BlueSky

VG Meiningen

Merkliste
Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 07.10.2021 - 2 K 22199/17 Me - asyl.net: M30232
https://www.asyl.net/rsdb/m30232
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für tibetische Person aus China:

1. Dem Kläger droht in China mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rassistische und politische Verfolgung sowie Verfolgung wegen der Nationalität und der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Tibeter gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, Nr. 3, Nr. 4 AsylG.

2. Es ist nachvollziehbar, wenn eine minderjährige schutzsuchende Person aufgrund ungünstiger Bedingungen bei der Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Verständigungsschwierigkeiten und Unsicherheiten aufgrund belastender Erfahrungen mit (chinesischen) Behörden nur wenige Details zur Verfolgungsgeschichte vorgetragen hat. Die Glaubwürdigkeit ergibt sich auch daraus, dass der Kläger im Anschluss an die Anhörung das Verfolgungsschicksal detailreich und ohne Lücken oder Widersprüche schriftlich dargelegt hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: China, Tibet, Tibeter, ethnische Gruppe, soziale Gruppe, Gruppenverfolgung, politische Verfolgung, Nationalität, Volksrepublik China
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG 3a Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 2, AsylG § 3b Abs. 3, AsylG § 3b Abs. 4
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG liegen vor, denn der Kläger unterliegt in China einer politischen Verfolgung. [...]

aaa. In der Person des Klägers liegen Verfolgungsgründe i.S.v. §§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 1, Nr. 3, Nr. 4a und 4b sowie Nr. 5 AsylG vor, da der Kläger aufgrund seiner Herkunft aus Tibet zur ethnischen Gruppe der Tibeter und somit zu einer Gruppe gehört, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische und politische Herkunft bestimmt wird. Damit gehört der Kläger der sozialen Gruppe der Tibeter an, die zumindest durch einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, verbunden sind und in China eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Schließlich vertritt der Kläger in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine bestimmte Meinung, Grundhaltung und Überzeugung, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

Es steht für die Einzelrichterin fest, dass es sich bei dem Kläger um einen am … 2000 in ..., Stadt ... (im Süden des Autonomen Gebiets Tibet der Volksrepublik China) geborenen und bis zu seiner Flucht dort gelebten Tibeter handelt, nachdem dieser eine Bestätigung des Vereins der Tibeter in Deutschland e.V. vorgelegt hat (Bl. 42 d. GA) und auch im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt einen Dolmetscher für die tibetische Sprache verlangt hat. Dies stellt auch das Bundesamt ausweislich der Bescheidgründe nicht in Abrede. Ferner konnte der Kläger das Gericht davon überzeugen, dass er als Tibeter eine ablehnende Meinung bezüglich des - seine Ethnie diskriminierenden - Vorgehens der chinesischen Regierung vertritt und auf Grund dieser Meinung auch tätig geworden ist.

bbb. Dabei geht das Gericht hinsichtlich der Situation für Tibeter in China von folgender maßgeblicher Lage aus:

Nach der Stellungnahme des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.01.2021 wird der tibetische Buddhismus als potentielle Quelle separatistischer Bewegungen mit größtem Misstrauen beäugt, streng kontrolliert und strukturell behindert. Die Bewegungsfreiheit innerhalb des Autonomen Gebiets Tibet (TAR) bleibt für die tibetische Bevölkerung maßgeblich durch Kontrollmaßnahmen eingeschränkt. Auch Reisen ins Ausland werden durch starke Verzögerungen bei der Passausstellung in Gebieten mit hohem Anteil ethnischer Minderheiten erschwert. Die Behörden in Tibet weiten den Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie, verbesserten Personalausweisen und integrierten Überwachungssystemen aus, um die Bewegungen von Bewohnern und Reisenden in Echtzeit zu erfassen. Die Zentralregierung verfolgt deshalb eine gezielte Strategie der wirtschaftlichen Entwicklung und Integration Tibets in die Volksrepublik, wobei die Erhaltung der Stabilität und der Kampf gegen Separatismus immer im Vordergrund stehen. [...]

Alle Bestrebungen, die den chinesischen Herrschaftsanspruch auf die von den Minderheiten bewohnten Gebiete in Frage stellen könnten, wie beispielsweise oppositionelle Meinungsäußerungen, insbesondere in den Grenzregionen Tibet und Xinjiang, werden massiv verfolgt. Forderungen nach größerer Autonomie werden reflexhaft als Bedrohung aufgefasst und massiv verfolgt [...].

Eine Diskriminierung religiöser und ethnischer Minderheiten wie tibetische Buddhisten ist wegen ihrer religiösen Überzeugungen als auch ihrer Stellung als ethnische Minderheiten sowie ihrer unterschiedlichen Sprachen und Kulturen im ganzen Land weit verbreitet und wird durch das Regime stetig gefestigt. [...]

Tibetische Buddhisten sind aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen schweren Repressionen und Diskriminierungen ausgesetzt. Die Behörden schränken in den tibetischen Gebieten Religionsfreiheit, Rede-, Bewegungs- und Versammlungsfreiheit weiterhin stark ein. Der tibetische Buddhismus ist einem fortlaufenden Sinisierungsprozess ausgesetzt. Alle von der Regierung nicht genehmigten religiösen Gruppen und Aktivitäten sind verboten. Zuwiderhandeln wird mit schweren Strafen belegt. [...]

