiben der Antragsgegnerin vom 25. Januar 2021 bis zum 27. Juli 2021 weiterhin gültig sein sollte. Nach der Nebenbestimmung zu der ursprünglich am 9. Juli 2020 erteilten Duldung sollte diese jedoch "mit Bekanntgabe der Abschiebung" erlöschen. Darüber hinaus bestimmt § 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG, dass die Duldung widerrufen wird, wenn die der Abschiebung entgegenstehenden Gründe entfallen. Vor diesem Hintergrund hatte die Antragstellerin im Zeitpunkt der Antragstellung ein anzuerkennendes Interesse an einem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gegen eine drohende Abschiebung, denn die Antragsgegnerin hatte mit Schreiben vom 23. März 2021 die Einleitung der Abschiebung für den Fall angekündigt, dass die Antragstellerin das Bundesgebiet nicht bis zum 23. April 2021 verlässt. Darüber hinaus hatte die Antragsgegnerin nach Abschluss des Verfahrens 1 B 156/21 HAL auf das Schreiben der Antragstellerin vom 18. Mai 2021, mit dem diese um Anerkennung ihres Anspruchs auf Duldung gebeten hatte, zunächst nicht reagiert. Die Antragstellerin musste vor diesem Hintergrund am 3. Juni 2021 jederzeit damit rechnen, dass die Antragsgegnerin erneut versuchen wird, sie in die Russische Föderation abzuschieben, weil eine unmissverständliche Anerkennung ihres Rechtsanspruchs auf eine weitere Duldung nicht vorlag. [...]

Das Rechtsschutzinteresse der Antragstellerin ist jedoch deshalb mit dem Schreiben der Antragsgegnerin vom 8. Juni 2021 nicht weggefallen, weil auch hiermit keine unmissverständliche Anerkennung ihres Rechtsanspruchs auf (weitere) Duldung erfolgt ist. Aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK ergeben sich aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen, die eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung begründen können, also ein von der Ausländerbehörde zu beachtendes inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, wenn ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe des anderen Familienmitglieds angewiesen ist und diese Hilfe sich nur in der Bundesrepublik Deutschland erbringen lässt. Kann der Beistand nur in der Bundesrepublik Deutschland geleistet werden, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück (vgl. VGH BW, Beschluss vom 28. März 2019 - 11 S 623/19 - juris Rn. 14). Hiernach kommt es für einen Anspruch der Antragstellerin auf Erteilung einer Duldung nach § 60a AufenthG wegen der Pflege ihres Sohnes nicht darauf an, ob dieser im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist, sondern allein darauf, ob dieser auf die Pflege durch die Antragstellerin angewiesen ist und sich diese Hilfe nur in der Bundesrepublik Deutschland erbringen lässt, weil dem Sohn der Antragstellerin ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist. Diesen Duldungsanspruch der Antragstellerin hat die Antragsgegnerin wegen des Vorbehalts, dass die Duldung (nur) erfolge, solange der Sohn der Antragstellerin im Besitz eines Aufenthaltstitels sei, auch mit dem Schreiben vom 8. Juni 2021 nicht anerkannt, so dass es der vom Verwaltungsgericht erlassenen einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO bedurfte. [...]