VG Leipzig

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Zitieren als:
VG Leipzig, Urteil vom 08.09.2021 - 1 K 675/20.A - asyl.net: M30227
https://www.asyl.net/rsdb/m30227
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Ehepaar aus Venezuela wegen oppositioneller Aktivitäten:

1. Aufgrund der glaubhaft gemachten Verfolgung wegen oppositioneller Aktivitäten ist den Betroffenen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

2. Es ist nicht davon auszugehen, dass im vorliegenden Fall neben der venezolanischen auch die kolumbianische Staatsangehörigkeit vorliegt.

3. Wer als Kind eines kolumbianischen Elternteils im Ausland geboren wird, erwirbt die kolumbianische Staatsangehörigkeit durch die Wohnsitznahme in Kolumbien oder die Registrierung bei einer kolumbianischen Auslandsvertretung. Dies setzt jedoch voraus, dass die kolumbianische Abstammung nachgewiesen werden kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Venezuela, Kolumbien, Staatsangehörigkeit, politische Verfolgung, Opposition, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

1. Der Kläger zu 1. und die Klägerin zu 2. haben einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Denn diese haben Venezuela vorverfolgt verlassen. [...]

Gemessen hieran ist dem Kläger zu 1. und der Klägerin zu 2. die Flüchtlingseigenschaft als internationaler Schutztitel gemäß § 3 Abs. 4 AsylG zuzuerkennen. Nach persönlicher Anhörung des Klägers zu 1. und der Klägerin zu 2. im Termin der mündlichen Verhandlung ist das Gericht davon überzeugt, dass sich diese aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen der ihnen zugeschriebenen politischen Überzeugung gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG außerhalb ihres Herkunftslandes befinden und in dieses absehbar nicht zurückkehren können.

a) Das Gericht ist nach persönlicher Anhörung des Klägers zu 1. im Termin der mündlichen Verhandlung – wie auch insoweit das Bundesamt - davon überzeugt, dass der Kläger zu 1. in Venezuela aufgrund seiner politischen Betätigung verfolgt wurde. [...]

Dem Kläger zu 1. kann auch nicht eine etwaige Staatsangehörigkeit Kolumbiens entgegengehalten werden, worauf das Bundesamt die Ablehnung der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft maßgeblich und allein gestützt hat. Zwar kommt eine positive Entscheidung im Falle mehrerer Staatsangehörigkeiten grundsätzlich nur in Betracht, wenn für alle diese Staaten die Voraussetzungen vorliegen. Die Subsidiarität des internationalen Schutzes ergibt sich unter anderem aus Art. 4 Abs. 3 e) Qualifikationsrichtlinie, nach der bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz die Frage zu berücksichtigen ist, ob vom Asylbewerber vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er den Schutz eines anderen Staates in Anspruch nimmt, dessen Staatsangehörigkeit er für sich geltend machen kann.

Entgegen der Auffassung der Beklagten kann der Kläger zu 1. im Ergebnis der mündlichen Verhandlung aber nicht auf die kolumbianische Staatsangehörigkeit verwiesen werden.

Zutreffend weist die Beklagte zwar zunächst darauf hin, dass das Staatsangehörigkeitsrecht von Kolumbien jedenfalls seit der Verfassung vom 4.7.1991 die doppelte Staatsangehörigkeit zulässt und kolumbianischen Staatsangehörigen durch Geburt die Staatsangehörigkeit nicht entzogen werden kann. Durch Geburt erwirbt nach Art. 96 Ziffer 1 Verfassung die kolumbianische Staatsangehörigkeit u. a., wer im Ausland als Kind eines kolumbianischen Staatsangehörigen geboren ist und später in Kolumbien seinen Wohnsitz nimmt oder sich in einem kolumbianischen Konsulat registrieren lässt (vgl. ELBIB vfst, Verlag für Standesamtswesen GmbH, Standesamt und Ausländer/Kolumbien, www.vfst.de). In derartigen Fällen besteht daher grundsätzlich ein Rechtsanspruch auf Erhalt der Staatsangehörigkeit. Beim Kläger zu 1. liegen jedoch gravierende Anhaltspunkte dafür vor, dass ihm die Staatsangehörigkeit verwehrt werden wird. Es steht bereits nicht fest, dass die Mutter des Klägers im Zeitpunkt seiner Geburt im März 1974 – noch – über die kolumbianische Staatsangehörigkeit verfügte. Hierzu hat der Kläger zu 1. in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, seine Schwester habe bereits versucht, sich in Kolumbien einbürgern zu lassen. Dies sei aber nicht gegangen, weil insbesondere die Geburtsurkunde seiner Mutter gefehlt und diese auch keinen kolumbianischen Pass gehabt habe. Seine Mutter lebe in Kolumbien mit ihrem venezolanischen Pass. Seine Schwester habe nicht nachweisen können, dass seine Mutter die kolumbianische Staatsangehörigkeit besitze. Seine Mutter, die Anfang der 1970er Jahre ohne jegliche Papiere als Vertriebene nach Venezuela gekommen sei, habe in Venezuela zunächst einen Vertriebenenausweis gehabt und dann einen Pass erhalten. Seine Mutter, die auf dem Land aufgewachsen sei, habe keine Dokumente für Kolumbien gehabt. Diese sei vor ca. 10 Jahren in Venezuela eingebürgert worden. Somit kann beim Kläger zu 1. nicht davon ausgegangen werden, dass dieser durch eine einfache Registrierung die kolumbianische Staatsangehörigkeit erhalten kann. Bereits aufgrund dieser vorliegenden Erschwernisse erweist es sich als unbillig, den Kläger zu 1. auf die kolumbianische Staatsangehörigkeit zu verweisen und eine Subsidiarität des eigentlich zuzuerkennenden Flüchtlingsstatus zu bejahen.

Vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass dem auch die persönliche Situation des Klägers zu 1. und seiner Familie entgegenstehen dürfte. Art. 4 Abs. 3 e) der Qualifikationsrichtlinie, auf die sich die Beklagte maßgeblich beruft, bestimmt, dass der Schutz des anderen Staates, dessen Staatsangehörigkeit der Asylantragsteller hat, "vernünftiger Weise" erwartet werden muss. Dies dürfte – wie auch bei der inländischen Fluchtalternative (siehe Art. 8 Qualifikationsrichtlinie) – daher nicht nur die Prüfung implizieren, ob Schutz vor Verfolgung besteht, sondern auch, ob die Betroffenen dort ihr Existenzminimum sichern können. Denn nur dann kann die Inanspruchnahme des Schutzes des anderen Staates vernünftigerweise erwartet werden. Daher dürften die Gesichtspunkte, die die Beklagte im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Kolumbiens geprüft und im Ergebnis zutreffend bejaht hat, bereits an dieser Stelle zu prüfen sein, mit der Folge, dass es auch insoweit unbillig wäre, den Kläger zu 1. auf die kolumbianische Staatsangehörigkeit zu verweisen. Vertiefender Ausführungen hierzu bedarf es jedoch nicht, da bereits nicht anzunehmen ist, dass der Kläger ohne weiteres die kolumbianische Staatsangehörigkeit erhalten kann, da bereits die kolumbianische Staatsangehörigkeit der Mutter, die der Kläger auch zu keinem Zeitpunkt behauptet hat, aufgrund fehlender Unterlagen und damit einhergehender besonderer, vom Normalfall abweichender, Erschwernisse nicht nachgewiesen werden kann. Im Rahmen der Anhörung beim Bundesamt hat der Kläger nur erwähnt, dass seine Mutter in Kolumbien geboren sei, nicht aber, dass diese die entsprechende Staatsangehörigkeit besitze. Insoweit ist der Vortrag auch nicht widersprüchlich.

b) Im Ergebnis der mündlichen Verhandlung ist auch zugunsten der Klägerin zu 2. die Flüchtlingseigenschaft festzustellen. Die gesondert vom Gericht angehörte Klägerin zu 2. bestätigte im Wesentlichen die Angaben ihres Mannes und schilderte die Beweggründe zum Verlassen des Landes aus ihrer Perspektive. [...]

Aus Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden kann nach Abwägung aller bekannten Umstände in einer Gesamtschau aller glaubhaft geschilderten Ereignisse festgestellt werden, dass auch die Klägerin zu 2. einem ernstzunehmenden Bedrohungsszenario ausgesetzt war, das als ausreichend gravierend i. S. v. § 3a Abs. 1 AsylG anzusehen ist. Es darf hier nicht verkannt werden, dass die politischen Aktivitäten, die auch zu konkreten Verfolgungshandlungen gegenüber dem Kläger zu 1. führten, gleichermaßen und gemeinsam mit der Klägerin zu 2. ausgeübt wurden. Insbesondere die Absicht, eine Gewerkschaft zu gründen, war den staatlichen Institutionen ein Dorn im Auge und dies galt es offenbar mit allen Mitteln zu unterbinden. Die Bedrohung der Kinder sollte beide Ehepartner davon abhalten, weiter regierungsfeindlich tätig zu sein. [...]

c) Das Gericht geht auch davon aus, dass es für den Kläger zu 1. und die Klägerin zu 2. ausgeschlossen ist, effektiven staatlichen Schutz nach § 3d AsylG in Anspruch zu nehmen. [...]