Seit 2009 haben sich rund 160 überwiegend junge ethnische Tibeter aus Protest gegen die Beschränkung ihrer religiösen und kulturellen Autonomie öffentlich selbst in Brand gesetzt. [...] Auswertung von Regierungsdokumenten, Berichten staatlicher Medien sowie von Satellitenbildern legen den Schluss nahe, dass Tibeter in TAR in großem Ausmaß zwangsarbeitsähnlichen Maßnahmen ausgesetzt sind. Im Rahmen eines Programms zur Beseitigung von Armut für Tibeter ohne Beschäftigung ("surplus laborer") von Januar bis Juli 2020 wurden 543.000 Tibeter, insbesondere Bauern und Nomaden, Maßnahmen der beruflichen Ausbildung unterzogen. [...]

Zur Situation der Rückkehrer schreibt das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, dass einige Gruppen (v.a. Angehörige der Minderheiten der Uiguren und Tibeter) sowie als politische bzw. Menschenrechtsaktivisten eingestufte oder im "Shuanggui"-System (ein nicht gesetzlich geregeltes Verfahren, welches eine zeitlich nicht näher begrenzte Arrestierung erlaubt) verfolgte Personen nach ihrer Rückkehr nach China regelmäßig unfaire Verfahren riskieren. Der Verbleib von Angehörigen dieser generalverdachtsmäßig als staatsgefährdend angesehenen Minderheiten bleibt nach deren Rückkehr oft ungeklärt und es ist mit einem ungewissem, auf unbestimmte Zeit festgelegten Verbleib dieser Personengruppen zurechnen. [...]

Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die soziale Gruppe der (buddhistischen) Tibeter in China eine deutlich abgegrenzte Identität besitzt, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft sowie dem chinesischen Staat als andersartig betrachtet wird i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4b AsylG. Menschen tibetischer Abstammung müssen damit rechnen, nicht nur sozial ausgegrenzt, sondern auch und vor allem gezielten staatlichen Maßnahmen unterworfen zu werden. [...]

ccc. Der Kläger hat daher wegen seiner Rasse, Nationalität, politischen Überzeugung sowie seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe bei Rückkehr nach China Verfolgung in Gestalt physischer und psychischer Gewalt aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände und in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, zu befürchten. Der Kläger ist bereits vor seiner Flucht im Jahr 2016 wegen zumindest wegen seiner politischen Überzeugung sowie seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt worden. Die Verfolgung droht ihm insbesondere durch staatliche Akteure i.S.d. § 3c AsylG, ohne dass der chinesische Staat wirksamen Schutz vor Letzteren bietet, § 3d AsylG und ohne dass dem Kläger interner Schutz zur Verfügung steht, § 3e AsylG.

ddd. Die Rasse, Nationalität, politische Überzeugung sowie seine Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Tibeter setzt den Kläger in seinem Heimatland staatlichen Verfolgungsmaßnahmen und gesellschaftlichen Diskriminierungen aus, die unter Würdigung aller Umstände die für eine asylrelevante Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte erreichen und nach ihrer Art und Wiederholung gravierende Handlungen i.S.d. § 3 AsylG darstellen. Diesbezüglich hat der Kläger im Klageverfahren detailreich zahlreiche Vorkommnisse vorgetragen, bei welchen er und seine Familie schutzlos der Anwendung physischer und psychischer Gewalt durch staatliche Akteure in Gestalt von körperlichen Übergriffen durch chinesische Beamte sowie seelischen Verletzungen infolge des Verbots des Besuchs einer normalen Schule bzw. des Arbeitsverbots für den klägerischen Vater sowie in Gestalt von regelmäßigen Hauskontrollen, gesellschaftlicher Ablehnung und Ausgrenzung sowie Versagung des polizeilichen Schutzes ausgesetzt war. [...]

Der Vortrag des Klägers zu der erlittenen Vorverfolgung war auch plausibel und wies keine Widersprüche auf. Den Umstand, dass er bei der Anhörung vor dem Bundesamt nur wenige Details zu seinem Verfolgungsschicksal vorgetragen hat, hat der Kläger mit den bei der Anhörung vorherrschenden ungünstigen Bedingungen, den Verständigungsschwierigkeiten mit dem Dolmetscher und seiner Einschüchterung auch durch diese Umstände erklärt. Diese Erklärung erscheint dem Gericht angesichts des damals jugendlichen Alters des Klägers sowie seiner Unsicherheit und Verängstigung - auch angesichts der bisher belastenden Erfahrungen mit den (chinesischen) Behörden - auch nachvollziehbar. Nach der Anhörung vor dem Bundesamt hat der Kläger sein Verfolgungsschicksal schriftlich, detailreich und ohne etwaige Widersprüche oder Lücken niedergelegt, sodass das erkennende Gericht von der generellen Glaubwürdigkeit des Klägers überzeugt ist. [...]